Öffentliche Überwachung vor den europäischen Gerichten
Schrittweise Legitimierung oder Wandel hin zu einem pragmatischeren Ansatz?
Nach dem 11. September 2001 und den darauffolgenden Terroranschlägen auf europäischem Boden kam es zu einer erheblichen Ausweitung der staatlichen Überwachung und der Terrorismusbekämpfung in Europa und weltweit. Während diese Regime den zunehmenden Appetit der Gesetzgeber und der Exekutive auf eine Normalisierung von Überwachung demonstrierten, zeichnete sich gleichzeitig eine bedeutende Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung ab, die von den beiden wichtigsten europäischen Gerichten – dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – ausging: eine starke Gegenbewegung gegen die Normalisierung staatlicher Überwachung. Diese Gegenwehr der Justiz hat zu mehreren gefeierten Siegen für die Grundrechte im Zusammenhang mit Überwachung geführt. In der Tat wurde die Rechtsprechung des EuGH als Beginn eines progressiven Trends angesehen, der wiederholte Siege der EU-Grundrechte nicht nur gegenüber dem EU-Gesetzgeber, sondern auch gegenüber den politischen Entscheidungsträgern der Mitgliedstaaten und sogar gegenüber Überwachungsregimen von Drittländern wie den USA markiert.
Die jüngsten Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache La Quadrature du Net und des EGMR in der Rechtssache Big Brother Watch and Others v. the UK zeigen jedoch ein anderes Bild: Beide Gerichte bewegen sich nun in Richtung einer Legitimierung von Überwachung im öffentlichen Raum. Bedeutet dies, dass der progressive Trend, der nach dem 11. September 2001 einsetzte, an seine Grenzen gestoßen ist? Noch wichtiger, normalisieren die europäischen Gerichte jetzt Überwachung?
In diesem Beitrag werden die Auswirkungen dieser neuen Entwicklung in der Rechtsprechung untersucht, indem die oben genannten Fragen erörtert werden. Ich vertrete die Auffassung, dass ein solcher Trend – wenn er richtig umschrieben wird – einen weniger naiven Ansatz zu Überwachung bedeuten könnte.
Die “Saga” des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung
Der EuGH hat eine Reihe bahnbrechender Entscheidungen zu staatlichen Überwachungsmaßnahmen getroffen. Diese weitreichende Rechtsprechung begann 2014 mit dem Urteil Digital Rights Ireland, in dem der EuGH die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärte und entschied, dass die anlasslose Vorratsspeicherung von Metadaten mit EU-Recht unvereinbar ist. Weiter ging es 2015 mit Schrems I, in dem der Gerichtshof feststellte, dass der Zugriff von US-Behörden auf personenbezogene Daten, die im Rahmen der Safe-Harbour-Regelung aus EU-Mitgliedstaaten übermittelt wurden, über das hinausging, was zum Schutz der nationalen Sicherheit unbedingt erforderlich und verhältnismäßig war. Ein weiterer Höhepunkt war 2017 das Urteil in der Rechtssache Tele2 and Watson, in der der Gerichtshof entschied, dass die Grundsätze von Digital Rights Ireland auf nationale Gesetze zur Umsetzung der für ungültig erklärten Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung anwendbar sind. Sie wurde 2018 mit dem Urteil Ministerio Fiscal fortgesetzt, in dem der EuGH klarstellte, dass verschiedene Arten von Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung unterschiedliche Eingriffe in Grundrechte nach sich ziehen. In Schrems II, das 2020 verkündet wurde, erklärte der Gerichtshof den Angemessenheitsbeschluss zum Privacy Shield für nichtig und stellte fest, dass den nationalen Sicherheitsanforderungen der USA kein Vorrang vor EU-Datenschutzgrundsätzen eingeräumt werden kann. In der Rechtssache Privacy International bekräftigte der EuGH schließlich, dass eine undifferenzierte Massenspeicherung verboten ist, selbst wenn sie zu Zwecken der nationalen Sicherheit erfolgt.
Diese lange Reihe von Fällen zeigt, was ich für einen Trend der gerichtlichen Ablehnung der Normalisierung von Überwachung halte. Die Urteile des EuGH sind bei weitem nicht perfekt (ich habe verschiedene Aspekte davon hier und hier kritisiert), aber sie legen klare Grenzen dafür fest, was als verbotene öffentliche Überwachung gilt.
La Quadrature du Net und Big Brother Watch: Eine juristische Kehrtwende?
Das Urteil in La Quadrature du Net wurde am selben Tag wie das in Privacy International gefällt. Doch während letzteres die umfassende Datenschutzrechtsprechung des EuGH fortsetzt, markiert La Quadrature du Net eine wichtige Abkehr von der prohibitiven Herangehensweise des Gerichtshofs an die Massenspeicherung von Daten hin zu einem nuancierteren Ansatz, der einer Vielzahl verschiedener zulässiger Überwachungsmaßnahmen Tür und Tor öffnet, sofern diese unter Einhaltung bestimmter Kriterien und anwendbarer Garantien durchgeführt werden. Der wichtigste Beitrag von La Quadrature du Net war die Festlegung einer langen Liste erlaubter Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung, die ein umfassendes aber komplexes Bild zulässiger Strafverfolgungsinstrumente zeichnet und den Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten mehrere wichtige Zugeständnisse macht – einschließlich der Erlaubnis einer allgemeinen, undifferenzierten präventiven Vorratsdatenspeicherung, wenn eine “ernsthafte” Bedrohung der nationalen Sicherheit vorliegt, “die nachweislich real und gegenwärtig oder vorhersehbar ist”.
Ein ähnlicher Trend ist in der Rechtsprechung des EGMR zu erkennen. In den Fällen Big Brother Watch und Centrum för Rättvisa v. Sweden, der im Mai 2021 verhandelt wurde, ging die Große Kammer des EGMR beispielsweise davon aus, dass Massenabhörsysteme “eine wertvolle technologische Möglichkeit zur Ermittlung neuer Bedrohungen im digitalen Raum” darstellen. Der EGMR entschied sich außerdem für einen nuancierteren Ansatz zur Massenüberwachung, der mehrere Verfahrensgarantien in Bezug auf Genehmigung, Aufbewahrung, Zugang und Kontrolle vorsieht. Insbesondere legte die Große Kammer mehrere so genannte “End-to-End-Garantien” fest, die angemessene und wirksame Gewähr gegen Willkür und Missbrauch bieten. Kürzlich hat der EGMR in der Rechtssache Ekimdzhiev and others v. Bulgaria diese Linie fortgesetzt und betont, dass solche Verfahren nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch in der Praxis funktionieren sollten.
Juristische Normalisierung von Überwachung oder ein pragmatischerer Ansatz?
Diese Garantien, Voraussetzungen und Schutzmaßnahmen zeugen von einem prozeduraleren Ansatz zu Überwachung. Sie signalisieren auch ein Abrücken von roten Linien (insbesondere in Bezug auf das Verbot der Massenüberwachung) hin zu einer schrittweisen Akzeptanz. Dieser neue Ansatz könnte eine gute Nachricht für nationale Regierungen sein, da er relativ “schnelle Lösungen” für die mit der Massenspeicherung von Daten verbundenen Probleme bietet.
In den Worten von Richter Pinto De Albuquerque verändert er jedoch auch “das in Europa bestehende Gleichgewicht zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und den Interessen der öffentlichen Sicherheit grundlegend“, indem er die Vorratsdatenspeicherung unter der Voraussetzung, dass wirksame Garantien gelten, schrittweise wieder legitimiert. In dieser Hinsicht fällt es schwer, seinem Argument zuzustimmen, dass “der Straßburger Gerichtshof hinter dem Luxemburger Gerichtshof zurückbleibt, der nach wie vor der Garant für die Rechte auf Privatsphäre in Europa ist“. Vielmehr scheint es, dass die beiden Gerichte in ihrer jüngsten Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung eher konvergieren als sich unterscheiden.
Darüber hinaus ist die Liste der zulässigen Überwachungsmaßnahmen, die der EuGH in seinem Urteil La Quadrature du Net aufgestellt hat, so normativ, dass der Gerichtshof eine quasi-legislative Rolle einzunehmen scheint. In der Tat scheint er seine Bewertung der Vorratsdatenspeicherung sowohl vertikal (in den Bereich der Mitgliedstaaten) als auch horizontal (in den Bereich des EU-Gesetzgebers) auszuweiten. Auf den ersten Blick könnte man den EuGH dafür kritisieren, dass er seine Grenzen überschreitet. Eine genauere Analyse offenbart jedoch die Komplexität der Fragen, die der Überwachung von Metadaten zugrunde liegen: Wenn die Vorratsdatenspeicherung nicht auf EU-Ebene harmonisiert werden kann, wie sollen dann EU-Grundrechte auf nationaler Ebene gewährleistet werden, wo die Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung zersplittert sind und von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variieren? Wäre ein Laissez-faire-Ansatz nicht gleichermaßen problematisch für Grundrechte und die allgemeine Rechtssicherheit?
Es scheint daher, dass ein pragmatischerer juristischer Ansatz zu Überwachung erforderlich sein könnte. Dies könnte von einigen so interpretiert werden, dass der Weg hin zu einer Normalisierung von Überwachung geebnet wird. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir hier vorsichtig sein sollten, insbesondere unter den aktuellen politischen Umständen, denen nach Europa nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine an einem Wendepunkt in seiner Geschichte steht. Es wäre naiv, die europäischen Gerichte dafür zu kritisieren, dass sie in Bezug auf Überwachung einen eher verfahrensorientierten Ansatz verfolgen, der auf Voraussetzungen und Sicherheitsvorkehrungen und nicht auf prohibitiven roten Linien beruht. Ein solcher Ansatz birgt auch ein geringeres Risiko für Gerichte, dass ihre Urteile von der Exekutive umgangen – oder gänzlich ignoriert – werden.
Schlussfolgerung
Es ist ein neuer Trend in der Rechtsprechung zu beobachten, der den Beginn eines nuancierteren Ansatzes zu Überwachung markiert, und der die Tür für Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung öffnet, wenn diese für Zwecke der Terrorismusbekämpfung erforderlich sind.
Diese Neubewertung der Modelle für Vorratsdatenspeicherung scheint auf dem zu beruhen, was in diesem Beitrag als “Prozeduralisierung von Überwachung” bezeichnet wurde. Anstelle von roten Linien und Verbotsregeln werden Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung nun schrittweise auf der Grundlage einer Reihe von Verfahren, Kriterien und Garantien zugelassen, nach denen sie durchgeführt werden sollten. Dies ist eine erhebliche Abweichung von der früheren Rechtsprechung und signalisiert eine schrittweise Annäherung des EuGH an den EGMR.
Insgesamt haben Gerichte keine leichte Aufgabe, wenn sie versuchen, einen Kompromiss zwischen den Anforderungen der Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste und Grundrechten zu finden. Es kommt häufig vor, dass ihre Urteile sowohl nationale Regierungen als auch Verfechter des Schutzes der Privatsphäre gleichermaßen verärgern. Die Zukunft wird zeigen, ob die fortschreitende Re-Legitimierung öffentlicher Überwachung unter Bedingung bestimmter Voraussetzungen, Schutzmaßnahmen und Kontrollmechanismen die Tür für einen elektronischen “Big Brother” in Europa öffnen oder den Weg zu einem weniger absoluten, pragmatischeren (und vielleicht weniger naiven) Ansatz zu Überwachung weisen wird. Sicher ist, dass die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung noch nicht zu Ende ist.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Beitrags „Public Surveillance before the European Courts“ durch Felix Kröner.