28 February 2022

Optionen und Perspektiven eines Bundeswehr-Sondervermögens

Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. In einer historischen Bundestagssitzung am Sonntag, den 27.2.2022, hat die Bundesregierung eine Reihe weitgreifender Maßnahmen vorgestellt, die Deutschland im Angesicht der aktuellen Weltlage zukunftsfähig machen sollen. Zur umfassenden Ertüchtigung der seit Jahren vernachlässigten Bundeswehr sollen Mittel im Umfang von 100 Mrd. Euro über ein kreditfinanziertes Sondervermögen bereitgestellt werden. Wie dies in verfassungskonformer Weise geschehen kann, wird derzeit diskutiert.

Sondervermögen und Schuldenbremse

Die Schuldenbremse des Grundgesetzes (Art. 109 Abs. 3 GG, für den Bund ergänzt durch Art. 115 Abs. 2 GG) enthält klare Vorgaben dazu, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang Bund und Länder neue Schulden aufnehmen dürfen. Anders als die alte, 2009 (mit Wirkung ab 2016 bzw. 2020) abgelöste Kreditaufnahmeregelung ist es dabei von vornherein unerheblich, ob die Kreditmittel zu Investitionen oder für konsumtive Zwecke eingesetzt werden sollen. Die vormalige Investitionsklausel (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 GG a. F.), die sich aus verschiedenen Gründen nicht bewährt hatte und den immensen Anstieg der Staatsverschuldung über die Jahre nicht aufhalten konnte, wurde durch die Föderalismuskommission II bewusst und ausdrücklich aufgegeben. Ob es sinnvoll sein könnte, eine neue, klügere Investitions- oder Nachhaltigkeitsklausel einzuführen, steht auf einem anderen Blatt.

Im Rahmen der geltenden Schuldenbremse kommt allein in Betracht, die Kreditaufnahme für das Bundeswehr-Sondervermögen als notlagenbedingt im Sinne der Ausnahmeregelung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG anzusehen. Es ist freilich nicht so, dass die Schuldenbremse schon wegen der Corona-Pandemie notlagenbedingt „ausgesetzt“ wäre und Kreditaufnahmen im Zuge dessen nach Belieben möglich wären. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der Bundestag für das Haushaltsjahr 2022 nochmals die Anwendbarkeit der Notlagenregelung im Angesicht der Corona-Pandemie beschließt (Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG), dürfen insoweit nur Notlagenkredite zur Bewältigung der Pandemie aufgenommen und verwendet werden. Genau dies ist der Grund für das voraussichtliche Vorgehen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen die nachträgliche und rückwirkende Überführung der pandemiebedingt bewilligten, aber nicht gebrauchten Notlagenkreditermächtigungen des letzten Jahres in Höhe von 60 Mrd. Euro in den Energie- und Klimafonds (EKF).

Soll die Notlagenregelung der Schuldenbremse zur Kreditfinanzierung eines Bundeswehr-Sondervermögens genutzt werden, wäre zu begründen, dass ebendiese Finanzierung notlagenbedingt ist. Sicherlich wird man den überraschenden und besorgniserregenden Krieg gegen die Ukraine als „exogenen Schock“ ansehen können, wie ihn der verfassungsändernde Gesetzgeber 2009 bei der Neugestaltung der Notlagenregelung im Auge hatte. Damals stand die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise als Anschauungsbeispiel im Raum. Doch fragt sich, ob eine Ertüchtigung der Bundeswehr tatsächlich als Maßnahme zur Bewältigung der durch diesen Krieg ausgelösten Notlage betrachtet werden kann. Die Unterfinanzierung der Bundeswehr ist ein strukturelles Problem, das seit Jahren bekannt ist und teilweise auch bewusst hingenommen wurde. Die Wiederherstellung der Verteidigungsbereitschaft wird einige Zeit in Anspruch nehmen und vermutlich erst abgeschlossen sein, lange nachdem der Ukraine-Krieg beendet ist. Ebenso wie das Problem ein strukturelles ist, ist die anstehende Aufgabe mithin eine strukturelle. Die Notlagenklausel der Schuldenbremse ist darauf nicht zugeschnitten. Sie geht von einem kurzfristig eintretenden Ereignis aus, dessen unmittelbare nachteilige Folgen für den Staatshaushalt kurzfristig durch Kreditaufnahme zu bewältigen sind. Dementsprechend sind die ausnahmsweise aufgenommenen Notlagenkredite auch „binnen eines angemessenen Zeitraumes“ (Art. 115 Abs. 2 Satz 8 GG) zurückzuführen, unterfallen also nicht dem sonstigen Schuldenmanagement, das stetige Überwälzungen erlaubt.

Ein verfassungsrechtliches Novum

So erscheint es folgerichtig, dass der Bundesfinanzminister in seiner Rede am 27.2.2022 eine Änderung des Grundgesetzes zur Einrichtung eines Bundeswehr-Sondervermögens vorgeschlagen hat. Dieses Signal deutet auf eine zutreffend zurückhaltende Auslegung des Begriffs der „Naturkatastrophe“ oder „außergewöhnlichen Notsituation“ gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG auch im Bundesfinanzministerium hin. Strukturelle, längerfristig entstandene Herausforderungen sind durch entsprechend nachhaltige Maßnahmen zu bewältigen, die ihrerseits entsprechend nachhaltig durch den laufenden Bundeshaushalt zu finanzieren sind, und eben nicht durch kurzfristig zu tilgende Notlagenkredite.

Eine Verfassungsnorm, die ein Bundeswehr-Sondervermögen vorsähe, wäre ein verfassungsrechtliches Novum. Sie würde verfassungsunmittelbar dazu ermächtigen, ein Sondervermögen des Bundes durch Kreditaufnahme zu finanzieren. In einem Ausführungsgesetz würde der Zweck des Sondervermögens näher umrissen und würden die Anforderungen an seine Verwaltung genauer bestimmt werden. Auch die Modalitäten der Kreditrückführung wären zu regeln. Diese verfassungsunmittelbare Kreditermächtigung stünde normativ gleichrangig neben der grundgesetzlichen Schuldenbremse und würde sich in der Sache als Ausnahme darstellen. Jedenfalls würde die Kreditermächtigung nicht auf die Kreditermächtigungen angerechnet werden, die der Schuldenbremse unterliegen, und würde auch die tatsächliche Kreditaufnahme schuldenbremsenrechtlich irrelevant bleiben.

Man mag darüber streiten, ob eine solche ad hoc-Regelung, die keinesfalls eine allgemeine, fundamentale Norm des Zusammenlebens betrifft, des Verfassungsrangs würdig ist. Doch gilt hier, was auch zuvor schon zu beobachten war (vgl. etwa Art. 104c, 104d, 106a, 106b, 143c, 143d, 143h a. F. GG). Will der Gesetzgeber von den zwingenden, allgemeinen Regeln der Finanzverfassung abweichen, um – aus welchen Gründen auch immer – einem aktuellen Regelungsbedürfnis Rechnung zu tragen, bleibt nur die Verfassungsergänzung. Auch für die Zukunft spricht dies für eine möglichst kluge, angemessen offene Gestaltung der Regeln der Finanzverfassung.

Auch mag man infrage stellen, ob es dem Staat gut zu Gesicht steht, dass die Erfüllung einer der staatlichen Kernaufgaben schlechthin, die Gewährleistung der äußeren Sicherheit, jedenfalls zum Teil nicht über den regulären Haushalt, sondern über ein kreditfinanziertes Sondervermögen sichergestellt wird. Doch ist insoweit auf den schlichten Befund zu verweisen, dass die Unterfinanzierung der Bundeswehr über viele Jahre zu einem nunmehr als nicht mehr tragfähig wahrgenommenen Zustand geführt hat, dem kurz- und mittelfristig nur durch eine zusätzliche Finanzspritze in einem Umfang abzuhelfen ist, der die Leistungsfähigkeit des regulären Haushalts deutlich übersteigt. Zugleich muss aber außer Frage stehen, dass die Bundeswehr längerfristig voll aus den allgemeinen, regelmäßigen Staatseinnahmen, den Steuern, finanziert werden muss. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich ein hochentwickeltes Industrieland mit einer ganz erheblichen Steuerquote und immer neuen Rekordsteuereinnahmen Vieles leisten kann, aber ausgerechnet nicht eine angemessene Landesverteidigung – oder auch einen angemessenen Beitrag zu europäischen Verteidigungskräften.

Grenzen durch internationales Recht

Insoweit steht einer Änderung des Grundgesetzes, die die Einrichtung eines – eventuell auch auf eine bestimmte Zeit angelegten – Bundeswehr-Sondervermögens zum Ziel hat, nichts entgegen. Beachtung verlangt darüber hinaus allerdings das überstaatliche Recht, zum einen das mit Anwendungsvorrang ausgestattete Unionsrecht, zum anderen das Völkerrecht. Sowohl der EU-rechtliche Stabilitäts- und Wachstumspakt als auch der völkerrechtliche „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (Europäischer Fiskalvertrag oder Fiskalpakt) enthalten eigenständige, neben der staatlichen Verfassung zu beachtende Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung. Dabei ist von vornherein eindeutig, dass unselbständige Sondervermögen des Staates grundsätzlich zum Staatssektor gehören und den entsprechenden Schuldenregeln unterfallen.

Sowohl der Stabilitäts- und Wachstumspakt als auch der Fiskalvertrag sehen die Möglichkeit einer ausnahmsweise regelüberschreitenden Staatsverschuldung für den Fall eines außergewöhnlichen Ereignisses vor. Man mag erwägen, die Kriegssituation als ein solches außergewöhnliches Ereignis anzusehen. Doch ist zu konstatieren, dass die europäischen Regeln – schon entstehungsbedingt – den Regeln der grundgesetzlichen Schuldenbremse ähneln und dass es das Bestreben des verfassungsändernden Gesetzgebers war, die deutsche Schuldenbremse so zu gestalten, dass sie mit den europäischen Maßgaben möglichst konform geht. Auch wenn methodisch nicht von der Auslegung der mitgliedstaatlichen Verfassung auf die Auslegung des überstaatlichen Rechts geschlossen werden kann (sondern allenfalls umgekehrt), lassen die obigen Überlegungen zur problematischen Subsumierbarkeit der aktuellen Situation unter der Notlagenklausel der grundgesetzlichen Schuldenbremse in der Sache erhebliche Bedenken aufkommen, was die Einschlägigkeit des Tatbestandsmerkmals des außergewöhnlichen Ereignisses gemäß dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und dem Fiskalvertrag angeht. Sollte dieses Tatbestandsmerkmal nicht einschlägig sein, müsste sich die Kreditermächtigung und -aufnahme für das Bundeswehr-Sondervermögen im Rahmen der sonstigen, allgemeinen überstaatlichen Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung halten.

Es bleibt der Gesamteindruck, dass der Bund im Angesicht der aktuellen Krise eindrucksvolle Handlungsfähigkeit im Kreis der europäischen und internationalen Partner beweist, dass sich die Europäische Union hier tatsächlich als Union des Rechts und der Werte (Art. 2 EUV) präsentiert und daraus Konsequenzen ableitet. Im Zuge dessen werden auf Bundesebene – der Begriff des „Fukushima-Moments“ kommt in Erinnerung – weitreichende, über den Moment der Krise deutlich hinausweisende Strukturreformen angestoßen, unter anderem die – überfällige – Reform der Bundeswehr. Diese Reform nun nicht nur finanziell zu fundieren, sondern auch ins Ziel zu bringen, wird eine große Herausforderung sein. Aus finanzverfassungsrechtlicher Perspektive wird zugleich immer deutlicher, dass über die künftige Gestalt, auch über eine behutsame Justierung der allgemeinen Regeln der Finanzverfassung gesprochen werden muss, deren Bedeutung und Bindungskraft gegenwärtig erheblich darunter leiden, dass sie zunehmend durch hybride Gestaltungen, Bypässe und eine wachsende Zahl expliziter Ausnahmen umgangen werden.


SUGGESTED CITATION  Kube, Hanno: Optionen und Perspektiven eines Bundeswehr-Sondervermögens, VerfBlog, 2022/2/28, https://verfassungsblog.de/optionen-und-perspektiven-eines-bundeswehr-sondervermogens/, DOI: 10.17176/20220301-001120-0.

2 Comments

  1. Kaffeesatzleser Mon 28 Feb 2022 at 19:27 - Reply

    Was dieser Beitrag Kubes zeigt ist, dass die Verrechtlichung der Politik zu weit gegangen ist. Verfassungsrecht wird wie eine Art besonders wichtiges Verwaltungsrecht behandelt. Das ist es aber nicht, und kann es nicht sein, denn damit wird negiert, dass es politische Entscheidungen geben muss, die in einer Demokratie demokratisch (d.h. insbesondere durch Wahlen legitimiert) werden, nicht bürokratisch.
    So schreibt Kube etwa folgendes: “Insoweit steht einer Änderung des Grundgesetzes, die die Einrichtung eines – eventuell auch auf eine bestimmte Zeit angelegten – Bundeswehr-Sondervermögens zum Ziel hat, nichts entgegen. ” Darauf ist zu antworten: die einzige (!) Schranke der Verfassungsänderung ist Artikel 79 Abs. 3 GG – nicht die Dogmatik der Verfassungsrechtler. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist in keinster Weise an die dogmatischen, systematischen oder anderen Vorstellungen von Professoren gebunden – er ist alleine durch Artikel 79 Abw. 3 GG begrenzt.
    Es ist auffällig, dass in Deutschland (im Gegensatz zu im Grunde allen anderen Demokratien) Professoren für öffentliches Recht einen immensen Einfluss auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik gewonnen haben. Dabei besteht immer die Gefahr, dass hierbei recht unbesehen Ordnungsvorstellungen des öffentlichen Rechts auf Wirtschaftspolitik angewandt werden. Paul Kirchhoff und seine nicht wirklich fundierten Einlassungen zur Finanz- und Wirtschaftspolitik (“Garten der Freiheit”) sind hier ein abschreckendes Beispiel.
    Es wäre undenkbar, dass ein Ökonom Richter des BVerfG wird – aber von den 6 Mitgliedern des Vorstandes der Bundesbank sind 4 Juristen (und nur 2 sind Volkswirte). Juristen würden niemals akzeptieren, wenn sich Ökonomen “anmaßen” würden, über Jura so zu reden, wie Verfassungsrechtler über Wirtschaftspolitik reden.
    In seiner Zeit als Finanzminister hat Olaf Scholz in diesem Ministerium erheblich umsortiert – und ökonomischen Sachverstand in die Mitte gestellt. Eine gute Sache.
    In einer Demokratie kann die Regierung nie einfach nur als Verwaltungsbehörde angesehen werden – das aber passiert zu viel in Deutschland, so etwa in der unsäglichen Rechtsprechung des BVerfG zur angeblichen Neutralitätspflichten der Mitglieder der Exekutive.

    • Hanno Kube Wed 2 Mar 2022 at 10:43 - Reply

      Vielen Dank, Kaffeesatzleser, für das Interesse und den Kommentar. Bei so engagierter Stellungnahme bitte ich aber doch um genaue Lektüre:

      1. In meinem Beitrag ging es zunächst um die Frage, ob das Bundeswehr-Sondervermögen (ohne Verfassungsänderung) nach den Maßgaben von Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG installiert werden könnte. Hierzu habe ich mich – mit Blick auf die Reichweite der notlagenbedingten Kreditaufnahme – kritisch geäußert. Dass es per Verfassungsänderung geht – wie offenbar geplant -, ist selbstverständlich. Die Folgen habe ich aufgezeigt (Nichtanrechnung auf die Schuldenbremse des Grundgesetzes, Abstimmungsbedarf mit dem überstaatlichen Recht).

      2. Kritik an der zu kleinteiligen Anwendung des Grundgesetzes ist immer wohlfeil. Dass die Verfassung einerseits rechtsverbindlich ist, andererseits nur eine Rahmenordnung sein darf, um der Politik und damit der Demokratie Raum zu geben, ist beides richtig. Es kommt auch auf den Normbereich an. Die Finanzverfassung ist vergleichsweise konkret und subsumierbar – genau deshalb ist sie von Ausnahmenormen durchzogen. Wenn Sie auf das Ende meines Beitrags schauen, finden Sie dort – genau deshalb – ein Votum für hinreichend offene und flexible Verfassungsnormen.

      3. Verfassungsrechtliche und finanz- bzw. wirtschaftspolitische Expertise sind mehr denn je aufeinander angewiesen. Zusammenarbeit in gegenseitigem Respekt vor dem jeweiligen Wissen und den jeweiligen Methoden sollte selbstverständlich sein.

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