27 March 2020

Rausgehen erlaubt. Aber bitte nicht liegen!

In jedem guten Weltuntergangsfilm kommt es irgendwann zum monumentalen Endkampf zwischen zwei stählernen Kraftpaketen, in der Regel Held gegen Oberschurke. In der proto-apokalyptischen Bundesrepublik war es am vergangenen Sonntag so weit, als Söder und Laschet tobend und rasend ineinander krachten, coronabedingt allerdings nur fernmündlich (über die Verteilung der Rollen ‚gut‘ und ‚böse‘ mag ein jeder selbst befinden).

Die Antagonisten erschienen unversöhnlich: Ausgangsbeschränker vs. Kontaktverbieter, rigorose Health-and-Order-Politik gegen Gesundheitsschutz mit Augenmaß, quasi-kriegsrechtliche Grundrechtsniederwalzung gegen freiheitsschonende Punktgenauigkeit, ordnungsrechtliche Bazooka gegen fein ziselierendes Maßnahmenskalpell.

Gottlob setzte die Kanzlerin noch einen Schiedsspruch ab, bevor sie sich in Quarantäne begab. Seither heißt es in den Bund-Länder-Leitlinien unter dem in der Sache entscheidenden Punkt: „Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet.“ Mit dem verschärften Kontaktverbot (in dem – durch die yellow press zirkulierten, wohl authentischen – Laschet-Papier war noch vom Verbot von „Ansammlunge[n] und Zusammenkünfte[n] im öffentlichen Raum von mehr als 5 Personen“ die Rede) schien eine beidseitige Gesichtswahrung möglich. Laschet konnte sich in seiner Lieblingsformel zur Corona-Eindämmung („Dies erreichen Kontaktverbote zielgerichteter als Ausgangssperren“) bestätigt sehen, denn der Ausgang an sich stellte sich gerade nicht als Regulierungsgegenstand des verabredeten Bund-Länder-Verbotsminimums dar. Die bayerische Sichtweise, wonach der Ausgang nur mit einem triftigen Grund erlaubt sein soll, worunter auch die Ausübung von „Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung“ fällt, schien umgekehrt in der Sache nur minimal variiert, wurde doch das Betreten des öffentlichen Raums in den Leitlinien darüber hinaus nur mit einer einzigen hausstandsfremden Begleitperson als maximal erlaubbar definiert.

Der Bundeskrieg zwischen Kontaktverbietern und Ausgangsbeschränkern, zu denen sich dann auch das Saarland und Sachsen zählten, blieb aus. (Baden-Württemberg nahm eine Sonderrolle ein, da es das Laschet-Papier nicht stützte, gleichwohl am Ende nicht den Ausgang ins Freie, sondern allein den kontaktreichen Aufenthalt im Freien durch die wörtliche Übernahme der Leitlinienformulierung verbot.) 

Das Handtuch-Problem

Auch der Regierende Bürgermeister hat sich stets kritisch zu „Ausgangssperren“ geäußert, in der auf Grundlage der Bund-Länder-Leitlinien novellierten Berliner Coronavirus-Eindämmungsverordnung ist der einschlägige § 14 denn auch mit dem feinsinnigen Terminus „Kontaktbeschränkungen“ überschrieben, ein Begriff, den der Regierende in seiner gestrigen Erklärung vor dem Abgeordnetenhaus dreimal (davon zweimal: „Kontakteinschränkung“) referierte. Der liberale Geist des Laschet-Papiers, in dem es gleich zu Anfang heißt, dass „[n]icht das Verlassen der Wohnung […] die Gefahr“ und „Bewegung im Freien an der frischen Luft“ schon aus medizinischen Gründen zu ermöglichen sei (als wäre dies in Bayern verboten), scheint vordergründig auch in Berlin zu sprühen, hat sich hier allerdings offenbar infolge Durchmischung mit der Berliner Luft eigenartig verflüchtigt.

Wie zu lesen ist, subsumiert die Berliner Polizei auch das Sonnenbaden unter § 14 der Berliner Verordnung und dies ganz unabhängig davon, ob eine Einzelperson, ein Hausstand oder eine Einzelperson zusammen mit einer Begleitperson im Tiergarten auf der Bastmatte liegt. Und die Berliner Polizeipräsidentin beschreibt die Scheidelinie zwischen Erlaubtem und Verbotenem wie folgt: „Alles was aber dem längeren Aufenthalt dienen soll, wie das Ausbreiten eines Handtuchs, ist nicht zulässig und wird von den Einsatzkräften angesprochen und als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.“

Man könnte fast meinen, hier habe ein weiteres Dogma aus dem Laschet-Papier Pate gestanden: „Die Gefahr geht nicht von der individuellen Bewegungsfreiheit aus.“ Ironisch gesprochen: Um eine Ausgehbeschränkung handelt es sich hier nun wirklich nicht, eher um ein Gebot, im Freien in Bewegung zu bleiben: gehen ja, liegen nein, und stehen ist vermutlich ein Graubereich.

Unechte Kontaktverbote und waschechte Ausgangs­beschränkungen

Der Hintergrund der Berliner Corona-Eindämmungsverwirrung ist freilich ein ernster. § 14 der besagten Verordnung ist nämlich gar keine Kontakt- sondern eine waschechte Ausgangsbeschränkungsregelung.

Tatsächlich ordnet dessen Absatz 1 an, dass alle in Berlin befindlichen Personen sich „ständig in ihrer Wohnung oder ihrer gewöhnlichen Unterkunft aufzuhalten“ haben. Abs. 3 zählt dann die einzelnen Gründe auf, die ein Verlassen der Wohnung rechtfertigen und gem. Abs. 2 gegenüber Polizei und Ordnungsbehörden glaubhaft zu machen sind. Das Handtuchproblem resultiert aus § 14 Abs. 3 lit. i), wonach „Sport und Bewegung an der frischen Luft, alleine, mit Angehörigen des eigenen Haushalts oder mit einer anderen Person, ohne jede sonstige Gruppenbildung“ erlaubt sind, worunter das auf körperliche Inaktivität abzielende Sonnenbaden offenkundig nicht fällt. Abgesehen vom Einschub „oder mit einer anderen Person“ entspricht dies nahezu wortgleich der bayerischen Regelung.

Noch verwirrender ist die Rechtslage in Niedersachsen. Man könnte fast meinen, der niedersächsische Staat, der hier zuständiger Leviathan ist, litte an einer Art gespaltener Rechtspersönlichkeit.

Die Allgemeinverfügung, die das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung im Anschluss an die Bund-Länder-Leitlinien erlassen hat, trägt den hübschen Namen „Soziale Kontakte vermeiden – anlässlich der Corona-Pandemie“ und rezitiert in einer Art Präambel zentrale Passagen des Laschet-Papiers. Da auch nach Ansicht der obersten Infektionsschutzbehörde in Niedersachsen „nicht das Verlassen der Wohnung […] die Gefahr“ darstellt sondern „der häufige unmittelbare soziale Kontakt“, heißt es unter Ziff. 2.b der Verfügung ganz folgerichtig: „Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist Einzelpersonen gestattet. Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum sind auf höchstens zwei Personen beschränkt, ausgenommen von dieser Beschränkung sind Angehörige und Personen, die in einer gemeinsamen Wohnung leben.“

Kontaktbeschränkung par excellence, könnte man meinen. Allerdings wurde unter Ziff. 3 (zunächst) weiter verfügt, dass „[n]otwendige Tätigkeiten und Verrichtungen […] weiterhin zulässig“ sind, wozu gem. lit. a) „die körperliche und sportliche Betätigung im Freien“ zählt. Zieht man beide Regelungsbestandteile der hybriden Verfügung zusammen, so wird man wohl sagen müssen, dass nur der körperlich und sportlich betätigende Aufenthalt einer maximalen Personenmenge hiernach erlaubt ist. Am Ende ist also auch in Niedersachsen der außerhäusliche Aufenthalt vom positiven Vorhandensein eines bestimmten Grundes abhängig: eine unechte Kontaktbeschränkung.

Tatsächlich entsprechen auch die Ziff. 3 lit. b-h) der niedersächsischen Verfügung recht genau den „triftigen Gründen“, wie sie in Ziff. 5 lit. a-f, h) der bayerischen Allgemeinverfügung, die ja als Ausgangsbeschränkung firmiert. Auch in der niedersächsischen Sonne dürfte danach somit kontaktfrei nicht gelegen werden und dies, obwohl das Verlassen der Wohnung nach dem Vorspruch der Verfügung doch gar nicht als regulierungsbedürftiges, nur zu bestimmten Zwecken zu erlaubendes gefahrgeneigtes Verhalten anzusehen sein soll.

Da der Ministerpräsident sich im Vorfeld als Kritiker einer Ausgangsbeschränkung, sein Stellvertreter hingegen als deren Verfechter hervorgetan hat, mag man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei die normative Kompilation unterschiedlicher Textbausteine sowohl aus dem Laschet-Papier als auch aus der bayerischen Ausgangsregelung der einzige Weg gewesen, um den Koalitionsfrieden in Hannover nicht zu gefährden.

Allerdings, und hier wird es geradezu bizarr, findet sich der Passus „Notwendige Tätigkeiten und Verrichtungen sind weiterhin zulässig“ nur in der ersten Fassung der Verfügung vom 22. März, in der korrigierten Fassung vom 23. März werden die Betretensgründe mit der Wendung „Insbesondere sind weiterhin zulässig“ eingeleitet, was die widerspruchsvolle Regelung womöglich ein wenig entschärft. (Das Problem bleibt aber bestehen, auch in § 14 Abs. 3 der Berliner Verordnung ist von „insbesondere“ die Rede).

Der unterm Strich gleichwohl immer noch äußerst inkonsistente Regelungsgehalt der niedersächsischen Verfügung sagt viel aus über die Art und Weise, wie bundesweit versucht wurde, politisch bis dato Undenkbares eilfertig in eine rechtliche Form zu gießen. Obgleich ins Lager der bloßen Kontaktbeschränker zählend, hat man in Niedersachsen bei näherem Hinsehen eine Ausgangsbeschränkung mit begrenzter Kontakterlaubnis erlassen. Echte Kontaktverbote im Sinne der grundsätzlichen Beschränkung von Ansammlungen auf zwei Personen, ausgenommen Haushaltsmitglieder, finden sich etwa in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein oder Hamburg.

Zum Teil wird die Aufenthaltsbeschränkung einfach zusammen mit den erlaubten Betretungszwecken aufgeführt, so etwa in § 1a Abs. 2 (Kontaktverbot) der SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung in Mecklenburg-Vorpommern: „Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstandes gestattet. Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe, Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und Prüfungen, Hilfe für andere oder individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben weiter möglich.“ Man mag Satz 2 hier als deklaratorische Klarstellung zu Satz 1 auffassen, das Problem des stationären kontaktlosen bzw. kontaktarmen Aufenthalts im Freien bleibt freilich ungelöst.

Verordnung oder Verfügung? Eine Frage der Verkündungstechnik

Als weiteres Indiz dafür, dass die verschiedenen Landesregelungen mit heißer Nadel gestrickt wurden, lässt sich der Umstand heranziehen, dass die stets das gesamte Landesgebiet betreffenden Kontakt- bzw. Ausgangsbeschränkungen zum Teil als Allgemeinverfügung und zum Teil als Rechtsverordnung erlassen wurden.

Im ersten Fall fungiert § 28 Abs. 1 IfSG allein, im zweiten Fall in Verbindung mit § 32 IfSG als Rechtsgrundlage (zum Streit über die Tauglichkeit des § 28 IfSG als Grundlage überhaupt hier, hier und hier). Während in Niedersachsen also das Landesgesundheitsministerium als zuständige Fachaufsichtsbehörde im Wege eines außerordentlichen Selbsteintritts (§ 102 Abs. 1 S. 1 NPOG) die nämliche Beschränkungsregelung gem. § 28 Abs. 1 verfügte, hat der Berliner Senat seine Kontaktbeschränkungen auf Grundlage von § 32 IfSG verordnet.

Diese Diskrepanz zeigt sich auch andernorts: Während in Bayern ebenfalls per Verwaltungsakt reguliert wird, hat auch Baden-Württemberg das Medium des materiellen Gesetzes gewählt; die Reihe lässt sich weiter fortsetzen.

Bekanntlich zeichnet sich die Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 VwVfG dadurch aus, dass eine konkret-generelle Regelung getroffen wird, wohingegen der Normcharakter der Rechtsverordnung gerade daher rührt, dass abstrakt-generelle Anordnungen getroffen werden. Bereits beim Paradebeispiel des § 35 S. 2 VwVfG, dem Halteverbotsschild, ist nicht ganz klar, was hier konkret sein soll, denn infolge der Unbestimmtheit der Adressaten beim Aufstellen des Schildes liegt streng genommen nicht ein zu regelnder Sachverhalt vor, sondern wird eine noch unbestimmte Vielzahl zu regelnder Sachverhalte erfasst. Man behilft sich hier üblicherweise damit, dass eine konkrete räumliche Situation geregelt wird (der konkrete Straßenrand, an dem das Halteverbotsschild aufgestellt ist), aber was an der niedersächsischen oder bayerischen Regelung, wo jeweils das gesamte Landesgebiet in Bezug genommen wird, sollte noch konkret-generellen Inhalts sein?

Vermutlich haben für die Wahl des Regulierungsmediums derartige dogmatische Erwägungen auch gar keine Rolle gespielt sondern vielmehr, ob eine rasche Inkraftsetzung durch öffentliche Bekanntmachung im Internet durch Verordnung im jeweiligen Land möglich ist oder nicht. Während etwa § 2 Abs. 1 des Berliner Verkündungsgesetzes genauso wie § 4 des baden-württembergischen Verkündungsgesetzes und § 6 des rheinland-pfälzischen Verkündungsgesetzes eine Notverkündung auf diesem Wege zulässt, ist dem niedersächsischen Recht dergleichen grundsätzlich fremd; Art. 44 i.V.m. Art. 45 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung sieht so etwas allein für Notverordnungen, mit denen bei Handlungsunfähigkeit des Landtags Gesetze ausnahmsweise durch die Landesregierung erlassen werden können, vor.

Wie auch bei § 1 Abs. 3 des niedersächsischen Gesetzes der Fall, erlaubt § 1 Abs. 2 S. 1 des saarländischen Verkündungsgesetzes eine Verordnungsverkündung außerhalb des Amtsblatts nur, wenn das ermächtigende Gesetz dies vorsieht, was bei § 32 IfSG nicht der Fall ist; entsprechend war die ad-hoc-Inkraftsetzung der saarländischen Ausgangsbeschränkung wie auch in Niedersachsen nur als Allgemeinverfügung möglich, denn hierfür greift § 41 Abs. 3 S. 2 VwVfG.

Dass die adäquate rechtliche Handlungsform hier also offenbar nicht aus dogmatisch-kategorialen, sondern aus verkündungstechnischen Erwägungen heraus ausgewählt wurde und allein deswegen teils als Rechtsetzung und teils als Rechtsvollzug erscheint, komplettiert das Bild ereignisgetriebener Landesregulierung auf dem Gebiet sozialer Kontaktbeschränkung.

Es mögen sich derzeit schwerwiegendere rechtsstaatliche Probleme abzeichnen als dieses, materielle und formale Ungenauigkeiten wiegen angesichts der Eingriffstiefe der einschlägigen Regelungen allerdings besonders schwer. Wenigstens die notorischen Föderalismusskeptikern können durchaus beruhigt sein: Die landesübergreifende Zirkulation ausgangs- bzw. kontaktbeschränkender Regelungstextbausteine erlaubt anstelle des gefürchteten ‚Flickenteppichs‘ ein – fast – einheitliches social-distancing-Regime.