Richterwahlen in der Schweiz: Wo liegt das Problem?
In der Schweiz denkt man über eine Neuregelung des Systems der Richterwahl nach, besonders der Wahl zum Bundesgericht. Dazu besteht Grund. In der Schweiz ist es üblich, auch Berufsrichter jeweils nur für kurze Amtszeiten von einigen Jahren zu bestellen. Die Richter des Bundesgerichts werden für sechs Jahre von der Bundesversammlung – der Versammlung beider Parlamentskammern – gewählt. Während nicht wenige Länder eine Parteimitgliedschaft amtierender Richter generell oder zumindest für die Richter des jeweiligen Verfassungsgerichts verbieten1) und/oder die Irrelevanz der politischen Vorlieben der Kandidaten im Auswahlerfahren zu sichern suchen, indem sie für die Auswahl oder zumindest für eine Vorauswahl der Kandidaten mehr oder weniger politikdistanzierte Auswahlgremien zuständig machen, ist in der Schweiz eine Parteimitgliedschaft de facto Voraussetzung der Wählbarkeit zum Bundesgericht. Seit 1943 soll kein Richter ohne Parteibuch mehr ans Bundesgericht gewählt worden sein. Über die Besetzung freier Richterstellen wird gemäß schweizerischer Konkordanztradition nicht von der jeweiligen politischen Mehrheit nach dem winner-takes-it-all-Prinzip entschieden, sondern nach einem Proporz, der im Grundsatz allen im Parlament vertretenen Parteien einen ihrer Bedeutung entsprechenden Anteil sichert.2) Von den gewählten Richtern wird erwartet, dass sie von ihrem – vielleicht auch im Hinblick auf diese Erwartung exorbitant großzügig bemessenen – Amtsgehalt sogenannte Mandatssteuern an die Partei abführen, die sie nominiert hat. Und auf den Webseiten des Bundesgerichts findet man zu jedem Richter die Angabe der Partei, auf deren Ticket er ans Gericht gelangt ist.
Über lange Zeit regte sich gegen dieses System wenig Widerstand. Es galt als durch starke Konventionen der Achtung vor der richterlichen Unabhängigkeit gegen Missbrauch gesichert. Nichtwiederwahl aus politischen Gründen, so war und ist teilweise noch immer auch aus dem Kreis der Richter des Bundesgerichts zu hören, sei praktisch ausgeschlossen, man könne ganz unbesorgt seinen richterlichem Überzeugungen folgen.
Soweit es solche Konventionen in der Vergangenheit gegeben hat – seit geraumer Zeit jedenfalls erodieren sie. Der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) nominierte Richter Yves Donzallaz wurde, nachdem er in einem die innerstaatliche Bedeutung des Völkerrechts betreffenden Verfahren nicht wunschgemäß gestimmt hatte, von seiner Partei zum Rapport nach Bern einbestellt. Diesem Ruf ist er nicht gefolgt. Dem Vernehmen nach sind allerdings regelmäßige Gespräche der SVP mit „ihren“ Richtern an der Tagesordnung. Auch das findet selbst in Justizkreisen nicht jeder Richter – auch nicht jeder, der selbst nicht der SVP angehört – bedenklich: Man könne ja ganz unbesorgt …. siehe oben. Dem Richter Donzallaz allerdings wurde, nachdem er neuerdings in einem die Herausgabe von UBS-Kundendaten betreffenden Fall wiederum auf der nach Ansicht seiner Partei falschen Seite stand, unverhohlen angedroht, dass man ihn nicht noch einmal wählen werde.
Vergleichbare Vorgänge hat es auch früher schon gegeben.3) Denkzettel im Wiederwahlverfahren gelten ebenfalls schon länger nicht als konventionswidrig. 1990 erhielt ein Richter des Bundesgerichts nicht die für seine Wiederwahl benötigte Mehrheit, weil ein beabsichtigter Denkzettel, nämlich eine Wiederwahl mit deutlich reduzierter Stimmenzahl, versehentlich entgleist war. Dieses Versehen wurde mit einem neuen Wahlgang, in dem der Betroffene dann doch wiedergewählt wurde, kurzfristig behoben.4) Aber niemand kann ernsthaft bestreiten, dass ein Denkzettel eben doch beabsichtigt gewesen war. Nichtsdestoweniger wird der Fall gern als Beleg dafür herangezogen, dass ein unbotmäßiger Richter in der Schweiz nichts zu befürchten habe.
Eine „Justiz-Initiative“ will die Rechtslage nun im Wege der Volksgesetzgebung ändern. Die Richter des Bundesgerichts sollen künftig bis zu einer Altersgrenze amtieren, die fünf Jahre über dem (für Männer und Frauen unterschiedlichen!) regulären Rentenalter liegt. Ausgewählt werden sollen sie durch Los aus einer Liste von Kandidaten, die eine Fachkommission „ausschliesslich nach objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung“ für amtswürdig befunden hat. Die zwölf Mitglieder dieser Fachkommission sollen für eine Amtszeit von einmal zwölf Jahren von der Regierung bestellt werden. Rückenwind hat die Initiative im Juni durch einen die Schweiz betreffenden Bericht der Staatengruppe gegen Korruption beim Europarat (GRECO, Rn. 49 ff.) bekommen.
Der Reformbedarf ist unabweislich. Aber so? Die Initianten hängen offenbar der Vorstellung an, dass eine Richterwahl durch politische Verfassungsorgane per se die richterliche Unabhängigkeit berührt. Mit dieser Annahme stehen sie nicht allein. „Entpolitisierte“ Richterwahlverfahren, am besten durch Auswahlgremien, in denen Richter, die ihrerseits nicht durch „politische“ Wahl oder Ernennung dort hineingelangt sind, die Mehrheit bilden, sind schon zum internationalen „Standard“ ausgerufen worden (s. hier, Rn. 68 und, speziell zu den europäischen Standards, hier, Rn. 24, m.w.N., kurze Zusammenfassung m.w.N. auch hier). Das macht die Idee aber nicht besser. Wenn die richterliche Unabhängigkeit schon durch die bloße Tatsache einer Wahl oder Ernennung durch Verfassungsorgane der Exekutive oder Legislative tangiert wäre, müsste dasselbe auch für die Auswahl durch beliebige andere Gremien, besonders für die von internationalen Akteuren favorisierte Auswahl durch Selbstverwaltungsorgane der Justiz (Justizräte, Judicial Councils) angenommen werden, denn die Anforderung der richterlichen Unabhängigkeit gilt nicht nur im Verhältnis zu den anderen Gewalten, sondern auch justizintern, wie überhaupt in jeder Richtung.5) Ein Problem liegt auch nicht darin, dass politische Verfassungsorgane gerade bei der Besetzung von Höchstgerichten, die es ausschließlich oder, in Systemen mit nicht spezialisierter Verfassungsgerichtsbarkeit, jedenfalls in besonderem Maße mit Fragen der Verfassungsauslegung zu tun haben, nicht allein auf Fachkenntnisse und andere vergleichsweise objektiv beurteilbare Qualifikationen achten, sondern auch auf Grundhaltungen die geeignet sind, die Rechtsauslegung zu beeinflussen – auf Rollen- und Gerechtigkeitsverständnis, rechtspolitische Orientierungen in Fragen des Verhältnisses von Markt und Staat, Nation und Internationalisierung, und so fort. Grundhaltungen in solchen Fragen bringt man nicht zum Verschwinden, indem man beschließt, sie im Auswahlprozess zu ignorieren. Es handelt sich nicht um unziemliche Politisierung, sondern um demokratische Legitimation der Art und Weise, in der das unvermeidliche kreative Element der Rechtsprechung zur Geltung kommt, wenn solche Grundhaltungen im Auswahlprozess nicht ignoriert, sondern zum Gegenstand politisch zu verantwortender Entscheidung gemacht werden. Unziemliche Politisierung im Auswahlverfahren oder aufgrund des Auswahlverfahrens beginnt erst, wo politische Konformitäts- oder gar Loyalitätserwartungen zur Auswahl Minderqualifizierter führen oder die Rahmenbedingungen so gesetzt sind, dass politische Nominationshintergründe der Richter sich in entsprechenden innergerichtlichen Fraktionsbildungen niederschlagen. Auch wo Richter von politischen Verfassungsorganen gewählt werden, gibt es gegen solche Formen der Politisierung, wirksame Gegenmittel. Innergerichtliche Polarisierung und Fraktionsbildung drohen vor allem dann, wenn in einem polarisierten gesamtgesellschaftlichen Klima eine bestimmte Richtung zu einer innergerichtlichen Dominanz gelangt, die sich auf Verständigungsbemühungen und die Kraft des besseren Arguments nicht mehr angewiesen sieht. Nicht Richter, für deren Wahl auch politische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, sind für eine sachorientierte kollegiale Rechtsfindung riskant, sondern unausgewogene Gerichtsbesetzungen, in denen Rechtsprechung zur politischen Machtfrage wird.6) Zu den Gegenmitteln gegen solche Entwicklungen in Systemen politischer Richterwahl gehören unter anderem die inzwischen weit verbreiteten qualifizierten Mehrheitserfordernisse für die Richterwahl, die einen politischen Verständigungszwang begründen und damit zugleich der Versuchung entgegenwirken, in der Hoffnung auf Linientreue ideologische hardliner zu platzieren, Bewerbungsoffenheit, Proporzabsprachen, gesetzliche Proporzvorgaben, Konsultationen und auch Expertenkommissionen, die die politischen Wahlorgane beraten, wie sie in etlichen gutfunktionierenden Demokratien eingerichtet sind.
Die schweizerische Bundesversammlung in ihrer Funktion als Richterwahlorgan durch eine von der Regierung ernannte Fachkommission zu ersetzen, aus deren Liste geeigneter Kandidaten dann die Richter durch Los gezogen werden, wie es die Justizinitiative will, ist unter keiner der denkbaren Zielvorstellungen eine befriedigende Lösung. Den behaupteten internationalen Standards, die auf maximale Entpolitisierung des Richterwahlverfahrens mit einem starken Element justizieller Selbstrekrutierung setzen, genügt dieses Modell noch immer nicht, weil das entscheidende Auswahlgremium von der Regierung besetzt werden soll. Wenn das Anliegen in der Ersetzung eines politischen Auswahlverfahrens durch ein ausschließlich „objektiv“ qualifikationsorientiertes besteht, versteht man nicht, warum die Auswahl der bestqualifizierten Bewerber nicht gleich ganz der Fachkommission überlassen bleiben, sondern stattdessen unter den von der Kommission für ausreichend qualifiziert befundenen das Los entscheiden soll. Und das wichtigste Anliegen des bisherigen schweizerischen Systems, eine demokratische Legitimation der Richter, die zugleich dafür sorgt, dass die Justiz sich nicht in einer Weise verselbständigt, die ihrer Akzeptanz auf die Dauer gefährlich werden könnte, kommt nur noch wesentlich abgeschwächt und in einer Form zur Geltung, in der es eine plurale, ideologisch ausgewogene Besetzung des Bundesgerichts nicht mehr verlässlich sichern kann, weil in dieser Hinsicht Blindheit verordnet wird. Nicht die politische Auswahl der Richter des schweizerischen Bundesgerichts ist das Problem, sondern deren Wiederwählbarkeit. Die Initiative ist nichtsdestoweniger zu begrüßen. Im günstigsten Fall führt sie dazu, dass ihr mit einer vernünftigeren Alternative der Wind aus den Segeln genommen wird. In der Anstoßfunktion von Volksinitiativen liegt einer der Vorzüge der schweizerischen direkten Demokratie.
References
↑1 | So z.B. Bolivien, Korea, Italien, Litauen, Malaysia, Peru, Spanien und Südafrika. Das Wort „Verfassungsgericht“ verwende ich im dem weiten, auch nichtspezialisierte Verfassungsgerichte und Gerichte mit begrenzten Normverwerfungs- oder -nichtanwendungskompetenzen einschließenden Sinn, in dem auch das Schweizerische Bundesgericht zu den Verfassungsgerichten zu zählen ist. |
---|---|
↑2 | Nach Axel Tschentscher, Demokratische Legitimation der Dritten Gewalt, Tübingen (Mohr Siebeck) 2006, S. 275, wird bereits bei der Ausschreibung der Richterstellen darauf hingewiesen, von welcher Person und auf Vorschlag welcher Partei die jeweilige Stelle bisher besetzt war (mit Beispiel entsprechender Ausschreibung einer Stelle am Bundesgericht in Fn. 26). Ob diese Praxis fortbesteht, habe ich nicht überprüft. |
↑3 | Biaggini, Giovanni, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz, in: Bogdandy, Armin von/Grabenwarter, Christoph/Huber, Peter, Ius Publicum Europaeum, Band VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa. Institutionen, Heidelberg (C.F. Müller) 2016, § 105, S. 573-638, S. 603 Rn. 61. |
↑4 | Zu diesem Vorgang, Biaggini, ebd (Fn.6); Vatter, Adrian, Das politische System der Schweiz, Baden-Baden (Nomos), 3. Aufl. 2018, S. 512. |
↑5 | Zur verbreiteten Vernachlässigung dieses Aspekts bei dem den mittel- und osteuropäischen Transformationsländern von europäischen Institutionen mehr oder weniger aufgenötigten Justizreformmodell kritisch Kosař, David, Perils of Judicial Self-Government in Transitional Societies, Cambridge (Cambridge University Press) 2016, S. 130 und passim. |
↑6 | S. auch Kiener, Regina, Richterliche Unabhängigkeit. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Richter und Gerichte, Bern (Stämpfli) 2001, S. 272, zur bis dato erfolgreichen Vermeidung legitimationsschädlicher Dominanz einer einzelnen Partei durch das schweizerische Proporzsystem. |