Allein im öffentlichen Raum
Social Distancing zwischen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot
Die Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des sog. COVID-19-Virus hat bundesweit bereits zu einer Vielzahl staatlicher Maßnahmen geführt, die das öffentliche Leben erheblich einschränken. Die Folgen für die Grundrechtsausübung im öffentlichen Raum sind gravierend; partiell wird – rhetorisch wohl überzogen – selbst von einzelnen Verfassungsorganen der Länder von einer (teilweisen) „Außerkraftsetzung“ von Grundrechten gesprochen. Dabei lohnt es sich, die verschiedenen Maßnahmen der Länder vergleichend in den Blick zu nehmen, da sich diese in Regelungsintention und Auswirkungen auf die grundrechtlichen Freiheiten z.T. deutlich unterscheiden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die unterschiedlichen Ansätze der Länder, um das von medizinischen Fachleuten dringend angeratene social distancing im öffentlichen Raum durchzusetzen und Gruppenaktivitäten im öffentlichen Raum zu unterbinden. Das Vorpreschen Bayerns (dem sich Sachsen nun anschließen will), eine eingeschränkte Ausgangssperre zu verhängen, ist dabei nicht unmittelbar auf die von einem engen Kontakt in der Öffentlichkeit ausgehende Infektionsgefahr fokussiert. Vielmehr erscheint die als „Kontaktverbot“ bezeichnete Untersagung der Zusammenkunft mehrerer Personen im öffentlichen Raum, auf die sich die Länder in der heutigen Videokonferenz geeinigt haben, jedenfalls für den Moment als das präzisere und zugleich grundrechtsschonendere Mittel, social distancing im öffentlichen Raum durchzusetzen.
Ausgangssperre ist nicht gleich Ausgangssperre
Die mittlerweile ergriffenen Maßnahmen unterscheiden sich ganz wesentlich in ihrer Bezeichnung und ihrer Grundausrichtung sowie ihrer Eingriffsintensität. Das Landratsamt Tirschenreuth untersagte zuerst in der hier bereits besprochenen Allgemeinverfügung das Verlassen der eigenen Wohnung „ohne triftigen Grund“. Diese Regelungskonzeption mit einem wohl nicht abschließenden Ausnahmenkatalog („insbesondere“) gilt seit dem 21.3.2020 für ganz Bayern. Darin liegt ein zielgerichteter erheblicher Eingriff in die Bewegungsfreiheit der betroffenen Bürger:innen, der am „klassischen“ Regelungsgehalt einer Ausgangssperre ansetzt.
Mit einem etwas anderen Ansatz untersagt die Stadt Freiburg in ihrer Allgemeinverfügung vom 20.3.2020 das Betreten „öffentlicher Orte“, zu denen insbesondere Straßen, Wege, Gehwege, Plätze, öffentliche Grünflächen und Parkanlagen gehören. Auch hier knüpft die Regelung an die Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Adressaten an und kommt einer partiellen Ausgangssperre jedenfalls nahe. Regelungstechnisch liegt der Allgemeinverfügung ebenfalls eine Regel-Ausnahme-Struktur zugrunde: das Betreten öffentlicher Orte ist grundsätzlich untersagt. Damit bleibt zwar der Aufenthalt im Freien auf privaten Flächen zulässig, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist gleichwohl intensiv.
Von „klassischen“ Ausgangssperren unterscheiden sich die genannten Regelungen – auch wenn sie teilweise ausdrücklich als solche bezeichnet werden – trotz allem erheblich. Denn alle Regelungen sehen bislang einen breiten Ausnahmenkatalog vor, der das Betreten des öffentlichen Raums in vielfältigen Situationen zulässt, etwa zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten, zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen (und ähnlicher Dienstleistungen), für Versorgungsgänge des täglichen Bedarfs, zum Besuch nahestehender Personen und anderer bestimmter Personengruppen sowie zur Versorgung von Tieren. Daneben ist ein Aufenthalt im Freien (z.B. für Sport und Bewegung an der frischen Luft) zulässig, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung. In Freiburg ist daneben der Aufenthalt an öffentlichen Orten auch mit einer weiteren Person, die nicht im gemeinsamen Haushalt lebt, erlaubt. Von einer Ausgangssperre sind die Regelungen damit weit entfernt; sie enthalten – wie es die bayerische Regelung zutreffend benennt – Ausgangsbeschränkungen, die die Bewegungsfreiheit des Einzelnen zwar erheblich einschränken, aber eben doch nicht flächendeckend ausschließen (zum gegenüber „klassischen“ Ausgangssperren geringeren Wirkrahmen schon hier) .
Kontaktverbote als (einstweilen) vorzugswürdige Lösung?
Soweit sich in den letzten Tagen insbesondere Gruppenaktivitäten im öffentlichen Raum mit Blick auf das Ziel des social distancing als problematisch erwiesen haben, erscheint die regelhafte Beschränkung der Bewegungsfreiheit durch Ausgangsbeschränkungen gleichwohl sehr weitgehend. Als sinnvolle und präzise auf die Problemlage zugeschnittene Alternative gehen andere Länder dazu über, kleinere Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit zu untersagen (für die bessere Passgenauigkeit eines solchen Regelungsansatzes auch hier). Dies erweitert bereits flächendeckend erlassene Verbote größerer Veranstaltungen und nimmt entsprechende Regelungsansätze in einzelnen Gemeinden auf (vgl. Allgemeinverfügung der Stadt Leverkusen vom 19.3.2020).
Die Regelungen verbieten Zusammenkünfte einer bestimmten Anzahl von Personen unter freiem Himmel. Hinsichtlich der zulässigen Anzahl bestand föderale Vielfalt: Teilweise ist bereits die Zusammenkunft von zwei oder mehr Personen untersagt (so in Leverkusen), andernorts von mehr als drei Personen (so in Baden-Württemberg), von mehr als fünf Personen (so in Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein) oder mehr als sechs Personen (so in Hamburg). Die Bestimmungen sehen weit überwiegend Ausnahmen vor, wobei die Ausnahmemöglichkeiten umso weiter gefasst sind, je geringer die zulässige Größe der Ansammlung ist (keine Ausnahmen gibt es allerdings in Rheinland-Pfalz). In personeller Hinsicht sind auch größere Zusammenkünfte zulässig, soweit die Personengruppe dadurch verbunden ist, dass sie in ständiger häuslicher Gemeinschaft miteinander lebt (z.B. Familien, ständige Wohngemeinschaften). In sachlicher Hinsicht sind Ausnahmen z.B. vorgesehen, wenn die Zusammenkunft bei der Erledigung von Besorgungen zur Deckung des täglichen Bedarfs unvermeidbar (z.B. Warteschlagen) ist oder aus zwingenden beruflichen Gründen erfolgt. Die Bundesregierung hat sich jetzt mit den Ländern darauf verständigt, dass der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur alleine oder mit einer weiteren Person gestattet ist; auch sollen Ausnahmen für Angehörige des eigenen Haushalts, den Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, sowie für die Teilnahme an erforderlichen Terminen vorgesehen werden.
Nicht davon erfasst sind natürlich „Corona-Parties“ in geschlossenen Räumen. Insofern dürfte jedenfalls in vielen Fällen das gleichzeitig bestehende Verbot „nicht öffentlicher Veranstaltungen“ (vgl. in Nordrhein-Westfalen etwa hier) greifen. Wird es nicht beachtet, können die Behörden im Einzelfall nach allgemeinen gefahrenabwehrrechtlichen Regelungen einschreiten. Kleinere gesellige Abendessen daheim dürften noch nicht erfasst sein und müssten gegebenenfalls gesondert geregelt werden.
Kontaktverbote erscheinen für die zu adressierenden Problemlagen für den Moment auch deshalb vorzugswürdig, weil sie im Vergleich zu Ausgangsbeschränkungen eine verringerte Eingriffsintensität aufweisen. Sieht man einmal von beruflich veranlassten Zusammenkünften in der Öffentlichkeit ab (dazu gibt es teilweise Ausnahmen, s.o.), ist in erster Linie das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen. Schon dies erweist sich als erheblicher Unterschied zu ausgangsbeschränkenden Maßnahmen, die das Verbleiben im häuslichen Bereich zum Regelzustand machen und eine Vielzahl speziellerer Grundrechte (insbes. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG) betreffen können. Kontaktverbote knüpfen nicht an die Beschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit an, sondern lassen diese für sich genommen unangetastet; untersagt wird vielmehr ein (planvolles) Zusammentreffen mit anderen in der Öffentlichkeit. Ein grundsätzliches Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen bzw. den öffentlichen Raum zu betreten, besteht nicht; Aktivitäten im Freien, die individuell bzw. in Kleingruppen (bzw. im Familien- oder Hausgemeinschaftsverbund) ausgeführt werden können (joggen, spazieren, sonnen etc.), sind weiterhin möglich.
Zwar bleibt die Eingriffsintensität auch der Kontaktverbote erheblich, aber es spricht gleichwohl vieles dafür, dass sie verhältnismäßig sind. Sie fördern den legitimen Zweck des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung, da sie darauf abzielen, Sozialkontakte zwischen mehreren Personen und das damit gleichzusetzende Ansteckungs- und Weiterverbreitungsrisiko zu minimieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob Personen sich diesem Risiko bewusst sind oder sogar freiwillig aussetzen. Denn das Verbot zielt auf eine Prävention in der Breite ab und damit auch auf eine Vermeidung der Ansteckung von Personen, die nicht von der konkreten Maßnahme direkt betroffen sind. Zudem bleiben die Regelungen in ihrer zeitlichen Geltung befristet und erlauben durch die Ausnahmeregelungen weiterhin ein Mindestmaß an Gemeinschaft im öffentlichen Raum.
Auch im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG ergeben sich mit Blick auf die Zielrichtung der Maßnahme wohl keine durchgreifenden Probleme. Das „einfache“ Zusammenkommen fällt nach der (freilich streitigen) Rechtsprechung des BVerfG schon nicht in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (vgl. nur BVerfGE 104, 92 (104)). Insoweit ist das Kontaktverbot von einem Versammlungsverbot im eigentlichen Sinne klar zu unterscheiden. Hierzu haben die Länder zumeist bereits gesonderte Maßnahmen getroffen (vgl. etwa die Weisung des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums): Versammlungen unter freiem Himmel und sonstige Veranstaltungen sind grundsätzlich verboten, aber die zuständige Behörde kann sie nach Durchführung einer individuellen Verhältnismäßigkeitsprüfung zulassen (zu einem restriktiveren Ansatz in Baden-Württemberg, vgl. § 3 Abs. 6 CoronaVO BW: Zulassung „aus wichtigem Grund“, wobei die aufgeführten Regelbeispiele eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht vorsehen; kritisch hierzu mit Recht hier). Ein solches Verbot mit Befreiungsvorbehalt dürfte wegen des Gewichts des Gesundheitsschutzes als Gemeinwohlziel verhältnismäßig sein; ob die Ablehnung der Zulassung den Anforderungen von Art. 8 Abs. 1 GG genügt, ist dann eine Frage des Einzelfalles.
Ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden?
Im Vergleich zu ausgangsbeschränkenden Regelungen kommt ein weiterer Vorzug von Kontaktverboten hinzu: Während für erstere das Bestehen einer Ermächtigungsgrundlage mit guten Gründen bezweifelt wird (vgl. hier, hier und – weniger zweifelnd – hier; für eine Grundlage im Katastrophenschutzrecht aber hier), kann für Kontaktverbote im Sinne eines Zusammenkunftsverbots wohl auf § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 IfSG zurückgegriffen werden. Die Regelung ermöglicht es den zuständigen Behörden, Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen zu beschränken oder zu verbieten. Problematisch bleibt allerdings das Tatbestandsmerkmal der „größeren Anzahl“ an Menschen. Nach den Gesetzgebungsmaterialien sollte mit der Regelung sichergestellt werden, dass „alle Zusammenkünfte von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen, erfasst werden“ (BT-Drs. 14/2530, S. 75). Das schließt auch kleinere Personenansammlungen ein. Auch bei einer großzügigen Normauslegung dürfte das Tatbestandsmerkmal nach dem allgemeinen Sprachgebrauch aber jedenfalls nur auf Ansammlungen von mehr als zwei Personen zugeschnitten sein. Jenseits dieser Schwelle wird die Norm aber auch zum Verbot von Zusammenkünften im einstelligen Bereich aktiviert werden können. Ein Rückgriff auf die Generalklausel in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erscheint mit Blick auf die speziellere Regelung zur Untersagung von Personenansammlung dagegen eher ausgeschlossen. Für ein Verbot auch kleinster Zusammenkünfte im öffentlichen Raum müsste wohl der Bundesgesetzgeber die Regelung anpassen (zu entsprechendem Regelungsbedarf im Zusammenhang mit Ausgangsbeschränkungen hier und hier).
Ausblick
Anders als Ausgangsbeschränkungen zielen Kontaktverbote im öffentlichen Raum passgenau auf die bestehenden Defizite in der Durchsetzung des Konzepts des social distancing ab. Selbst wenn die bestehenden Ausgangsbeschränkungen mit Blick auf die vielfältigen Ausnahmebestimmungen materiell nicht viel weiter reichen, sind sie auf die zu adressierende Problemlage nicht ausgerichtet. Kontaktverbote haben zudem nicht den Charakter einer Freiheitsbeschränkung und erscheinen zur Gewährleistung wirksamen social distancings angemessen. Die Länder tun insofern gut daran, sich einstweilen auf entsprechende Regelungen zu beschränken und deren Effekt abzuwarten. Ausgangsbeschränkende Maßnahmen im Sinne einer Ausgangssperre könnten sie dann zu einem späteren Zeitpunkt erwägen, wenn Zusammenkünfte im öffentlichen Raum nicht spürbar verschwinden oder die Infektionsrate nicht gesenkt werden kann. So bliebe dem Bundesgesetzgeber auch mehr Zeit, rechtssichere Grundlagen für derartige Regelungen zu schaffen.