Parlamentarisches Fragerecht und Staatswohl
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet erneut über die Reichweite des parlamentarischen Frage- und Auskunftsrechts
Der immer wieder ausgetragene Streit zwischen dem Bundestag und der Bundesregierung über die Reichweite des parlamentarischen Frage- und Auskunftsrechts wurde um eine neue Episode ergänzt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat jüngst entschieden, dass die Bundesregierung einen Bundestagsabgeordneten zu Unrecht über die Anzahl der ins Ausland entsandten Bediensteten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) nicht unterrichtet hat (Urt. v. 14.12.2022, 2 BvE 8/21). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ordnet sich in eine stetig länger werdende Reihe von Entscheidungen ein, in der es im Kern um die Frage geht, ob und inwieweit sich der Bundestag, seine Untergliederungen oder seine Mitglieder durch verfassungsrechtlich radizierte Auskunftsansprüche über die Aktivitäten der Nachrichtendienste informieren dürfen. Die juristischen Auseinandersetzungen betreffen häufig die Auslegung höchst abstrakter Rechtsbegriffe, wie des „Staatswohls“, und die Abwägung zwischen verfassungsrechtlich prinzipiell gleichgewichtigen Belangen. Dem neuesten Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sich entnehmen, dass die Bundesregierung am ehesten dann unter Berufung auf das Staatswohl eine parlamentarische Frage ganz oder teilweise unbeantwortet lassen kann, wenn sich die Frage auf konkrete Aktivitäten der Nachrichtendienste bezieht.
Ähnliche Konstellation wie in der Entscheidung zum „Amri-Untersuchungsausschuss“
In den vergangenen Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in unterschiedlichen Konstellationen über die Grenzen der parlamentarischen Informations- und Kontrollbefugnisse im Kontext der Tätigkeit der Nachrichtendienste entschieden. So hatte das Bundesverfassungsgericht 2017 in einem Organstreitverfahren darüber zu befinden, ob die Bundesregierung die Anfragen zweier Parlamentsfraktionen über die Erkenntnisse der Nachrichtendienste über das Attentat auf das Münchener Oktoberfest im Jahr 1980 vollständig beantwortet hatte (Beschl. v. 13.6.2017, 2 BvE 1/15). Das Gericht stellte klar, dass die Bundesregierung zwar prinzipiell verpflichtet sei, die Anfragen des Bundestages über die Aktivitäten der Nachrichtendienste zu beantworten. Soweit es aber um den Einsatz verdeckter Quellen durch die Nachrichtendienste gehe, wie etwa von V-Leuten, könne die Regierung in der Regel wegen der Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte der verdeckt handelnden Personen die Auskunft verweigern, wenn die Identität der Quellen bei der Auskunftserteilung offenbart würde oder ihre Identifizierung möglich erscheine (Beschl. v. 13.6.2017, Rn. 109). In einem weiteren, 2020 entschiedenen Fall ging es um die Grenzen des Beweiserhebungsrechts eines vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschusses, der etwaige Versäumnisse der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016 aufdecken sollte (Beschl. v. 16.12.2020, 2 BvE 4/18). Umstritten war, ob das Bundesinnenministerium sich weigern durfte, dem Untersuchungsausschuss den für die Führung der V-Leute im Umfeld von Anis Amri zuständigen Mitarbeiter des BfV (sog. V-Person-Führer) zu benennen. Das Bundesverfassungsgericht betonte, dass zwar ein erhebliches Informationsinteresse des Untersuchungsausschusses bei der effektiven Kontrolle des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel bestehe (Beschl. v. 16.12.2020, Rn. 100). Allerdings könne die Bundesregierung die Mitwirkung an der Vernehmung des V-Person-Führers unter Berufung auf eine Vertraulichkeitszusage verweigern, wenn Gründe des Staatswohls dies im Einzelfall zwingend erforderten (Rn. 119).
Der jüngst vom Zweiten Senat entschiedene Rechtsstreit betrifft eine strukturell ähnliche Konstellation. Ein Abgeordneter der FDP-Bundestagsfraktion formulierte Ende 2020 eine parlamentarische Anfrage, in der er sich über die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BfV erkundigen wollte, die in den Jahren 2015 bis 2019 für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit ins Ausland entsandt worden waren. Zudem wollte er wissen, wie die Bundesregierung die Entsendung bewerte (BVerfG, Urt. v. 14.12.2022, Rn. 4). Der Zweck der Frage bestand darin, die aus der Sicht des Abgeordneten unklare Abgrenzung der Zuständigkeiten des BfV und des BND im Bereich nachrichtendienstlicher Aktivitäten im Ausland näher zu beleuchten (Rn. 15). Das Bundesinnenministerium verweigerte die Auskunft und führte aus, dass die erbetenen Informationen in besonderer Weise das Staatswohl berührten. Eine Antwort der Bundesregierung würde spezifische Informationen über die Arbeitsmethoden und Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden publik machen und den Erfolg von Einsätzen gefährden (Rn. 5). Der juristische Konflikt betraf demnach die Reichweite des Informationsrechts eines Abgeordneten im Bereich der Organisation und Tätigkeit der Nachrichtendienste und das möglicherweise entgegenstehende Recht der Bundesregierung, sich auf Gründe des Staatswohls, insbesondere auf eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste, zu berufen (vgl. Rn. 82).
Kasuistisch geprägtes Frage- und Informationsrecht des Abgeordneten
Der Abgeordnete des Bundestages hat gegenüber der Bundesregierung ein Frage- und Informationsrecht, das mit einer prinzipiellen Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Das Fragerecht des Abgeordneten ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt, wird aber vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG hergeleitet. Das Fragerecht ist, wie das Gericht erneut unterstreicht, ein wichtiges Instrument der Kontrolle der parlamentarisch verantwortlichen Regierung (Urt. v. 14.12.2022, Rn. 53 ff.). Zur Wahrnehmung der Kontrollaufgaben des Bundestages im Bereich der Nachrichtendienste hat der Gesetzgeber verschiedene Kontrollgremien eingerichtet. Dazu gehören vor allem das für die Kontrolle des BfV, BND und MAD zuständige Parlamentarische Kontrollgremium (Art. 45d GG, § 1 Abs. 1 PKGrG), daneben das Vertrauensgremium nach § 10a Abs. 2 BHO, das für die Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste zuständig ist, sowie die G 10-Kommission, die eine Kontrollbefugnis hinsichtlich der nach dem G 10-Gesetz erlangten personenbezogenen Daten durch die Nachrichtendienste hat (§ 15 Abs. 5 S. 2 G 10). Die Mitglieder dieser Kontrollgremien sind im Rahmen ihrer Tätigkeit zur Geheimhaltung verpflichtet (§ 10 Abs. 1 PKGrG, § 10a Abs. 2 S. 5 BHO, § 15 Abs. 2 G 10). Sie dürfen weder den Abgeordneten noch den Fraktionen nachrichtendienstliche Informationen mitteilen, die ihnen die Bundesregierung zur Verfügung stellt (Rn. 71). Schon deshalb können die Kontrollbefugnisse dieser Gremien das verfassungsrechtlich verbürgte Frage- und Auskunftsrecht des Abgeordneten nicht ersetzen oder verdrängen (Rn. 97). Dieser Befund wird einfachgesetzlich durch § 1 Abs. 2 PKGrG bestätigt, wonach die Kontrollbefugnisse des Parlamentarischen Kontrollgremiums die Rechte des Bundestages und seiner Ausschüsse unberührt lassen. Letztlich kommt eine Limitierung des Auskunftsanspruchs des Abgeordneten über die Tätigkeit der Nachrichtendienste im Sinne einer „Bereichsausnahme“ nicht in Betracht (Rn. 68).
Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bekräftigt, unterliegt das parlamentarische Frage- und Auskunftsrecht allerdings verfassungsimmanenten Schranken, zu denen der Zuständigkeitsbereich der Regierung, der sogenannte „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“, die Grundrechte Dritter und das Staatswohl gehören (Rn. 58 ff.). Dabei bildet – wie bei anderen Fallgestaltungen, die die parlamentarischen Informationsansprüche über nachrichtendienstliche Aktivitäten zum Gegenstand hatten – die Frage einer etwaigen Gefährdung des Staatswohls einen wichtigen Aspekt der verfassungsgerichtlichen Prüfung (Rn. 63 ff.). Das Gericht hat zwar seit seinem wegweisenden Urteil zum „Flick-Untersuchungsausschuss“ (BVerfGE 67, 100) immer wieder betont, dass im parlamentarischen Regierungssystem das Staatswohl nicht der Bundesregierung allein, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut sei (Rn. 64). Allerdings bejahte das Gericht in den bereits erwähnten Entscheidungen zu den Erkenntnissen der Nachrichtendienste über das „Oktoberfest-Attentat“ und zum „Amri-Untersuchungsausschuss“ das Recht der Bundesregierung, sich zur Informationsverweigerung unter Umständen auf Gefahren für das Staatswohl zu berufen, soweit es um den Einsatz verdeckter Quellen durch die Nachrichtendienste geht (BVerfG, Beschl. v. 13.6.2017, 2 BvE 1/15, Rn. 109; Beschl. v. 16.12.2020, 2 BvE 4/18, Rn. 119). Im Beschluss zum „Amri-Untersuchungsausschuss“ wurde das parlamentarische Informationsbegehren abgelehnt.
Wohl nicht das letzte Urteil zum parlamentarischen Informationsanspruch
In der aktuellen Entscheidung zum parlamentarischen Fragerecht des FDP-Abgeordneten stellt das Gericht hingegen deutlich fest, dass sich die Bundesregierung nicht auf Gründe des Staatswohls berufen könne, um die begehrte Auskunft zu verweigern (Rn. 82 ff.). Insbesondere werde die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes durch die Erteilung der geforderten Auskunft nicht beeinträchtigt (Rn. 82). Die bloße Mitteilung der jährlichen Gesamtzahl der Auslandsmitarbeiter des BfV über einen Zeitraum von fünf Jahren und eine Bewertung der Entsendung könnten die Handlungsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht einschränken (Rn. 84). Weder könnten Rückschlüsse auf konkrete Aktivitäten und Einsatzfelder des BfV im Ausland gezogen werden, noch könnten ausländische Nachrichtendienste oder extremistische Gruppen sich operativ auf die Entsendung der BfV-Bediensteten ins Ausland einstellen (Rn. 84 f.). Jedenfalls sei von einem Vorrang des parlamentarischen Informationsanspruchs vor dem Geheimhaltungsinteresse der Exekutive auszugehen (Rn. 92 f.).
Der Subsumtion des Gerichts kann man im Wesentlichen zustimmen. Ergänzend wird man allerdings festhalten, dass sich die Bundesregierung auf eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste eher hätte berufen können, wenn die Anfrage konkreter formuliert worden wäre, also etwa nach konkreten Zahlen der Auslandsmitarbeiter, aufgeschlüsselt nach Einsatzorten, Einsatzzeiten und Arbeitsgebieten, gefragt worden wäre (vgl. auch Rn. 84). Denn die Beantwortung einer solchen Frage könnten andere Nachrichtendienste oder potentielle Überwachungsadressaten womöglich nutzen, um Abwehrstrategien gegenüber gegenwärtigen oder künftigen Maßnahmen des BfV zu entwickeln.
Das Urteil des Zweiten Senats zum Informationsanspruch des Abgeordneten über die Zahl der Auslandsbediensteten des BfV wird, so lässt sich bilanzieren, wohl nicht die letzte Entscheidung sein, die sich mit dem parlamentarischen Frage- und Auskunftsrecht im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Nachrichtendienste auseinandersetzt. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es Konstellationen, in denen sich die Bundesregierung auf eine Gefährdung des Staatswohls, insbesondere auf eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit der Nachrichtendienste, berufen und ein parlamentarisches Auskunftsbegehren ablehnen kann. Deswegen könnte die Bundesregierung auch künftig in Erwägung ziehen, ein Informationsbegehren abzuweisen und dabei eine Gefährdung des Staatswohls ins Feld zu führen. Eine derartige Einwendung ist aber, wie das neueste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt, umso weniger stichhaltig, je allgemeiner oder pauschaler eine parlamentarische Anfrage sich auf die Arbeitsweise, die Organisationsstruktur oder das Personal der Nachrichtendienste bezieht.