Mit Sicherheit gegen Migration
Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 hat in der Europäischen Union die Europäisierung mit der Idee der Schaffung eines „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) besonderen Aufschwung erfahren. Bereits eine Aussage des damals amtierenden spanischen Außenministers Pique kurz nach den Anschlägen zeigt, wie Immigration und Terrorismus nun unmittelbar verknüpft wurden: „The reinforcement of the fight against illegal immigration is also the reinforcement of the fight against terrorism.“ Die Bedenken über die negativen Auswirkungen von Migration auf beispielsweise den wirtschaftlichen Wohlstand, die nationale Identität, die soziale Ordnung und die staatliche Souveränität gingen 9/11 zwar voraus, doch sie haben die Bedenken in migrationsbezogene Sicherheitsängste verwandelt. Auch in Deutschland lösten die Ereignisse eine Debatte um die innere Sicherheit aus, unter der rot-grün geführten Bundesregierung wurden Forderungen über eine „Verschärfung des Ausländerrechts“ laut. Dieses war zwar schon immer ein Gefahrenabwehrrecht, erst seit 9/11 aber werden Verbindungen zur Terrorismusgefahr gezogen: weg von der konkreten Gefahr zu einer abstrakten Gefährdung.
Durchschlagenden Erfolg hatten Versicherheitlichungsversuche dann im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise, der die Bedrohung schon semantisch inhärent ist: Auf die strukturelle Niederlage des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015 folgten temporäre Schließungen der Binnengrenzen und ein weiter anhaltendes Wettrüsten unter den Mitgliedstaaten um die migrationsgesetzliche Abschottung. Mit Wieder-Abschaffung der internen Grenzkontrollen wird nun der Schutz der gemeinsamen Außengrenzen harmonisiert und verstärkt, um steuern zu können, wer das Territorium der EU betritt. Das von instrumenteller Vernunft gesteuerte Kredo: Ein gemeinsames europäisches Problem wird dann zu einem nationalstaatlichen Problem, wenn die europäische Lösung nicht fruchtet und andersherum.
Vom Asylpaket bis zum „Hau-ab-Gesetz“
In der Bundesrepublik ist mit dem Asylpaket I im Oktober 2015 eine weitreichende Asylrechtsverschärfung eingeführt worden. Es beinhaltete unter anderem Leistungskürzungen für Asylsuchende und Geduldete in § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) und die Einstufung von Kosovo, Albanien und Montenegro als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“, um Asylanträge von Menschen aus dermaßen deklarierten Staaten einfacher ablehnen zu können. 2016 folgten auf Asylpaket I Nummer II und das Integrationsgesetz. Zu den „sicheren Herkunftsländern“ gesellten sich Marokko, Tunesien und Algerien, der Familiennachzug wurde (schließlich bis 2018) ausgesetzt und beispielsweise eine Wohnsitzauflage für bereits anerkannte Flüchtlinge eingeführt. Das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht schließt sich 2017 an, ihm folgt ein Migrationspaket, das sieben Gesetze, unter anderem das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ inklusive einer Duldung „light“ in § 60b Aufenthaltsgesetz (AufenthG) für Personen „mit ungeklärter Identität“, enthält und dessen umfangreichen Änderungen im Asyl-, Aufenthalts- und Sozialrecht zu verschiedenen Zeitpunkten in den Jahren 2019 und 2020 in Kraft getreten sind. In Summe handelt es sich um sicherheits- und außenpolitische Maßnahmen, die Migrationsbewegungen möglichst in ihrer Entstehung verhindern und den Zugang zu Schutz erschweren, gar verunmöglichen sollen. Wie wurde diese immer restriktiver werdende Migrationspolitik legitimiert?
Versicherheitlichung von Migration
Hohe Ankunftszahlen von Migrant*innen an den europäischen Außengrenzen strapazieren das Asylsystem und die Kapazitäten der Aufnahmestaaten. Die Situation im Sommer 2015 habe dann das Vertrauen der Bürger*innen in ein funktionierendes Asylsystem erodieren lassen. Dieses Narrativ schreit nach Lösungen. Und es kollidiert mit menschenrechtlichen Schutzgarantien, wie zum Beispiel dem „Refoulement“-Verbot, verankert in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Es verbietet, Personen in ein Staatsgebiet abzuweisen, auszuweisen oder auszuliefern, in dem ihre elementarsten Menschenrechte in Gefahr sind und statuiert so zwar kein Recht auf Asyl, aber zumindest ein Recht auf ein faires und individuelles Asylverfahren – doch der vermeintliche Schutz des deutschen Staates und seiner Bürger*innen trägt zu ihrer Aushöhlung bei.
Diese implizite oder explizite Konstruktion einer existentiellen Bedrohung erfasst die Politikwissenschaft mit dem Begriff der ‚Versicherheitlichung‘. Mit Blick auf Migration wurde sie innerhalb der EU erstmalig von Didier Bigo und Jef Huysmans untersucht. Ihr zentrales Ergebnis: Migration und Asyl werden mit Themen der inneren Sicherheit wie Terrorismus verknüpft und bilden ein Kontinuum „Sicherheit“.1) „Sicherheit“ stellt dabei der Kopenhagener Schule folgend keine objektive Gegebenheit dar, sondern wird sozial konstruiert − sie ist ein deklarativer Sprechakt, Ergebnis eines Diskurses, innerhalb dessen soziale Phänomene zu existentiellen Gefahren beziehungsweise Bedrohungen erklärt und damit konstruiert werden.2) Das Framing von Migration als Bedrohung ist somit keinesfalls eine natürliche Reaktion auf gegebene Umstände, sondern das Ergebnis politischer Diskurse und Entscheidungen. Ist das Publikum von der Bedrohung überzeugt, können außergewöhnliche Maßnahmen wie weitreichende Asylrechtsverschärfungen getroffen werden, durch die die vermeintliche Sicherheitsbedrohung mithilfe des Staates, dessen Rolle dadurch unverzichtbar wird, abgewendet werden soll.3)
Ein genauerer Blick auf die Verflechtungen von Versicherheitlichung und Migration zeigt: Migrant*innen werden als Bedrohung für das Überleben des Staates und die Gesellschaft, den Wohlfahrtsstaat, kulturelle Besonderheiten und/oder die Identität der Aufnahmeländer konstruiert – mit ihnen, so ein gängiges Narrativ, kommen Terrorismus und Kriminalität.4) Oder anders: Wenn Bombenanschläge im Namen einer extremistischen, antiwestlichen Ideologie verübt werden, ist Terrorismus auch eine „Bedrohung der nationalen Identität“.5) Neben sogenannten Push-Faktoren wie Verfolgung, Bürgerkriege und dem Klimawandel, wird der Fokus auf Pull-Faktoren von Migration gelenkt und es werden Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen vorgenommen: Das Grenzmanagement sei mangelhaft, Rückkehrraten zu niedrig, das Dublin-System funktioniere nicht und unterschiedliche Anerkennungsraten und Verfahrenslängen würden schließlich zu „Asylmissbrauch“ führen. Als Antwort darauf bekommen Sicherheitsakteur*innen wie das Militär und die Rüstungsindustrie eine gewichtige Rolle zugeschrieben.6) Sie statten etwa die Grenzschutzagentur Frontex personell und materiell aus oder übernehmen den Grenzschutz direkt selbst (wie beispielsweise die lybische Küstenwache als Teil der landeseigenen Marine). Zu den Asylrechtsverschärfungen gesellen sich weitere Gesetze, wie das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das den rechtlichen Rahmen für die Einführung eines neuen Kerndatensystems auf Basis des Ausländerzentralregisters, das den Behörden Zugriff auf die Stammdaten einreisender Geflüchteter ermöglicht, geschaffen hat und dem Kontinuum Sicherheit-Migration zuzurechnen ist.
Besonders auffällig ist, dass zumeist nur die sogenannte „irreguläre“ Migration versicherheitlicht wird. Innerhalb der Unterscheidung in „irreguläre“ Migrant*innen und solchen, die „wirklich“ schutzbedürftig seien, werden Erstere sogar als Bedrohung für Zweitere geframed, denn sie würden die vorhandenen Aufnahmekapazitäten illegitimerweise blockieren. Das verschleiert aber das Problem, dass eine solche Unterscheidung von Migrant*innen nur in einem individuellen und fairen Asylverfahren getroffen werden kann. Praktisch betreffen die innen- und außenpolitischen Sicherheitsmaßnahmen somit alle fliehenden Menschen, vor allem solange es kaum legale Zugangswege nach Europa gibt.
Der vermehrte Fokus auf die Ursachenbekämpfung in den Herkunftsländern blendet darüber hinaus vollkommen aus, dass Faktoren wie die Kolonialgeschichte, Waffenexporte oder asymmetrische Handelsbeziehungen ebenso ursächlich für Fluchtbewegungen sind.7)
Sicherheitsfragmente einer Bundestagssitzung
Der Blick auf Ausschnitte einer Bundestagssitzung exemplifiziert die Versicherheitlichungsrhetorik in migrationsrechtlichen Debatten. 1. Oktober 2015, die Parlamentarier*innen reagieren auf den Anstieg der Geflüchtetenzahlen. Unter Tagesordnungspunkt 3 a und b beraten sie erstmals den Entwurf des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes und des Entlastungsbeschleunigungsgesetztes zur Entlastung der Länder und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerber*innen aus dem oben genannten Asylpaket I. Stephan Mayer aus der CDU/CSU-Fraktion bringt an:
„[…] allein im September sind mehrere zehntausend Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland gekommen. Sie wurden nicht registriert. Sie wurden nicht kontrolliert. Ich möchte in aller Deutlichkeit feststellen: Damit besteht auch ein großes Sicherheitsrisiko. Es ist deshalb das Gebot der Stunde, dass wir zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren. Jeder Flüchtling und jeder Asylbewerber muss schnellstmöglich, wenn er deutschen Boden betritt, registriert und überprüft werden. Das ist im deutschen Interesse.“ [Herv. d. Verf.]
Unter Beifall der eigenen Fraktion und einzelner Abgeordneter der SPD fährt er fort:
„Für mich ist eines entscheidend: Deutschland und Europa haben nicht nur Verpflichtungen gegenüber schutzbedürftigen Menschen – dies haben wir sehr wohl auch –, wir haben insbesondere auch eine Verpflichtung gegenüber unserer heimischen Bevölkerung, ein funktionierendes Gemeinwesen und sichere und soziale Lebensbedingungen zu gewährleisten. Es sind vor allem die Menschen in unserem Land, denen wir verpflichtet sind. […] Wir geben mit diesem Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens ein wichtiges Signal an all die Menschen, die nicht schutzbedürftig sind, sich nicht nach Deutschland aufzumachen. […] Wer mit Ignoranz darauf reagiert, dass sich Ängste in der Bevölkerung manifestieren, und wer die Probleme in der Bevölkerung negiert, gefährdet letzten Endes den inneren Frieden und auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ [Herv. d. Verf.]
Ein Redebeitrag unter Tagesordnungspunkt 6 steht dann aus konstruktivistischer Perspektive beispielhaft für die Verknüpfung von Migration und Terrorismus. Das Parlament berät den Antrag der Bundesregierung an der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-Operation EUNAVFOR MED zur Unterbindung des Geschäftsmodells der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im südlichen und zentralen Mittelmeer. Laut Roderich Kiesewetter, ebenfalls aus der CDU/CSU-Fraktion, geht es in dieser Debatte „darum, wie wir als Europäische Union mit der Flüchtlingslage an den europäischen Grenzen umgehen.“ Die Zahlen eingesetzter Kriegsschiffe und Luftfahrzeuge werden referiert, sie seien „ein Zeichen europäischer Solidarität, aber […] auch […] ein Teil der notwendigen Strategie“. Diese Strategie, so erfährt man im Laufe des Beitrags Kiesewetters, ziele auch auf:
„die Unterbindung von Terrornetzwerken, denen in Libyen Tür und Tor geöffnet wurde. Es geht auch darum, dass wir die Ausbreitung von Waffen und von Proliferation, aber auch von ausgebildeten Terroristen eindämmen. Das bedeutet eben, dass wir neben entwicklungspolitischer Zusammenarbeit und außenpolitischen Strategien auch eine gewisse polizeiliche und militärische Begleitung brauchen.“ [Herv. d. Verf.]
Diese Sichtweisen gehen logischerweise davon aus, dass der Zusammenhang zwischen Einwanderung und Terrorismus offensichtlich ist: Migrant*innen sind Ausländer*innen und stellen eine Bedrohung dar; Terrorist*innen sind Ausländer*innen und stellen ebenfalls eine Bedrohung dar; folglich kann jede*r Migrant*in ein*e Terrorist*in sein, und folglich besteht der beste Weg, Terrorismus zu verhindern, darin, im Umgang mit Migration hart zu sein – ein „Worst-Case-Szenario“-Ansatz, der die Grundlage der europäischen und damit auch deutschen Migrationspolitik bildet.8)
Versicherheitlichung in rechter Verschwörungserzählung
Jenseits der staatspolitisch getriebenen Versicherheitlichungsrhetorik existiert im rechten politischen Spektrum der Mythos einer kulturell einheitlichen Nation beziehungsweise einer nationalen Identität, die vor Migration geschützt und dem Verschwinden bewahrt werden muss.9) Diskursiv wird die Entscheidung für oder gegen Einwanderung mit der Entscheidung für oder gegen die Gemeinschaft gleichgesetzt. Mit der Zuwanderung (vor allem aus dem Nahen Osten) drohe eine Islamisierung. Es wird eine inkompatible, bedrohliche „Kultur“ heraufbeschworen und im Anschluss eine – wahlweise „deutsche“ oder „europäische“ – kollektive Identitätskrise imaginiert.10) Diese mündet häufig in der Zeichnung von Verbindungslinien zwischen den Migrationsbewegungen und vermeintlichen oder tatsächlichen islamistischen Anschlägen oder entsprechenden Plänen.
Die extremste Variante der Versicherheitlichung von Migration lässt sich in der neurechten Verschwörungserzählung vom „großen Austausch“ der Bevölkerung ausmachen. Es existiere ein Geheimplan, nach dem die weiße Mehrheitsbevölkerung gegen muslimische oder nicht-weiße Migrant*innen ausgetauscht werden soll. Im deutschen Sprachraum wurde diese Ideologie zuvorderst von Protagonisten der Identitären Bewegung wie dem Österreicher Martin Sellner bemüht. Über neurechte Publikationen, Blogs und Foren ist der Mythos vom „Austausch“ popularisiert worden; Vertreter*innen dieser Ideologie sitzen in deutschen Parlamenten. Was ihresgleichen im Namen der Sicherheit zu tun gedenken, wird mit dem Begriff der „wohltemperierten Grausamkeit“ euphemisiert.
In der Gesamtschau kann festgehalten werden, dass Migration das Ergebnis vielfältiger Push- und Pull-Faktoren ist und ohne die seit 9/11 geradezu ritualisierte Verknüpfung mit Sicherheitsbedenken diskutiert werden sollte – denn alle Migrant*innen sind von der Versicherheitlichung von Migration betroffen, während die überwältigende Mehrheit der Migrant*innen keine Terrorist*innen sind.
References
↑1 | Vgl. Bigo, Security and Immigration: Toward a Critique of the Governmentality of Unease. Alternatives 2002, 27, 63−92 (74 ff.); Huysmans, The politics of insecurity: Fear, migration and asylum in the EU, London 2006, 71. |
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