Prekariat Gefängnis
Warum das Urteil des BVerfG zur Gefangenenvergütung nicht im Sinne der arbeitenden Inhaftierten ist
In seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden zweier Gefangener aus NRW und Bayern vom 20.6.2023 erklärt das Bundesverfassungsgericht die landesgesetzlichen Regelungen zur Vergütung von Gefangenenarbeit für mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG unvereinbar (BVerfG, Urteil vom 20.6.2023, 2 BvR 166/16 und 2 BvR 1683/17). Es handelt sich um die dritte Entscheidung darüber, ob die gesetzlich festgelegte Höhe der Gefangenenvergütung den grundrechtlichen Anforderungen entspricht (Kett-Straub zur Ausgestaltung der Gefangenenarbeit).
Auf den ersten Blick ist die Entscheidung für die Beschwerdeführer ein Erfolg, da das BVerfG eine Verletzung ihres Grundrechts auf Resozialisierung durch die bestehenden landesrechtlichen Vorschriften anerkennt. Jedoch relativiert das Gericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine angemessene Bezahlung von Gefangenenarbeit, indem es das Kriterium der Angemessenheit dahingehend aufweicht, dass es nicht mehr abstrakt, sondern im Zusammenhang mit dem zugrundeliegenden Resozialisierungskonzept überprüft werden kann. Daneben ist fraglich, ob die beiden Beschwerdeführer von der Anpassung der Gefangenenvergütung überhaupt noch profitieren werden, die nicht rückwirkend erfolgt, um die Haushalte der Länder zu schonen.
Entgegen den Erwartungen der Betroffenen sowie der Ankündigung der Vorsitzenden des 2. Senats, Doris König, fand keine substanzielle Schärfung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe statt. Klare Vorgaben in Bezug auf die Vergütung von Gefangenenarbeit sucht man in der Entscheidung vergeblich. Stattdessen wiederholt das BVerfG seine Anforderungen aus den Jahren 1998 und 2002 (BVerfG, Urteil vom 1.7.1998 – 2 BvR 441–90, NJW 1998, 3337 und BVerfG, Beschluss vom 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, NJW 2002, 2023), überlässt die inhaltliche Bestimmung der Arbeitsbedingungen dann aber erneut der Gesetzgebung und beschränkt sich auf eine Vertretbarkeitskontrolle. Konkrete Leitlinien enthält das Urteil nur hinsichtlich dessen, was gesetzlich geregelt werden muss, aber nicht dazu, welchen verfassungsrechtlichen Ansprüchen diese Regelungen zu genügen haben.
Das Bundesverfassungsgericht bleibt sich treu
Inhaltlich entwickelt das BVerfG hinsichtlich des Resozialisierungskonzepts keine neuen Mindestanforderungen. Wie bereits in der ersten zu dieser Thematik ergangenen Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1998 betont es, dass den Gefangenen durch die Höhe des Entgelts bewusst gemacht werden muss, dass die Erwerbsarbeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll ist. Das BVerfG formuliert konkret, dass die Angemessenheit der Vergütungshöhe an den mit dem Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken zu messen ist (Ls. 2). Diese Zwecke bestimmt aber die Gesetzgebung, wobei ihr ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt.
Die für dieses Urteil wegweisende Grundsatzentscheidung erging bereits im Jahr 1998 (BVerfG NJW 1998, 3337). Hier stellte das BVerfG erstmals fest, dass die Gesetzgebung grundrechtlich verpflichtet ist, ein dem Strafvollzug zugrundeliegendes Resozialisierungskonzept zu entwickeln, wobei ihr ein umfassender Gestaltungsspielraum zusteht. Hierbei kann Arbeit nur ein wirksames Mittel zur Resozialisierung sein, wenn sie angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muss jedoch nicht notwendigerweise finanzieller Art sein. Wenn die Anerkennung allerdings hauptsächlich finanziell erfolgt, muss die Höhe geeignet sein, den Gefangenen aufzuzeigen, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll ist. Notwendig hierfür ist ein transparentes und nachvollziehbares Entlohnungssystem. Das BVerfG erklärte das von der Gesetzgebung des Bundes entwickelte Entlohnungsmodell für verfassungswidrig und hielt den Bund an, die entsprechenden Regelungen zu ändern. Verfassungsrichter Kruis betonte in einem Sondervotum die anthropologische Bedeutung der Arbeit für die existenzielle Bedeutung des Menschen und sprach sich für eine tariflich orientierte Entlohnung von Gefangenen aus.
Daraufhin änderte die Gesetzgebung des Bundes das Strafvollzugsgesetz zum 1.1.2001. Sie hob die Eckvergütung für die Arbeit von Gefangenen von 5 auf 9 Prozent an, führte die Möglichkeit einer Freistellung von der Arbeitspflicht ein und senkte das sogenannte Überbrückungsgeld, das die Gefangenen in der Zeit nach der Entlassung finanziell absichern soll (5. Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27.12.2000 zum 1.1.2001 in Kraft getreten, Neuregelung der §§ 43, 200 StVollzG (BGBl I 2000, 2043).
Die zweite wichtige Entscheidung entlang dieser Rechtsprechungslinie ist ein im Jahr 2002 vom BVerfG getroffener Beschluss, die Verfassungsbeschwerde eines Gefangenen, die sich inhaltlich ebenfalls gegen die Höhe der Vergütung richtete, nicht anzunehmen (BVerfG NJW 2002, 2023). Das BVerfG betont hier, dass ihm nur eine eingeschränkte Überprüfbarkeit der Entscheidungen der Gesetzgebung hinsichtlich Art und Umfang der Entlohnung der Gefangenenarbeit zukommt. Es stellt fest, dass die Gesetzgebung mit ihren Wertentscheidungen hinsichtlich der Bezugsgröße und dem Umfang der Freistellung die unterste verfassungsrechtlich zulässige Grenze gewahrt hat – die jedoch einer stetigen Prüfung und Evaluation unterzogen werden müsse.
Das BVerfG setzt keine Standards
Im aktuellen Urteil versäumt das BVerfG die Gelegenheit, konkrete inhaltliche Vorgaben dazu zu machen, wann die Vergütung der Gefangenenarbeit mit dem Resozialisierungsgebot vereinbar ist, wie vielfach erhofft wurde.
Stattdessen betont das Gericht den weiten Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung, der die Aufgabe zukomme, “die erforderliche Abwägung der vielfältigen aufgeführten Belange vorzunehmen und Zielkonflikte zu lösen” und so ein Entlohnungsmodell zu entwickeln, das eine angemessene Anerkennung für die geleistete Arbeit bereithält (Rn. 246). Die eigene Rolle beschränkt das BVerfG auf die Vornahme einer Vertretbarkeitskontrolle (Ls. 5, Rn. 249ff.). Dabei bleibt unklar, inwiefern das “die große Bedeutung, die dem gesetzgeberischen Resozialisierungskonzept für die Verwirklichung der Grundrechte der Gefangenen zukommt” (Rn. 251) ausreichend berücksichtigen soll.
Inhaltlich macht das BVerfG dabei nur die Vorgabe, dass die mit der Arbeit im Strafvollzug verfolgten Ziele und Zwecke sich widerspruchsfrei mit der vorgesehenen Vergütung in Einklang bringen lassen müssen (Ls. 2). “Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln und dieses mit hinreichend konkretisierten Regelungen des Strafvollzugs umzusetzen.” (Rn. 215)
Vorgaben zur Höhe der Vergütung finden sich nur in Ansätzen. So betont das BVerfG, dass die Anerkennung “einen Gegenwertcharakter für die geleistete Arbeit haben {muss}, der auch für die Gefangenen unmittelbar erkennbar ist”, da andernfalls eine Degradierung zu “Objekten staatlicher Gewalt” drohe (Rn. 227). Hier orientiert sich das BVerfG am Sondervotum des Verfassungsrichters Kruis von 1998.
Allerdings lassen sich nach Ansicht des BVerfG die konkreten verfassungsrechtlichen Anforderungen an diese Anerkennung “nur aus dem Zusammenhang mit dem vom Gesetzgeber entwickelten Resozialisierungskonzept” (Rn. 221, 236) beantworten. Eine Formulierung, die Fragen aufwirft. Letztlich betont das BVerfG damit wohl nicht den Anspruch der Gefangenen auf eine angemessene Anerkennung ihrer Arbeit, sondern den Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung hinsichtlich der Ziele, Zwecke und Bezahlung dieser Arbeit.
Die Vollzugsziele und -maßnahmen müssen zwar aufeinander abgestimmt werden, das BVerfG legt aber keine Vollzugsziele fest. Anstatt die Vergütung nach oben hin anzupassen, können die Länder also auch Vollzugsziele wie z.B. die Schuldentilgung oder die Leistung von Unterhaltszahlungen, die nach Ansicht des BVerfG gerade nicht durch die gesetzlich vorgesehene Vergütung erfüllt werden können, wieder aus dem Gesetz streichen. Das würde wiederum eine geringere Vergütung rechtfertigen. Denn in seiner Entscheidung leitet das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelungen daraus ab, dass die vorgesehene Bezahlung nicht ausreichend ist, um die Vielzahl der damit verfolgten Resozialisierungsziele auch zu erreichen (Rn. 263, 277).
Das heißt aber im Umkehrschluss: Je weniger ambitioniert die Ziele sind, die das Resozialisierungskonzept der Gesetzgebung durch die Arbeit im Strafvollzug verfolgt, desto geringer kann auch die Bezahlung der Gefangenen ausfallen. Die Angemessenheit bestimmt sich immer aus dem Regelungszusammenhang, und nicht anhand objektiv-abstrakter Kriterien. Der Regelungszusammenhang steht aber zur Disposition der Gesetzgebung; eine substanzielle Kontrolle durch das BVerfG erfolgt nicht. Damit erfolgt durch das heutige Urteil keine Stärkung, sondern eine Schwächung des Resozialisierungsanspruchs der Gefangenen.
Crashkurs in Gesetzgebung
Wesentlich neu sind auf den ersten Blick die Anforderungen, die das BVerfG an das “Was” der gesetzlichen Regelung stellt – und nicht an das “Wie viel”. So macht das BVerfG konkret zwei Vorgaben an die Gesetzgebung als primäre Adressatin des Resozialisierungsanspruchs (Rn. 210).
Erstens muss sie, um dem Wesentlichkeitsgebot zu genügen, “ein wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept entwickeln und dieses mit hinreichend konkretisierten Regelungen des Strafvollzugs umzusetzen“ (Rn. 215). Dabei müssen insbesondere die mit der Vergütung verfolgten Zwecke benannt werden, damit anhand dieser die Angemessenheit der Vergütung überprüft werden kann (Ls. 2). Daneben muss die Gesetzgebung aber auch das Verhältnis der Arbeit zu anderen Behandlungsmaßnahmen sowie die Bemessungsgrundlage und Vergütungsstruktur gesetzlich regeln (Rn. 216).
Das ist so bekannt wie selbstverständlich: Das Wesentlichkeitsgebot verpflichtet die Gesetzgebung dazu, in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Im Strafvollzug hat dieses Gebot aufgrund der Intensität der Grundrechtseingriffe eine besondere Bedeutung. Offensichtlich hatte es der Erinnerung daran bedurft.
Zweitens muss die Gesetzgebung die Regelungen zur Vergütung dann anpassen, “wenn die Änderung einer zunächst verfassungskonform getroffenen Regelung erforderlich ist, um diese unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts einer veränderten Erkenntnislage mit der Verfassung im Einklang zu halten” (Rn. 252). Dazu ist es erforderlich, aussagefähige und vergleichbare Daten zu erheben, die “eine Feststellung und Bewertung der Erfolge und Misserfolge des Vollzugs sowie die gezielte Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren” zulassen sowie von Erfahrungen in anderen Bundesländern und Staaten zu lernen (Rn. 253).
Auch hier wiederholt das BVerfG letztlich aber nur Offensichtliches: Insbesondere in eingriffsintensiven Regelungsbereichen ist es erforderlich, einmalig getroffene Regelungen zu evaluieren und an sich verändernde tatsächliche und wissenschaftliche Gegebenheiten anzupassen. Das gilt immer und hätte spätestens seit der 1998 erfolgten Grundsatzentscheidung für die Gefangenenarbeit allen klar sein können und müssen. Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur Bayern und NRW, sondern alle Bundesländer diese Vorgaben des BVerfG zum Anlass nehmen, ihre Resozialisierungskonzepte und insbesondere die mit der Vergütung verfolgten Zwecke und deren Umsetzbarkeit einer überfälligen und kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Fazit
Die Entscheidung des BVerfG ergeht nur auf den ersten Blick zugunsten der Beschwerdeführer. Bei genauerer Betrachtung enthalten die Ausführungen des 2. Senats neben der scheinbar notwendigen Erinnerung an Prinzipien, die bereits in der Grundsatzentscheidung 1998 aufgestellt und 2002 bestätigt wurden, eine Aufweichung der Anforderungen an eine angemessene Anerkennung der Arbeit. Dabei stellt das Gericht die Angemessenheit der Vergütung zur Disposition der Gesetzgebung, indem es sie mit den durch die Vergütung verfolgten Zwecken verknüpft, ohne gleichzeitig eine ausreichende verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Zwecke zu gewährleisten.
Nun ist, wie bereits 1998, die Gesetzgebung am Zug. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, spätestens bis zum 30.6.2025, gelten die landesrechtlichen Paragrafen zur Gefangenenarbeit weiter. Es bleibt abzuwarten, ob sie den ihr durch das BVerfG zugestandenen weiten Gestaltungsspielraum dazu nutzen wird, eine gerechte Vergütung der im Strafvollzug geleisteten Arbeit gesetzlich zu verankern.
Was mich immer umhaut bei diesen BVerfG-Entscheidungen: “Das Gesetz und die Praxis verstoßen gegen die Menschenwürde, aber macht ruhig noch zwei Jahre weiter so.”