„Privilegien“ für einige oder Lockdown für alle?
Coronaimpfung – offene Verfassungsrechtsfragen
Am 27.12.2020 hat die systematische Impfung gegen das Coronavirus begonnen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellen sich mehrere Fragen, die ihren gemeinsamen Grund darin finden, dass zumindest vorerst zu wenig Impfstoff zur Verfügung steht und daher Priorisierungsentscheidungen getroffen werden müssen. Ungeklärt ist bislang insbesondere, ob es dafür statt einer bloßen Rechtsverordnung eines Parlamentsgesetzes bedürfte und ob die in der Coronavirus-Impfverordnung vorgesehene Impfpriorisierung materiell dem Gleichbehandlungsgrundsatz gerecht wird.
Ein weiteres zentrales Problem betrifft die Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen. Dürfen geimpften Personen Möglichkeiten eines „normaleren“ Lebens eingeräumt werden, die man nicht geimpften Personen (noch) vorenthält? Etwa eine Flugreise, der Besuch sportlicher oder kultureller Veranstaltungen, der Zugang zu Schulen, Hochschulen, Restaurants, Schwimmbädern oder Fitnessstudios? Oder darf oder muss der Staat jegliche Differenzierung verbieten und den Lockdown damit für alle bis zur (möglicherweise gar nicht erreichbaren) Herdenimmunität, aufrechterhalten?
Moralisierung der Diskussion – kollektive Selbstkasteiung als Ausdruck von Solidarität?
Noch ehe die erste Impfung verabreicht war, entbrannte die Diskussion um eine Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen. Sie hat eine geradezu ideologische Dimension erreicht. Bereits die manipulative Wortwahl zeigt eine stark moralisierende Haltung derjenigen, die „Sonderrechte“ (Seehofer) oder „Privilegien“ (Spahn) geimpfter Personen ablehnen.
Im Zentrum steht dabei der Begriff der Solidarität. Besonders der Gesundheitsminister vertritt die These, die geimpften Personen müssten mit den nicht geimpften Personen solidarisch sein und auf Möglichkeiten verzichten, weil auch die letzteren den ersteren gegenüber durch die Einräumung von Priorität bei der Impfung Solidarität gezeigt hätten. Diese Sichtweise ist schon deswegen erstaunlich, weil die Priorität der vorrangig zu impfenden Personen keineswegs auf einem Solidarakt der nachrangig impfberechtigten Personen beruht, sondern auf einem Dekret des Gesundheitsministers selbst, das schlicht rechtlich zu dulden ist. „Solidarität“ dient dem Bundesgesundheitsminister der moralischen Überhöhung eigener politischer und rechtlicher Entscheidungen. Lässt man sich gleichwohl darauf ein und denkt die Spahn´sche Solidaritätsthese konsequent weiter, so dürfte eine Teilhabe geimpfter Personen an einem normalen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen – kurz öffentlichen – Leben erst wieder möglich sein, wenn die Herdenimmunität gegeben ist. Das könnte im Ergebnis bedeuten: Monatelanger Lockdown für alle, bis etwa 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Oder salopp formuliert: Solange nicht alle wieder ins Theater, Schwimmbad und Restaurant dürfen, soll es niemand dürfen.
Abgesehen davon, dass ein solches Verständnis von Solidarität einen nachgerade selbstzerstörerischen Zug von Kollektivkasteiung in sich birgt, der eine Gesellschaft nicht einen, sondern spalten würde (gerade vor dem Hintergrund, dass sich ein erheblicher Prozentsatz der Bevölkerung nicht impfen lassen will oder kann) handelt es sich um eine sehr einseitige Vorstellung von Solidarität, die auch wirtschaftlich nicht durchzuhalten ist. Bereits begrifflich mag nicht einleuchten, weshalb es „solidarisch“ sein soll, deswegen auf einen Theaterbesuch zu verzichten, weil andere Personen das Theater (noch) nicht besuchen können. Ist der Satz „was nicht alle haben können, soll niemand haben“ Ausdruck von Solidarität? Kein Mensch käme ernsthaft auf den Gedanken, ein solches „Prinzip“ in anderen Kontexten zur Anwendung kommen zu lassen, etwa im Organspenderecht, bei der Studienplatzvergabe oder bei der Allokation knapper Rettungsmittel im Rahmen der Triage. Und in der Sache: Was ist mit der Solidarität gegenüber Kulturschaffenden oder Restaurantbetreibern, die deswegen niemanden unterhalten oder bewirten dürfen, weil sie nicht alle unterhalten und bewirten dürfen und deswegen wirtschaftlich nicht überleben? Die bisherige Diskussion zeigt: Moral und unreflektierter Gebrauch moralisch aufgeladener Begriffe und Kategorien sind schlechte Ratgeber in der Krise. Mit Solidarität kann man politisch alles begründen – es kommt nur darauf an, welche Bezugsgruppen man wählt und wie man den Begriff inhaltlich anreichert.
Betrachten wir die Sache daher nicht aus moralischer, sondern aus verfassungsrechtlicher Perspektive. Es zeigt sich, dass die Angelegenheit nicht so einfach ist, dass aber plausible und pragmatische Antworten jenseits moralischer Metaphysik möglich sind. Dazu ist es vor allem notwendig, Ordnung in die aktuelle Diskussion zu bringen, in der Probleme miteinander vermengt werden, die voneinander zu trennen sind. Man muss jedenfalls folgende drei Fragen unterscheiden:
- Darf der Staat im Rahmen seiner Tätigkeit, Angebote und Dienstleistungen zwischen Personen, die geimpft sind, und solchen, die es nicht sind, differenzieren?
- Darf ein privater Dritter (nachfolgend: Privater) zwischen geimpften und nicht geimpften Personen differenzieren?
- Darf der Staat einen Privaten verpflichten, zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zu differenzieren?
1. Differenzierung durch den Staat selbst
Differenzierungen nach dem Impfstatus durch den Staat selbst dürften schwer zu rechtfertigen sein. Zwar mag die Tatsache der Impfung und der damit verbundenen Immunität ein sachgerechtes Differenzierungskriterium sein, das auch kein absolutes Differenzierungsverbot im Sinn des Art. 3 Abs. 3 GG auslöst. Stellt man aber – wie im Rahmen der Differenzierung nach Personengruppen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heute üblich – zusätzlich Verhältnismäßigkeitserwägungen an, so wird man durchweg zur Rechtswidrigkeit impfstatusbezogener Ungleichbehandlung durch den Staat gelangen müssen.
Denn bevor der Staat den Zugang zu Behörden für nicht geimpfte Personen sperrt oder beschränkt, bevor er nur geimpfte Schülerinnen und Schüler in die öffentlichen Schulen und nur geimpfte Studierende in Hochschulen und Bibliotheken lässt, bevor er nur geimpften Personen Zugang zu staatlichen (gleiches gilt für kommunale) Einrichtungen wie Theater, Museen oder Sporteinrichtungen gewährt, wird er mildere Mittel wählen und geeignete Hygienekonzepte implementieren müssen. Jedenfalls die Anwendung von Corona-Schnelltests ist ein gleich geeignetes, milderes Mittel, so dass die Differenzierung nach dem Impfstatus nicht erforderlich und daher rechtswidrig wäre. Keinesfalls kann es angehen, sämtliche solcher Einrichtungen – wie derzeit – einfach zu schließen und eine Öffnung mit dem Argument abzulehnen, es seien noch nicht alle Menschen geimpft. Jedenfalls ist die Unzulässigkeit einer staatlichen Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen für den Staat kein Persilschein dafür, sich nicht um effektive Hygienekonzepte (zumal in Schulen und Hochschulen) zu kümmern und stattdessen die Einrichtungen schlicht zu schließen. Sollte – was hier nicht unterstellt wird – die Unzulässigkeit einer Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zum Vorwand einer dauerhaften Schließung für alle genommen werden, so kann dies weder rechtlich hingenommen noch politisch akzeptiert werden.
2. Differenzierung durch Private
Anders ist die rechtliche Situation im Privatbereich. Private sind grundrechtsberechtigt und können im Rahmen der allgemeinen Handlungs- und Vertragsfreiheit Kontakte pflegen und Verträge schließen, mit wem sie wollen. Es ist die freie, rechtliche ungebundene Entscheidung des Einzelnen, ob er sich nur mit geimpften Personen treffen will. Der Betreiber eines Restaurants, einer Kultur- oder Sporteinrichtung kann im Rahmen der Privatautonomie entscheiden, dass er nur geimpfte Personen in seiner Einrichtung zulassen will. Er darf sogar damit werben. In einer solchen Differenzierung liegt kein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Dieses ist nach seinem § 1 nur auf Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität anwendbar. Der Impfstatus unterfällt keiner der dort genannten Kategorien. Das Nichtgeimpftsein ist keine „Behinderung“. Ob ein – ebenfalls aktuell diskutiertes – ausdrückliches gesetzliches Verbot einer Differenzierung nach dem Impfstatus im Privatrechtsbereich verfassungskonform wäre, ist mindestens zweifelhaft, bedürfte aber eigener Prüfung. Unabhängig davon hat das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten Stadionentscheidung (BVerfGE 148, 267) anerkannt, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in besonderen Konstellationen auch unter Privaten Bedeutung entfalten kann. Dies kann etwa bei Monopolanbietern (wozu in Deutschland faktisch wohl die Lufthansa zu rechnen ist) oder bei Massenveranstaltungen angenommen werden, bei denen Personen grundsätzlich ohne Ansehung bestimmter Kriterien zugelassen werden (zum Beispiel im Fußballstadion oder Einkaufszentrum, nicht jedoch in Restaurants). Ein Privater hat in solchen Ausnahmekonstellationen Art. 3 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Damit wäre eine Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zwar nicht ausgeschlossen, jedoch auch nicht – wie bei normalen Privaten – ohne Weiteres zulässig. Denn es sind zusätzlich Verhältnismäßigkeitserwägungen anzustellen. Auch hier wären vor einem Ausschluss nicht geimpfter Personen mildere Mittel anzuwenden (zum Beispiel Schnelltests, Hygieneauflagen für die Besucher).
3. Differenzierung durch Private aufgrund staatlicher Vorgabe
Die Konstellation, dass der Staat – etwa in einer auf §§ 28, 32 Infektionsschutzgesetz gestützten Verordnung – den Betrieb von Einrichtungen (wieder) zulässt, die privaten Betreiber aber dazu verpflichtet, nur geimpfte Personen zuzulassen, ist am schwierigsten zu beurteilen. Aber auch sie lässt sich sachgerecht und diskriminierungsfrei lösen, indem der Zugang nicht nur an ein Impftestat gebunden wird, sondern auch dann möglich ist, wenn ein negativer Schnelltest vorgelegt und zugleich ein modernes Hygienekonzept implementiert wird. Wer (noch) nicht geimpft ist oder sich nicht impfen lassen will, würde in einem solchen Konzept nicht diskriminiert oder einem faktischen Impfzwang ausgesetzt. Es würde zudem den Weg aus dem Lockdown weisen: Geschäfte, Restaurants, Sport- oder Kultureinrichtungen etc. können wieder geöffnet werden, wenn (1) ein modernes Hygienekonzept vorliegt (worin bereits viel Expertise besteht) und (2) die Besucher einen Impfnachweis vorlegen. Der Impfnachweis kann durch einen aktuellen negativen Coronatest ersetzt werden.
Angesichts der massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen und wirtschaftlichen wie psychischen Schäden, die mit der Stilllegung nahezu des gesamten öffentlichen Lebens verbunden sind, ist der Staat verpflichtet, ein solches Konzept zu verfolgen – es wäre das mildere, gleich geeignete Mittel gegenüber dem jetzigen Zustand. Keinesfalls darf man dem Staat hier die Diskriminierungsausrede zugestehen, die man aus den aktuellen Äußerungen von Politikern deutlich heraushört und die lautet: Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens müssten aufrechterhalten werden, weil es unzulässig sei, zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zu differenzieren und darin eine Diskriminierung läge. Das hieße: Lockdown für alle auf nicht absehbare Zeit.
Fazit
Noch sind erst wenige Menschen gegen das Coronavirus geimpft. Die Frage nach einer Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen stellt sich zur Stunde praktisch noch nicht. Das wird sich aber mit zunehmender Zahl an Impfungen ändern, weshalb das Problem jetzt diskutiert werden muss. Zu dessen Lösung sind unpassende Moralisierungen wie etwa die Anrufung der Solidarität ebenso untauglich wie der Ruf nach gesetzlichen Verboten. Es ist vielmehr erforderlich, die einschlägigen Konstellationen sauber zu trennen und (verfassungs-)rechtlich zu würdigen. Dies führt zu vertretbaren und hoffentlich auch befriedenden Lösungsmöglichkeiten.
Ich vermisse im Artikel ehrlich gesagt bei der Prüfung die AGB Kontrolle nach 305ff. BGB und dabei sowohl insbesondere Inhalts- und Transparenzkontrolle. Schließlich hätte ich auch noch eine Auseinandersetzung mit Art.9 DSGVO und 22 BDSG begrüßt, da es nunmal auch um die Verarbeitung von Gesumdheitsdaten geht. Die Prüfung des AGG reicht deshalb für ein fundiertes Prüfungsergebnis m.E. nicht aus.
Vielen Dank für diesen sehr erhellenden Beitrag!
Neben Schnelltests wären vermutlich auch seit einigen Monaten die immer größer werdende Gruppe der nachweislich bereits an Covid-19 erkrankten und inzwischen wieder genesenen Menschen in die Überlegungen einzubeziehen.
Es sollte m.E. bedacht und diskutiert werden, inwieweit die Auffassung des Verfassers zu Ziffer 2 als aber auch im Fazit zutreffend sein kann!
Aus hiesiger Sicht findet privatautonomes Handeln ebenfalls im Rahmen der FDGO einen Rechtsrahmenn den es einzuhalten gilt. Ich verweise hier einmal auf die Grundzüge des Arbeitsrechtes und z.B. auch die Grundzüge des Mietrechtes! Das zeigt, dass Verhältnismäßigkeits-erwägungen einen angemessenen Interessenabgleich durch gesetzliche Ordnung im Interesse der Schwächeren notwendig machen.
Vielen Dank für den sehr pointierten und instruktiven Beitrag!
Gerade der Problemkreis “Differenzierung durch Private” wird – sei es auch nur durch informales Verwaltungshandeln – m.E. stark vom Schicksal staatlicher Interaktionen abhängen.
Neben den von Ihnen angesprochenen Drittwirkungsfällen dürfte sich wohl fernerhin die im Ergebnis selbe Herausforderung bei vertraglichen Zutrittsansprüchen (Dauerkarte Freizeitveranstaltung, Fitnessstudiovertrag etc.). Auch hier wird es – etwa durch ein Hausverbot – schwierig,