25 July 2016

Jetzt wird es ernst: Zur Rehabilitierung und Entschädigung von nach § 175 StGB verurteilten Männern

Vor wenigen Wochen hat das Bundesjustizministerium sein Eckpunktepapier zur Rehabilitierung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen Verurteilten vorgelegt. Den entscheidenden Impuls für diese Entwicklung hat das Gutachten von Prof. Dr. Martin Burgi und Akademischem Rat Daniel Wolff gegeben (dessen zusammenfassender Eintrag auf dem Verfassungsblog findet sich hier). Beide hatten das Gutachten im Auftrag der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes erstellt und im Mai vorgelegt. Darin kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es einen verfassungsrechtlichen Auftrag für die Rehabilitierung von nach § 175 verurteilten Männern gebe, die aus grundrechtlicher Schutzpflicht und dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip abgeleitet werden könne. Insbesondere stünden diesem staatlichen Rehabilitierungsauftrag weder die verfassungsrechtlichen Prinzipien von Rechtssicherheit und Gewaltenteilung noch der allgemeine Gleichheitssatz entgegen. Die Autoren des Gutachtens resümieren, dass durch die Strafurteile ein fortbestehender Strafmakel auf der Grundlage einer mit höherrangigem Recht unvereinbaren Vorschrift bestünde und der Gesetzgeber insofern gehalten sei, seine Untätigkeit neu zu bewerten. Der hier vorgelegte Beitrag nimmt vergleichend Stellung zum Gutachten und der sich nun abzeichnenden Gesetzesentwicklung, wie sie das Eckpunktepapier des Justizministeriums skizziert. Er zeigt dabei insbesondere zwei wichtige Unterschiede zwischen Gutachten und Eckpunktepapier auf: erstens die strittigen Fälle homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden und zweitens die Umsetzung einer individuellen, zusätzlich zu einer kollektiven, materiellen Entschädigungsleistung.

Eines muss freilich vorweg gesagt werden: insgesamt kann das vorgelegte Gutachten von Burgi und Wolff als nichts anderes als ein großer politischer Erfolg gelten. Welch klare und unmittelbare politische Reaktion das Gutachten sowohl bei den Landes- als nun auch beim Bundesjustizminister hervorrufen würde, dürfte selbst die Autoren des Gutachtens überrascht haben. Zwar steht seit langer Zeit eine Rehabilitierung und Entschädigung der „§175er“, wie die nach § 175 verurteilten Männer oft umgangssprachlich genannt werden, im Raum. Der Bundesrat hatte diese bereits 2012 und 2015 explizit gefordert, der Bundestag hatte in den fortbestehenden Strafurteilen zumindest eine Verletzung der Menschenwürde gesehen, wenngleich er nicht explizit eine Rehabilitierung gefordert hatte. Passiert war seitdem aber lange nichts. Die schwarz-gelbe Koalition der vergangenen Legislaturperiode war die Frage vor der Bundestagswahl 2013 nicht mehr angegangen. Auch in der großen Koalition stand die Sache in den letzten Jahren nicht mehr besonders weit oben auf der Agenda. Kritische Zungen in Berlin behaupten, dass die nun geplante Rehabilitierung das „Trostpflaster“ für die homosexuelle Community in dieser Legislaturperiode ist – denn mit der Festschreibung der vollständigen Gleichstellung homosexueller und heterosexueller Lebenspartner (insbesondere des Adoptionsrechts für eingetragene Lebenspartner) wird gemeinhin erst im Koalitionsvertrag 2017 gerechnet, ganz gleich welche Couleur dieser letztendlich haben wird.

Bis 1969 war in Deutschland der einvernehmliche Geschlechtsverkehr selbst zwischen erwachsenen Männern verboten. Der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches bestand in Deutschland seit dem Kaiserreich und wurde von den Nazis drastisch verschärft. Während die DDR zur ursprünglichen milderen Fassung zurückkehrte, Verstöße weniger konsequent verfolgte und den Paragraphen 1968 ganz abschaffte, ging die junge Bundesrepublik einen anderen Weg. Sie behielt die strenge Version der Nazis bei. Dies geht insbesondere auf mehrere Kontrollratsgesetze der Alliierten zurück, die nur solche Gesetze außer Kraft setzten, die auf spezifisch-nationalsozialistischem Gedankengut beruhten. Dazu wurde der § 175 gerade nicht gezählt. In der Retrospektive ist diese Sicht unhaltbar. Nur allzu dreist hatten die Nazis immer wieder Verbindungen zwischen Judentum und Homosexualität behauptet. Bereits 2002 hatte der Bundestag folgerichtig alle Nazi-Urteile aufgrund von § 175 RStGB durch ein Gesetz kassiert. In der nun geführten Diskussion über die Urteile der jungen Bundesrepublik wird der enge Bezug zum Nazi-Unrecht oft unterschätzt. Denn die angewendete Norm blieb die gleiche, viele Richter behielten bekanntermaßen nach 1949 ebenfalls ihren Job. Wenn also die Urteile der Nazis aufgrund des Paragraph § 175 RStGB allesamt bereits vor 15 Jahren vom Bundestag kassiert wurden, können heute keine hinreichenden politischen Gründe glaubhaft gemacht werden, warum gleiches nicht für die nach 1949 ergangenen Urteile nach § 175 StGB gelten sollte: die Norm und ihre Anwendung durch deutsche Gerichte blieben jedenfalls bis 1969 exakt dieselbe.

Eine besonders heikle Frage in der aktuellen Debatte ist freilich die Frage der Verurteilungen nach 1969. Denn erst 1994 wurde der Paragraph 175 komplett abgeschafft. In der Zeit zwischen 1969 und 1994 waren immer noch einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern und männlichen Heranwachsenden strafbar: bis 1973 war der Geschlechtsverkehr mit Männern unter 21 Jahren strafbar, ab 1973 lag die Schutzaltersgrenze bei 18 Jahren. Das Problem besteht darin, dass zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden zwischen 16 und 18 Jahren straffrei waren, wenn die beiden Personen verschiedenen Geschlechts waren. Die Gesetzeslage war also noch bis 1994 eindeutig diskriminierend. Dahinter steckte die so genannte Verführungstheorie, die auch das Bundesverfassungsgericht in seinen aus heutiger Sicht unrühmlichen Bestätigungen des Paragraphen 175 StGB in den Jahren 1957 und 1973 noch vertreten hatte. Danach müssten Heranwachsende vor homosexueller Verführung geschützt werden.

Das Burgi-Wolff-Gutachten sagt zu diesen Fällen von Sexualität zwischen Männern und männlichen Jugendlichen wenig. Einerseits läge in der einfachen Homosexualität, also in der Strafbarkeit der Homosexualität zwischen Erwachsenen, „der ganz eindeutige Schwerpunkt der Betroffenheit und der politischen Diskussion“ (S. 55, Gutachten). Möglicherweise hielten die beiden Verfasser den § 175 in seiner Fassung ab 1969 bzw. 1973 bis 1994 auch für eine Jugendschutzvorschrift, was angesichts seiner klar diskriminierenden Schutzaltersgrenze allerdings zumindest fragwürdig erscheint. In der Logik der Verfasser wäre dann womöglich kein ausreichend qualifizierter Verfassungsverstoß gegeben, der eine Rehabilitierung aber gerade erst rechtfertige. Alternativ mögen die Autoren auch beschlossen haben, sich in ihrem Gutachten auf den juristisch eindeutigsten Fall zu fokussieren, um die Wirkung des Gutachtens zu maximieren: die Strafbarkeit einvernehmlicher Sexualität zwischen erwachsenen Männern. Jedenfalls muss betont werden, dass sich im Gutachten kaum Anhaltspunkte finden, die gegen eine Rehabilitierung auch der etwa 3500 Verurteilten zwischen 1969 und 1994 spräche (abgesehen von einigen strafrechtlichen Konkurrenzfragen, die sich stellen könnten). Im Gegenteil, so auch Burgi und Wolff, erschiene eine Rehabilitierung von Strafbarkeit wegen Unterschreitens einer gegenüber Heterosexuellen anderen Altersgrenze zumindest „erwägenswert“ (S. 55, Gutachten). Insofern ist an dem nun vorgelegten Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums besonders zu begrüßen, dass es genau diese Erwägungen konkret anstellt und insofern etwas mutiger die Rehabilitierung auch auf die Fälle der Homosexualität zwischen Männern und männlichen Heranwachsenden zwischen 16 und 18 Jahren erstrecken will. Es erscheint angemessen, dass auch für diese (wenngleich geringere Zahl) von Verurteilten eine echte nachträgliche Gleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG erfolgen soll.

Leider bleibt dabei dennoch ein kleiner Wermutstropfen im Vorschlag des Justizministeriums. Denn bei genauer Betrachtung werden Fälle einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden nur bestraft, soweit der Täter nach § 182 Abs. 3 StGB die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. Die Gerichte sind sich mittlerweile aber relativ einig, dass eine solche Fähigkeit regelmäßig schon ab 14 Jahren gegeben ist. § 182 Abs. 3 StGB kommt insofern nur noch zur Anwendung, wenn gutachterlich nachgewiesen werden kann, dass einerseits der Heranwachsende diese Fähigkeit gerade nicht hatte und der Täter dies vorsätzlich ausgenutzt hat. Das Schutzalter des heutigen § 182 Abs. 3 StGB liegt deswegen de facto bei 14 Jahren, nicht bei 16 Jahren. Für die Fälle homosexueller Handlungen von Erwachsenen und Heranwachsenden zwischen 14 und 16 Jahren soll eine Rehabilitierung nach dem Eckpunktepapier des Justizministeriums nun aber ausgeschlossen bleiben – unabhängig von der Einzelfallprüfung, ob die Erfordernisse des § 182 Abs. 3 gegeben waren. Es darf bezweifelt werden, ob diese Vorgehensweise der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gerecht wird. In mehreren gegen Österreich ergangenen Urteilen haben die Straßburger Richter wiederholt betont, dass ein Gesetz, das für homosexuelle Handlungen eine andere Schutzaltersgrenze vorsieht als für vergleichbare heterosexuelle Handlungen, gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Privat – und Familienleben) und insbesondere auch gegen Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verstößt (u.a. L.u.V vs. Österreich (2003); Woditschka u. Wilfing vs. Österreich (2004) und Wolfmeyer vs. Österreich (2005)). Letztendlich schlägt das Eckpunktepapier aber genau das doch indirekt vor, wenn es die Einzelfallprüfung nach der Fähigkeit der sexuellen Selbstbestimmung für homosexuelle Handlungen nicht zulassen will. Warum sollten heterosexuelle Handlungen mit 14 bis 16-jährigen regelmäßig erlaubt sein, homosexuelle Handlungen in der gleichen Konstellation werden nun aber von einer Rehabilitierung kategorisch ausgenommen?

Ein zweiter Punkt, in dem Eckpunktepapier und Gutachten voneinander abweichen, betrifft die Frage der individuellen Entschädigung. Das Gutachten sieht hier zwar keine Probleme der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, sollte sich der Staat für eine ebensolche entscheiden. Allerdings äußern sich die Autoren durchaus kritisch gegenüber der Möglichkeit individueller Entschädigungsleistungen – aus praktischen Erwägungen. Die individuellen Entschädigungsansprüche festzustellen, sei ein kaum leistbarer Kraftakt für die Gerichte. Viele der Verfahrensakten dürften, so das Gutachten, auch nicht mehr auffindbar sein. Und schließlich läge es auch gar nicht im Interesse vieler Betroffener selbst, sich für die Beantragung einer Entschädigung erneut individuell mit den Strafverfolgungsbehörden auseinanderzusetzen (siehe S. 68, Gutachten). Die Autoren sprechen sich insofern dafür aus, den Fokus auf kollektive Entschädigungsleistungen zu legen. Dies könnte etwa die Festlegung eines einmaligen oder jährlich wiederkehrenden Geldbetrages zum Zwecke der Durchführung von Aufklärungsprojekten und Erinnerungsveranstaltungen zur Aufklärung über die historische Entwicklung und soziale Betroffenheit sein (S. 64, Gutachten). Insbesondere eine Zustiftung an die bereits bestehende Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wird befürwortet, und erscheint in der Tat besonders sinnvoll und zudem leicht realisierbar.

Das Eckpunktepapier folgt diesem Vorschlag, geht aber auch an dieser Stelle etwas über das Burgi-Wolff Gutachten hinaus. Offenkundig nimmt das Ministerium an, dass auch eine Einzelfallentschädigung für die Betroffenen regelmäßig vorgesehen werden sollte. Hier besteht kein grundsätzlicher juristischer Dissens zwischen Gutachten und Eckpunktepapier: das Justizministerium scheint in der Sache schlicht bereit zu sein, gegebenenfalls auch höhere Staatskosten und eine größere Zahl von Verfahren in Kauf zu nehmen: eine Bereitschaft, die die Autoren wohl nicht erwartet hatten. Zudem schätzt der Justizminister die praktischen Probleme bei der Umsetzung individueller Entschädigungsansprüche offensichtlich geringer ein als das Gutachten. Beweisprobleme bei Anträgen auf Individualentschädigung könnten in der Tat durch eine Fondslösung minimiert werden, wie sie sich in anderen Entschädigungsfällen bewährt hat. Ob das Ministerium aber insgesamt in seiner Annahme zu optimistisch ist, die praktischen Probleme bei der Umsetzung von Individualansprüchen seinen in den Griff zu bekommen, wird die Zukunft zeigen – vorausgesetzt das Eckpunktepapier wird in der nun vorgelegten Form tatsächlich zum Gesetz, was schwer zu hoffen ist.