Power to the People
Zur wirtschaftlichen Selbstbestimmung Palästinas nach dem Gutachten des IGH vom 19. Juli 2024
Das am 19. Juli 2024 veröffentlichte Gutachten des IGH zu der israelischen Besatzung Palästinas ist zurecht als Zeitenwende und bahnbrechend beschrieben sowie von einer Vielzahl von UN-Experten begrüßt worden.
In der Sache stellt das Gericht fest, dass mittlerweile nicht nur die illegalen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten (Occupied Palestinian Territories, OPT) selbst völkerrechtswidrig sind. Sondern auch, dass die andauernde Ermöglichung, Duldung und Förderung weiterer illegaler Siedlungen verbunden mit einer systematischen Siedlungspolitik des Staates Israel zu einer jedenfalls de facto Annexion der gesamten besetzten Gebiete, d.h. einer gewaltsamen Aneignung dieses Gebiets durch die Besatzungsmacht (im Detail hier), geführt haben (Rn. 173).
Eine der wegweisendsten Ausführungen des Gutachtens findet sich sodann in der daraus resultierenden Schlussfolgerung: Der anhaltende Missbrauch der Stellung Israels als Besatzungsmacht durch die Annexion und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes machen die Anwesenheit Israels in den OPT, und damit die Besatzung an sich, rechtswidrig (Rn. 261; anders nur ein Sondervotum; zu offenen Detailfragen siehe hier).
Doch auch neben diesen Ausführungen zur Annexion und zur Rechtswidrigkeit der Besatzung beinhaltet das Gutachten wichtige Antworten zur Anwendbarkeit des Besatzungsrechts in allen Teilen der OPT einschließlich Gaza, jedenfalls implizit zur Staatlichkeit Palästinas sowie zum immer wieder diskutierten Vorliegen eines Systems der Apartheid in den OPT (das Gericht bejaht eine Verletzung von Artikel 3 des Internationalen Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, der das Verbot der Segregation und der Apartheid enthält. Zur Einordnung siehe Sondervoten Salam, Nolte und Tladi).
Schließlich folgen entscheidende Ausführungen zu den Auswirkungen des israelischen Staatshandelns auf das (wirtschaftliche) Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen.
Aufnahme in den Kreis des zwingenden Völkerrechts
Schon lange wird darüber diskutiert, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Kreis des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) zu zählen ist, welches höchstrangig über sonstigem Völkerrecht steht.
Jedenfalls für das Selbstbestimmungsrecht von Völkern, die kolonialer Gewalt ausgesetzt sind, bestand mittlerweile ein solcher Konsens innerhalb der UN (z.B. hier) und insbesondere in der Völkerrechtskommission (hier). Diese Form von (post-)kolonialer Selbstbestimmung wurde bisher jedoch abgegrenzt von sich im Fortgang der Unabhängigkeit ergebenden Konflikten zwischen kolonialisierten Gruppen. In seinem Urteil zu Osttimor aus dem Jahr 1995 hatte sich der IGH aus verschiedenen Gründen darauf beschränkt, das Selbstbestimmungsrecht (im Kontext von Portugals Klagebefugnis) als erga-omnes-Verpflichtung zu kategorisieren. Verletzungen solcher Pflichten können von allen Staaten in einem Gerichtsverfahren geltend gemacht werden, weil die gesamte Staatengemeinschaft ein rechtliches Interesse an ihrem Schutz hat (zur umstrittenen Abgrenzung zwischen ius cogens und erga-omnes-Pflichten, s.u.). Im Chagos-Gutachten aus 2019 war der IGH mit einer Konstellation beschäftigt, bei der das koloniale Selbstbestimmungsrecht im engeren Sinne betroffen war, weil das Chagos-Archipel bis heute von Großbritannien als sog. Britisches Überseegebiet verwaltet wird.
Im Palästina-Gutachten erkennt das Gericht nun zum ersten Mal den zwingenden Charakter des Selbstbestimmungsrechts in Fällen wie der israelischen Besatzung des palästinensischen Volkes an (Rn. 233). Das ist eine bemerkenswerte Erweiterung des Verständnisses kolonialer Selbstbestimmung und des Dekolonialisierungsauftrags der UN-Generalversammlung.
Das Gericht reiht die israelische Annexion der palästinensischen Gebiete ein in den Dekolonialisierungsprozess des ehemaligen Mandatsgebiets, in den es insbesondere den Partition Plan und das Ende des britischen Mandats in Palästina von 1948 mit aufnimmt (Rn. 35). Den zwingenden Charakter des Selbstbestimmungsrechts in Fällen wie der Besatzung Palästinas folgert das Gericht darüber hinaus aus einer Reihe an Quellen (z.B. hier und hier (Rn. 144)), die die herausragende Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts in der Vergangenheit bereits bestätigten, wenngleich nie explizit als ius cogens.
Diese Aufwertung hat jedoch weitreichende Auswirkungen. Aus vertragsrechtlicher Perspektive bedeutet es insbesondere, dass Verträge, die das palästinensische Selbstbestimmungsrecht verletzen, nichtig sind, wie Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention und das darin kodifizierte Völkergewohnheitsrecht bestimmen. Das betrifft insbesondere solche Verträge, in denen Israel sich Drittstaaten gegenüber unrechtmäßig Vertragskompetenz über das Gebiet oder die Ressourcen der Palästinenser:innen anmaßt. Das Gericht betont wiederholt, dass dies nicht nur aus dem Besatzungsrecht oder dem Status des Gebiets als annektiert resultiert (z.B. Rn. 108), sondern gerade aus dem palästinensischen Selbstbestimmungsrecht (Rn. 133, 169, 240).
Das Gutachten könnte auch Auswirkungen auf andere, ähnlich gelagerte (post-)koloniale Konflikte der andauernden Besatzung haben. Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Marokko, das 2019 ausdrücklich auch auf das Territorium der von Marokko besetzten Westsahara erweitert wurde, kommt hier in den Sinn (Analysen hier und hier). Die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebende Souveränität der Sahrawi über die Westsahara und ihre Ressourcen ist international anerkannt (dazu hier). Der EuG hatte 2021 Ratsentscheidungen zu den Vertragsänderungen insbesondere wegen der fehlenden Zustimmung der Sahrawi für nichtig erklärt (Analyse dazu hier). Das 2024 erwartete Berufungsurteil des EuGH wird durch das IGH-Gutachten gewiss noch größere Aufmerksamkeit erhalten. Es erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der EuGH seine Entscheidung auch auf dem zwingenden Charakter des Selbstbestimmungsrechts aufbauen wird.
Zur Souveränität über die natürlichen Ressourcen eines Volkes im Rahmen seiner Besatzung
Das Gericht hatte zudem die Gelegenheit, zur aus der wirtschaftlichen Selbstbestimmung fließenden und auch durch das Besatzungsrecht geschützten Souveränität über die natürlichen Ressourcen Stellung zu beziehen.
Die Anwendbarkeit der Souveränität über natürliche Ressourcen in bewaffneten Konflikten war bei der letzten Gelegenheit, im Verfahren zwischen dem Kongo und Uganda im Jahr 2004, noch abgelehnt worden. Im Falle Ugandas konnten keine ausreichenden Beweise für eine systematische staatliche Politik gefunden werden, die über Plünderungen und Brandschatzungen hinausgingen (Armed Activities, Rn. 244). Wird hingegen von der Besatzungsmacht eine Politik der Ausbeutung natürlicher Ressourcen im besetzten Gebiet im Widerspruch zum Besatzungsrecht verfolgt, kommt eine Verletzung der Souveränität über die natürlichen Ressourcen auch während einer andauernden Besatzung in Betracht (Rn. 125).
Das Gericht nimmt sodann konkret Bezug auf das israelische Vorgehen bei der Ausbeutung palästinensischer Ressourcen, insbesondere Wasser, mineralische und andere natürliche Ressourcen (Rn. 126-133). Schließlich erinnert der IGH daran, dass die israelische Wasser- und Bodenpolitik dazu geführt hat, dass der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt Palästinas von 35 % im Jahr 1972 auf 12 % im Jahr 1995 und auf weniger als 4 % im Jahr 2020 gesunken ist (Rn. 130). Der Gerichtshof folgert daraus, dass die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Palästinenser:innen dem alleinigen Nutzen Israels und der Siedler:innen dient (Rn. 240).
Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen oder same as usual?
Der IGH zieht aus den verschiedenen Völkerrechtsverletzungen, die auch als „verstörendes Gesamtbild israelischer Völkerrechtsferne“ bezeichnet werden können, eine Reihe von Konsequenzen für Israel, die UN und die Staatengemeinschaft. Denn neben dem verletzten Selbstbestimmungsrecht stehen ausdrücklich weitere Verstöße im Raum, die wiederum erga-omnes-Pflichten gegenüber der Gesamtheit der Staaten begründen. Der Gerichtshof führt als solche neben dem Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich einzelne Pflichten aus dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten sowie das Verbot der gewaltsamen Erlangung von Gebieten durch Gewalt auf (Rn. 274).
Aus dem Charakter des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes unter andauernder Besatzung als ius-cogens-Norm folgen jedoch besondere Pflichten der Staaten in Bezug auf Verstöße durch Israel (zu dieser Zuordnung hier). Nur für Verstöße gegen solches zwingendes Völkerrecht gilt zum Beispiel die Verpflichtung, keine aus einer Verletzung dieses Rechts resultierende rechtswidrige Situation anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung dieser Situation zu leisten, was insbesondere Richter Tladi in seinem Sondervotum ausführlich unter Bezugnahme auf Artikel 41 der ASR darlegt und was ebenso Teil eines Sondervotums von Higgins zum Mauergutachten ist (so auch im Sondervotum Gómez Robledo; anders Sondervotum Cleveland). Abgesehen vom Selbstbestimmungsrecht folgert das Gericht vor allem aus dem Verbot der gewaltsamen Aneignung von Territorium, welches es aus dem Gewaltverbot herleitet (Rn. 179; auch Sondervotum Cleveland; mit anderer Auslegung hier), konkrete Nichtanerkennungspflichten für Drittstaaten. Ein ius-cogens-Charakter dürfte nach bisheriger Rechtsprechung auch dem Gewaltverbot zukommen (insbesondere zum Aggressionsverbot im Nicaragua-Urteil, Rn. 190 ff). Die ius-cogens-Zuordnung wird vom Gericht jedoch nicht ausdrücklich benannt, obwohl es eine Voraussetzung für die sodann angenommene Pflicht zur Nichtanerkennung ist. Auch werden Verstöße gegen das palästinensische Selbstbestimmungsrecht in der Herleitung der Konsequenzen vermischt mit der Verletzung des Verbots der gewaltsamen Aneignung von Territorium (Rn. 278).
Das ist insofern begrüßenswert, als dass es darauf hindeutet, dass der IGH aus dem Selbstbestimmungsrecht eine territoriale Souveränität schlussfolgert, die durch die israelische Annexion verletzt wird – auch ohne einen in konkreten Grenzen bestehenden palästinensischen Staat. Das jedenfalls daraus folgende Unterscheidungsgebot schlägt sich für den IGH zum Beispiel in einer Pflicht nieder, sich in allen Fällen, in denen Israel vorgibt, im Namen der OPT oder eines Teils hiervon zu handeln, der vertraglichen Beziehungen zu enthalten (Rn. 278).
Neu ist auch, dass der IGH feststellt, dass Drittstaaten u.a. verpflichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Handels- oder Investitionsbeziehungen zu verhindern, die zur Aufrechterhaltung der von Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen rechtswidrigen Situation beitragen (Rn. 278). Im Gegensatz zu den anderen drei, sich bereits aus der bisherigen Rechtsprechung ergebenden Unterkategorien, die sich aus der Pflicht zur Nichtanerkennung ableiten und die sich alle auf ein Unterlassen beziehen – Enthaltung, Nicht-Anerkennung, Nicht-Unterstützung – wird also ein Tätigwerden geschuldet.
Where to start
Gleichwohl sich daraus (noch) keine individuelle Staatenpflicht zum Erlass von konkreten Sanktionen herleiten lässt, wird klar, dass der IGH der Staatengemeinschaft grünes Licht gibt, Maßnahmen wie etwa Sanktionen und den Abbruch von Handelsbeziehungen zu ergreifen. Für die EU, dem wichtigsten Wirtschaftspartner Israels, wurden bereits konkrete Vorschläge gemacht. Sanktionen gegenüber Unternehmen oder gewalttätigen Siedler:innen könnten aufgrund der etwas geringeren politischen Brisanz erfolgversprechender sein als an die israelische Regierung gerichtete Sanktionen. Auf dieser Ebene bietet sich der Abbruch ausgewählter wirtschaftlicher Beziehungen an. Al Tamimi nimmt dabei detailliert die Möglichkeiten im Rahmen des EU-Israel Assoziationsabkommens und der hierzu beantragten Assoziierungsratssitzung in den Blick und schlussfolgert hieraus jedenfalls eine Pflicht der EU, die Wirtschafts-, Handels- und Investitionsbeziehungen mit Israel umfassend zu überprüfen, um zu gewährleisten, dass diese nicht zu einer Aufrechterhaltung und Verstärkung der völkerrechtswidrigen Besatzung beitragen. Israel lehnte jedoch eine Sitzung des Assoziierungsrats ab, woraufhin auf europäischer Seite bisher keine weiteren Schritte ergriffen wurden.
Ob es zu konkreten wirtschaftlichen Maßnahmen kommen wird, ist zwar angesichts der hierfür erforderlichen Einstimmigkeit im Rat der EU fraglich. Entsprechende Aufforderungen und befürwortende Stimmen wurden in den letzten Monaten – mit Blick auf die Völkerrechtsverletzungen Israels im Gazastreifen – bereits lauter und ein entsprechendes Vorgehen der EU könnte nach dem IGH-Gutachten realistischer geworden sein. Zusammen mit der Pflicht zur Nichtanerkennung verleiht die o.g. positive Pflicht (Rn. 278 a.E.) einem Handelsverbot mit Staaten und Unternehmen, die die Aufrechterhaltung einer illegalen Situation in einem besetzten Gebiet unterstützen, mehr Substanz als je zuvor. Die reine Bezugnahme auf Kennzeichnungspflichten – vom EuGH bereits aus unionsrechtlichen Verbraucherschutzgründen hergeleitet – dürfte jedenfalls nicht genügen. Die Unternehmen in den israelischen Siedlungen in den OPT profitieren weiterhin vom Zugang zum europäischen Binnenmarkt, selbst wenn sie gekennzeichnet werden. Es ist gerade die sich aus der Ausbeutung ergebende wirtschaftliche Attraktivität der Siedlungen, die den Zustrom und die Aufrechterhaltung begünstigen (dazu z.B. hier (ab S. 73), hier oder hier). Das gilt besonders für in den OPT angebaute landwirtschaftliche Produkte, welche wiederum in erster Linie exportiert werden statt der Selbstversorgung der Siedlungen, geschweige denn der besetzten Bevölkerung, zugutezukommen (dazu UN hier, im Original hier). Gleiches gilt für andere Exporte, zum Beispiel Gas oder grüne Technologien (zum Zusammenhang zwischen israelischem „Agritech“ und Enteignungen in den OPT hier). Ein absolutes Marktzugangsverbot drängt sich als Maßnahme, Handels- oder Investitionsbeziehungen zu verhindern, die zur Aufrechterhaltung der von Israel geschaffenen illegalen Situation in den OPT dienen, mithin auf.
Zu berücksichtigen wird in zukünftigen Maßnahmen auch sein, dass etwaige Kennzeichnungen nur der Siedlungsprodukte angesichts der Verstrickungen großer Teile der israelischen Wirtschaft auch mit den OPT nur eine begrenzte Wirkung haben dürften. Dies gilt nicht nur, aber in besonderem Maße mit Blick auf die Nutzung von aus Israel exportierten Waffen und Überwachungstechnologie (auch hier und hier) zur Aufrechterhaltung der illegalen Besatzung, aber zum Teil auch in der israelischen Finanzwirtschaft. Auch bei Gasimporten aus Israel ist der Anteil palästinensischer Ressourcen quasi unmöglich nachzuweisen.
Adieu, Carte Blanche
Gerade auch für den deutschen Diskurs müssten und sollten die tiefgreifenden Feststellungen des Gerichts zu einem weiteren Überdenken der bisherigen außenpolitischen Linie führen. Bisher ist den Reaktionen der Bundesregierung eine Diskrepanz zwischen Auswärtigem Amt und Kanzleramt zu entnehmen. Das AA stellte hierzu u.a. klar, es gebe „kein Völkerrecht à la carte ‑ Völkerrecht gilt“. In Bezug auf die Illegalität der israelischen Besatzung gebe es insofern „wenig Interpretationsspielraum“.
Nimmt man die Aussagen des AA ernst, so spricht einiges für die von Goldmann bereits geforderte Zeitenwende auch mit Blick auf den Nahen Osten. Insoweit ist das IGH-Gutachten für die Bundesrepublik auch eine Gelegenheit, dem mit Blick auf die Nahostpolitik in den letzten Monaten zurecht geäußerten Vorwurf der Doppelstandards (auch hier und hier) entgegenzutreten und zumindest einen Teil des verlorenen Vertrauens in eine universelle Völkerrechtsordnung zurückzugewinnen. Sofern das AA darauf verweist, dass die Verantwortung zur Umsetzung des Gutachtens vor allem bei Israel und der Generalversammlung liege, verkennt es aber die ausdrücklich auch für Drittstaaten bestehenden Pflichten (Rn. 273 ff.).
Schließlich sollten bei Umsetzung der eigenen Verpflichtung auch Sanktionen gegen Israel im o.g. Rahmen nicht in blinder Anwendung einer falsch verstandenen „Staatsräson“ ausgeschlossen oder gar jede solche Forderung als „eklig“ abgetan werden. Dass Aufrufe zu Sanktionen, Boykotten oder auch Investitionsrücknahmen in der Regel von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, wurde bereits zuvor gerichtlich geklärt (auch hier). Dass sie auch keinesfalls per se antisemitisch sind, vor allem wenn sie auf eine Beendigung der völkerrechtswidrigen Besatzung gerichtet sind, dürfte angesichts der durch das IGH-Gutachten festgestellten Pflichten aller Staaten nun eine gewisse Bestätigung erhalten haben.
Hinweis: Zu Inhalt und Folgen des IGH-Gutachtens vom 19. Juli beginnt im September ein englischsprachiges Symposium auf dem Verfassungsblog.
Den Beitrag empfinde ich als einseitig. Er lässt jede Kritik an dem IGH-Gutachten, das nicht rechtsverbindlich ist, vermissen. Schon die Fragen der UN-Generalversammlung an den IGH zielten „bedauerlich einseitig auf anstößige israelische Praktiken, ganz so als habe es Kritikwürdiges auf der Seite der Palästinenser seit 1967 nicht gegeben“ (sic). Dem Gericht wäre es auch „an verschiedenen Stellen seines Gutachtens möglich gewesen, Praktiken auf palästinensischer Seite stärker in den Blick zu nehmen, auf die Israel bei der Formulierung der Sorge um die eigene Sicherheit bei zahlreichen Gelegenheiten in öffentlich zugänglichen Quellen Bezug genommen hat“ (Claus Kreß, Israelische Besetzung: Was aus dem IGH-Gutachten folgt (lto.de), a.E.).
Überhaupt ist die Rolle der UN-Generalversammlung in Bezug auf Israel zumeist eine nicht gerade neutrale: Erinnert sei nur an die Resolution 3379 aus dem Jahr 1975, mit der „Zionismus“ als eine Form des „Rassismus und der Rassendiskriminierung“ bezeichnet wurde, die erst 1991 wieder zurückgenommen wurde.
Die vom Bundeskanzler anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine geforderte „Zeitenwende“ auf den hier in Rede stehenden Konflikt zu übertragen, verharmlost die „Zeitenwende“. Abgesehen davon dürfte aus israelischer Sicht eine Zeitenwende am 7. Oktober 2023 eingetreten sein – mit dem Angriff der vom Iran unterstützen Hamas, der sich zudem ganz überwiegend gegen Zivilisten richtete.