24 October 2023

Politisches Microtargeting vs. Rechtsaufsicht

In der letzten Woche ist bekannt geworden, dass die EU-Kommission, konkret der amtliche Account der Kommissarin für Inneres, Microtargeting auf X (vormals Twitter) nutzte, um Schwung in ein festgefahrenes Gesetzgebungsvorhaben zu bringen. Es handelt sich um eine gezielte Beeinflussung der gesellschaftlichen Debatte rund um die sogenannte „Kinderschutzverordnung“, auch bekannt als „Chatkontrolle“ durch datenbasierte Zielgruppenansprache (zur Berichterstattung und Analyse). Diese, auch inhaltlich zweifelhaften Posts sollten dazu dienen, Druck auf mitgliedsstaatliche Regierungen auszuüben die sich im Rat gegen das Gesetzgebungsverfahren gestellt haben, um doch noch eine Mehrheit für das Vorhaben zu beschaffen. Dieser Vorgang ist auch abseits der inhaltlichen Debatte um die „Chatkontrolle“ bemerkenswert, schließlich zeigt er neben den systemischen Risiken von Plattformen und dem Bedürfnis nach effektiver Durchsetzung von Plattformregulierung auf, dass die Kommission sich in einem Spannungsverhältnis der Funktionen als Aufsichtsbehörde und als politische Akteurin befindet und somit das systeminhärente Risiko besteht, dass sie ihre Funktion als Aufsichtsbehörde zugunsten politischer Ziele vernachlässigt.

Der Gesetzgebungsprozess der „Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ geriet zuletzt ins Stocken, als sich insbesondere aufgrund berechtigter Bedenken an der Verhältnismäßigkeit des Verordnungsvorschlags (siehe hier) abzeichnete, dass sich im Rat keine Mehrheit für den Vorschlag finden würde. Einen Tag später spielte die EU-Kommission Videos auf X aus, welche die Bedeutung von Kinderschutzregulierung darstellen sollen. Nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf der EU-Kommission soll Kinderschutz durch eine allgemeine Chatkontrolle und ein Ende der verschlüsselten Kommunikation erreicht werden (siehe und hier und hier zu den berechtigten Zweifeln dieser Annahme). Dieser Spot wurde auf der Plattform X veröffentlicht und sodann gezielt solchen Menschen angezeigt, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht christlich sind, kein Interesse an bestimmten antieuropäischen Accounts und Hashtags gezeigt haben und in ausgewählten Ländern leben.

Die politische Funktion der Europäischen Kommission

Die wichtigste politische Funktion der Kommission ist ihr Initiativrecht, auf europäischer Ebene besitzt die Kommission nach Art. 17 II EUV ein Initiativmonopol – in fast allen Bereichen des Unionsrecht kann ein Gesetzgebungsakt nur auf Vorschlag der Kommission hin erlassen werden. Aus diesem Recht (und der Aufgabe) Gesetzgebungsvorschläge zu erarbeiten folgt auch das Recht, ihre Vorschläge für Gesetzgebungsakte der Öffentlichkeit vorzustellen und diese auch an Rat und Parlament zu vermitteln und eine Annäherung derer Standpunkte herbeizuführen, gegebenenfalls durch Änderungen an dem Vorschlag (siehe hier, Rn. 74). Ihre politischen Kompetenzen hat die Kommission aber im vorliegenden Fall weit überschritten, wie die folgende Analyse der einzelnen Aspekte des Falles aufzeigt.

Die Posts der Kommission wurden nur in einzelnen Mitgliedsstaaten per Microtargeting beworben – und zwar in jenen, die sich im Rat gegen das Vorhaben ausgesprochen haben (dazu Mekić). Die Posts wurden auch nicht in die Amtssprachen weiterer Mitgliedsstaaten übersetzt, stehen folglich nicht dem allgemeinen öffentlichen Diskurs in der Union zur Verfügung, sondern entziehen sich diesem bereits durch die Gestaltung der Inhalte teilweise. Das zielgerichtete Bewerben mittels Microtargeting ist da fast nur eine logische Konsequenz. Aus der Strategie heraus lässt sich erkennen, dass es um die zielgerichtete Beeinflussung der mitgliedsstaatlichen Diskurse geht.

Inhaltlich betrachtet handelt es sich bei den Posts auch nicht um eine Bewerbung des Kommissionsvorschlags oder eine an die Öffentlichkeit gewandte Vorstellung der Arbeit der Kommission – es wird in vielen Videos nicht einmal erwähnt, dass es einen Kommissionsvorschlag gibt (siehe hier), auf konkrete Inhalte des Vorschlags wird nie eingegangen (hier der Post in englischer Sprache, es handelt sich dabei um die „objektivste“ Version der Videos). Die verschiedenen Videos wurden für die jeweiligen Mitgliedsstaaten angepasst, bestehen alle aus zwei Elementen: Im Hintergrund werden Videos eingeblendet, die in düsterer Stimmung (seelisch) verletzte Kinder und männlich gelesene Täter an Smartphones und Computern zeigen sollen. Im Vordergrund werden (vermeintliche) Statistiken eingeblendet, nach denen die große Mehrheit der Bevölkerung in der EU oder in den jeweiligen Mitgliedsstaaten (je nach Video) harte Maßnahmen „für“ den Kinderschutz, wie eine Chatkontrolle befürwortet. Die zentrale Message wird am Ende des Videos vorgestellt: es braucht eine Regulierung und die Zeit drängt. Warum die Zeit nun besonders drängt, wird nur in einigen der Posts erläutert, erschließt sich allerdings aus den politischen Umständen: Eine temporäre Regelung, welche es Kommunikationsdiensten erlaubt, freiwillig (vertrauliche) Nachrichten und Inhalte zu durchsuchen, läuft im August 2024 aus. Nun möchte die Kommission also eine neue Regelung noch in dieser Legislaturperiode verabschieden, also vor der Europawahl im Juni 2024. Der Vorschlag soll dabei mit einer allgemeinen Überprüfung sämtlicher digitaler Nachrichten weit über die bisherige Regelung hinausgehen und dabei den Wesensgehalt des grundrechtlich gewährleisteten Kommunikationsgeheimnis aus Art. 7 GRCh antasten. Inhaltlich geht es folglich um viel mehr als eine Verlängerung des temporären Regulierungsmechanismusses. Die Aussage, dass die Zeit drängt, hängt nicht wirklich mit dem Ablauf der alten Regulierung zusammen. Es handelt sich in der Gesamtschau somit nicht um objektive Informationen oder Bewerbung der eigenen Arbeit für die allgemeine europäische Öffentlichkeit.

Die Posts stellen auch keine lösungsorientierte Vermittlung der Standpunkte zwischen den gesetzgebenden Organen (konkret: von Rat und Kommission) dar, diese muss nach Art. 13 II S. 2 EUV im Wege der loyalen Zusammenarbeit mit den anderen Organen erfolgen. Dies schließt Druckausübung auf mitgliedsstaatliche Regierung durch das gezielte Beeinflussen der öffentlichen Debatte in diesen Mitgliedsstaaten als geeignetes Instrument aus. Insgesamt handelt es sich folglich um eine evidente Überschreitung der politischen Kompetenzen der Kommission.

Die Gesetzmäßigkeiten der politischen Sphäre und die Funktion als Aufsichtsbehörde

Die Kommission hat als politische Akteurin agiert und dabei rechtlich unzulässig in den politischen Willensbildungsprozess eingegriffen. Es handelt sich dennoch, wie anfangs angedeutet, nicht nur um ein Problem der Überschreitung der politischen Kompetenzen. Der Vorgang zeigt vielmehr auf, dass die Kommission primär politischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und sich davon in der Entscheidungsfindung beeindrucken lässt, anstatt über das Zusammenspiel der verschiedenen Aufgaben und Funktionen zu reflektieren.

Die EU-Kommission wird gemäß Art. 17 VI, VII EUV in politischen Aushandlungsprozessen ernannt, welche eng verwoben sind mit der Wahl des europäischen Parlaments, das Spitzenkandidat*innenverfahren dient zudem auch dazu, die politische Legitimität und damit auch die politische Funktion der Kommission zu stärken. Die Kommission ist somit eine politische Akteurin, sie wird in der Folge primär an ihren politischen Erfolgen gemessen. Daraus folgt, dass sie eher politischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, als verwaltungsrechtlichen. Dies spielt einerseits bei der Ausübung der Exekutivfunktionen eine große Rolle, wenn die Rechtsdurchsetzung (und der Grundrechtsschutz) mit Interessen des Binnenmarkts, der politischen Agenda der Kommission oder diplomatischen Beziehungen in Konflikt steht. Aber auch die verschiedenen Exekutivfunktionen stehen teilweise im Spannungsverhältnis zueinander, ein effektiver Grundrechtsschutz im Bereich des Datenschutzrechts (man denke insbesondere an Angemessenheitsbeschlüsse für die Datenverarbeitung in Drittstaaten nach Art. 45 DSGVO) oder der Plattformregulierung kann für den Binnenmarkt (zumindest kurzfristig) nachteilige Auswirkungen haben (Ruschemeier, Die aktuelle Digitalgesetzgebung in der EU, ZG 2023 i.E.).

Das Verbot von Profiling im DSA

Problematisch wird die überragende Bedeutung der politischen Funktion beispielsweise dann, wenn sich die Kommission zur Erreichung der eigenen politischen Ziele eines Mittels bedient, dessen Verbot sie auf sehr großen Online-Plattformen (wie beispielsweise X) als Aufsichtsbehörde durchsetzen soll.

Die Anzeige von Werbung die auf Profiling unter Verwendung sensibler personenbezogener Daten beruht, ist nach Art. 26 III DSA verboten. Die Anzeige der Posts durch die Kommission beruhte, neben dem Ausschluss bestimmter politscher Interessen, darauf ob eine Person, nach der Vorhersage von X, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht-christlichen Glaubens ist. Für die Prognose müssen systematisch personenbezogene Daten zur religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der betroffenen Person ausgewertet werden, die Anzeige der Posts beruht folglich auf Profiling. Für die Kommission selbst gilt Art. 26 III DSA nicht, da sie keine Online-Plattform ist – das Recht bricht folglich nur die Plattform, X.

Das Verbot solcher Anzeigen will die EU-Kommission zudem grundsätzlich noch weiter verschärfen. Politisches Microtargeting hat das Potential die öffentliche Debatte zu manipulieren und zu fragmentieren und stellt folglich eine Gefahr für demokratische Prozesse, insbesondere Wahlen, dar, wie der Cambridge Analytica Skandal gezeigt hat. Dies sieht auch die Kommission so, weshalb noch in dieser Legislaturperiode die Verabschiedung eines neuen Regelwerks zur Regulierung von politischer Werbung von statten gehen soll. Stand jetzt ist ein Totalverbot nicht absehbar, vielmehr bleiben mehrere Lücken, insbesondere soll Microtargeting weiterhin erlaubt sein, wenn eine Einwilligung vorliegt (siehe hier).

Bei politischem Microtargeting handelt es sich um ein gesellschaftliches Risiko, ein systemisches Risiko für die gesellschaftliche Debatte und Wahlprozesse. Solche Risiken sind gemäß Art. 34, 35 DSA von den Plattformen zu mindern, die EU-Kommission beaufsichtigt diesen Regulierungsmechanismus Hinzu kommt im konkreten Fall noch der Aspekt der Desinformation: der gesamte Inhalt der angezeigten Posts bezieht sich auf eine Umfrage mit sehr zweifelhafter Methodik (Quelle), dessen Ergebnisse als Fakten dargestellt werden. Andere Quellen, mit verlässlicherer Methodik kommen zu anderen Ergebnissen. Auch solche Desinformationen unterfallen dem Regulierungsmechanismus des Art. 34, 35 DSA.

Die Macht von Microtargeting und die Funktion als Aufsichtsbehörde

Die EU-Kommission weiß um die Gefahr von Microtargeting und die Folgen für demokratische Prozesse, erlässt Gesetze die Microtargeting einschränken und will explizit ein Gesetz für politische Werbung verabschieden.  Dennoch konnte die Kommission der Versuchung des Microtargeting nicht wiederstehen und nutzte das Instrument für die eigene politische Agenda. Dies sagt viel darüber aus, wie stark die Verlockung von politischem Microtargeting ist. Es handelt sich um ein Instrument, mit dem politische Werbung effektiver wird und das (zumindest in einem gewissen Rahmen) eine Steuerung gesellschaftlicher Debatten ermöglicht. Da die Kommission ein politisch zusammengesetztes Organ ist, welches primär an politischen Erfolgen gemessen wird, ist der politische Gestaltungswille der Kommission und der einzelnen Kommissar*innen, welche jeweils auch eigene politische Ziele verfolgen, naturgemäß groß. Die Kommission befindet sich somit in einem Zwiespalt zwischen ihren Funktionen als politische Akteurin, die gestalten will und als Aufsichtsbehörde, die für rechtswidriges Verhalten, dass unter ihre Aufsicht fällt, nicht bezahlen sollte. Zusammenfassend ist die Kommission insgesamt ihrer Funktion als Aufsichtsbehörde des DSAs und insgesamt ihrer Funktion als Hüterin des Rechts, nicht gerecht geworden.

Diese Funktion wurde gerade in der Regulierung zur sogenannten „digitalen Dekade“ enorm gestärkt. So ist die Kommission nicht nur die (fast) alleinige Aufsichtsbehörde des DMA, sondern ist auch für die Durchsetzung des DSAs gegenüber sehr großen Online-Plattformen und Suchmaschinen zuständig. Auch in weiteren Gesetzgebungsakten spielt sie eine wichtige Rolle der Aufsicht. Grund dafür ist primär, dass das dezentrale One-Stop-Shop Prinzip der mitgliedsstaatlichen Rechtsdurchsetzung der DSGVO als gescheitert gilt. Aufgrund der Schwierigkeiten die sich aus der starken Machtposition der großen Online-Plattformen und Suchmaschinen ergeben, fiel die Wahl auf die Kommission als Aufsichtsbehörde gerade wegen ihrer, im Vergleich zu mitgliedsstaatlichen Behörden, stärkeren Machtposition (s. ErwG 124 f, 137, 145 DSA).

Fazit und Ausblick

Plattformregulierung ist, ebenso wie das Datenschutzrecht, eine Frage der Regulierung von Macht. Dies gilt insbesondere im Bereich der sehr großen Online-Plattformen und -Suchmaschinen. Die Ausübung der Aufsichtsfunktion durch die Kommission kann im Zwiespalt zwischen der Funktion als politische Akteurin und der Funktion als Hüterin des Unionsrechts zu Schwierigkeiten führen, wie sie der Fall hier sehr plakativ zu Tage fördert. Diese Schwierigkeiten sind jedoch systematisch in der Ausgestaltung der Kommission und ihrer wachsenden Bedeutung als Aufsichtsbehörde im digitalen Raum angelegt. Notwendig ist deshalb eine Reflektion dieser Spannungen, sowohl in der Kommission, als auch in der (Rechts-)Wissenschaft.

Im konkreten Fall, welcher durch seine vielfältigen Facetten, welche von Big-Data-Analyse über politische Beeinflussung und Fragmentierung der öffentlichen Debatte bis zu Desinformation reichen, anschaulich die Bedeutung von effektiver Plattformregulierung aufzeigt, ist wohl nicht zu erwarten, dass die Kommission das Verbot von Microtargeting effektiv durchsetzen wird. Eine Sanktion gegen X ist nicht zu erwarten und wäre, soweit es um die Posts der Kommission geht, nun auch rechtsstaatlich bedenklich. Die Plattformregulierung ist jedoch nicht alleinig betroffen, die zugrundeliegenden Datenverarbeitungen werden vom europäischen Datenschutzbeauftragten wegen Verstoßes gegen die DSGVO aufgrund der zugrundeliegenden Datenverarbeitung (Profiling mit sensiblen Daten) untersucht. Wie es inhaltlich weiter geht, bleibt also spannend, an den aufgezeigten Analysen ändert der Fortgang des Verfahrens jedoch nichts.