Schwarzer Peter im Mehrebenensystem
Das Elend in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Ägäis-Inseln Lesbos und Samos ist älter als die Coronakrise: Schon seit langem sind die Lager massiv überfüllt, die hygienischen Umstände desolat, die medizinische Versorgung völlig unzureichend; Ärzte ohne Grenzen forderte schon 2018 die Evakuierung besonders schutzbedürftiger Personen wie alleinreisender Frauen und Kinder. Seitdem haben sich die Zustände nochmal massiv verschlechtert: Allein im Lager Moria sind inzwischen über 20.000 Menschen zusammengepfercht. Die Kapazität liegt eigentlich bei maximal 3.000 Personen.
Die hygienischen Zustände sind der perfekte Nährboden für eine medizinische Apokalypse: Während Virologen weltweit zum Social Distancing und intensiven Händewaschen anhalten, teilen sich in Moria 1.300 Menschen einen Wasserhahn. Ohne Seife. Zum Schlafen stehen auch für sechsköpfige Familien teilweise nur 3 Quadratmeter zur Verfügung; ein Doppelbett ist größer. Die Zustände im Lager sind also auch aus epidemiologischer Sicht ein Albtraum. Sobald das Virus das Lager erreicht, wird es sich ungehindert ausbreiten.
Hektisch sind deshalb zurzeit die Bemühungen, mithilfe einer „Koalition der Willigen“ besonders schutzbedürftige Insassen der Flüchtlingslager auf den griechischen Ägäis-Inseln in anderen EU-Ländern umzuverteilen. Der Koalitionsausschuss traf am 9. März einen entsprechenden Beschluss, um im Konzert mit anderen EU-Ländern bis zu 1.500 Kinder aus den Lagern zu holen. Ein knapper Monat ist seitdem vergangen – und kein einziges Kind ist seither nach Deutschland geholt worden. Dabei drängt die Zeit, denn spätestens wenn das Virus das Camp erreicht hat – das heißt spätestens dann, wenn eine Evakuierung noch deutlich dringender nötig wäre als jetzt schon – wird es aus Infektionsschutzgründen zu spät sein, noch Menschen auszufliegen. Tatsächlich bröckelt die Europäische Koalition der willigen Zögerer schon jetzt, erste Länder wollen sich wegen der Infektionsgefahr zurückziehen. Für die Rettung der Kinder von Moria bleiben sicher keine Wochen mehr, es handelt sich bestenfalls noch um eine Frage von wenigen Tagen, vielleicht nur Stunden. Luxemburg hat deshalb gestern beschlossen zu handeln und ist mit der Ankündigung vorgeprescht, im Alleingang einige Kinder aus den Lagern zu holen. Es hat dabei darauf hingewiesen, dass es hofft, damit auch Deutschland zum Handeln animieren zu können. Ebenfalls ausgehend von der großen Zeitnot kamen gestern 50 Unionsabgeordnete zu einem anderen Ergebnis als Luxemburg und erinnerten nicht etwa die eigene Regierung, sondern die EU-Kommission an ihre „dringende Verantwortung“, die Evakuierung endlich umzusetzen.
Dabei hätten sie ihren Appell gar nicht in die Ferne rufen müssen: Es wäre sinnvoller gewesen, sich direkt an das Bundesinnenministerium zu wenden, das nur einen knappen Kilometer vom Bundestag entfernt liegt. Dort wird zwar stets betont, man stehe zur Zusage, Minderjährige aus Moria zu holen, nur leider, leider komme es auf EU-Ebene nun mal zu Verzögerungen. Die EU verweist wiederum auf die Mitgliedstaaten. Die Migrationsrechtlerin Pauline Endres de Oliveira beschreibt dieses Herumschieben der Verantwortung im Gespräch mit Maximilian Steinbeis anschaulich. Dabei fragt sich, wie ernst es dem BMI wirklich ist. Denn es hätte die Möglichkeit eine schnelle Rettung von Kindern aus Moria zu ermöglichen – sperrt sich aber.
Es gibt nämlich noch eine zweite, womöglich deutlich schneller handlungsfähige Koalition der Willigen als jene, die die EU-Kommission zu koordinieren hat. Viele Bundesländer und Kommunen haben offen und längst ihre Bereitschaft bekundet, besonders schutzbedürftige Insassen der griechischen Lager aufzunehmen. So ist namentlich der Berliner Senat bereit, kurzfristig 300 Betroffene aus den griechischen Camps zu evakuieren (hier und hier); weitere Bundesländer – von Schleswig-Holstein über Bremen bis nach Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen – haben angedeutet, bald zu folgen. Grundlage wäre, wie schon in vielen anderen Fällen (etwa der Rettung von 1.000 Jesidinnen vor dem „Islamischen Staat“ durch Baden-Württemberg) § 23 Abs. 1 AufenthG. Die Vorschrift berechtigt die obersten Landesbehörden dazu aus humanitären Gründen anzuordnen, dass bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Der Haken: Nötig ist das Einvernehmen des Bundesinnenministeriums. Und dieses hat den Bundesländern vor wenigen Tagen einen Vermerk geschickt, in dem es die Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung zur Rettung von Menschenleben dämpft: „Soweit es sich bei den in Rede stehenden Personen auf den griechischen Inseln um Asylantragsteller handelt, stellt § 23 AufenthG aus Sicht des BMI weder rechtlich noch nach der Staatspraxis des Bundes wie auch der Länder eine geeignete Rechtsgrundlage für eine Aufnahme dar. Vielmehr gilt innerhalb der EU für die Verteilung von Schutzsuchenden das Dublin-Regime […].“
Diese These ist nicht nur rechtlich steil – sie ist auch politisch fatal. Natürlich steht einer humanitären Aufnahme nach § 23 AufenthG die Dublin III-Verordnung nicht entgegen. Die Dublin III-Verordnung regelt allein die Zuständigkeit der EU-Länder zur Bearbeitung von Asylverfahren. Es ist deshalb von einem Länderaufnahmeprogramm aus humanitären Gründen bereits ihr Anwendungsbereich nicht berührt. Es geht nicht darum, die Insassen der griechischen Camps in Deutschland aufzunehmen, weil sie womöglich politisch oder aus anderen Gründen verfolgt sind – sondern weil sie andernfalls gefangen im Niemandsland zwischen Griechenland und der Türkei unter katastrophalen Umständen auf unbestimmte Zeit ausharren müssten, darauf wartend, dass die Ankunft eines weltweit wütenden Virus im Camp die Lage nochmal zuspitzt. Hinzu kommt, dass die Entlastung Griechenlands ein – dringend nötiges – Zeichen der europäischen Solidarität bei der Migrationspolitik wäre. Die überragende Bedeutung dieses Solidaritätsgrundsatz nach Art. 80 AEUV zur Entlastung der griechischen Flüchtlingslager hat der EuGH erst vor wenigen Tagen in einer hier von Professorin Landfried besprochenen Entscheidung nochmal unterstrichen.
Und § 23 Abs. 1 AufenthG ist nicht nur grundsätzlich anwendbar, er ist auch erfüllt: „Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. […] Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Inneren.“
Es wird für gemeinhin – und höchstgerichtlich bestätigt (BVerwG, Urteil vom 19. 9. 2000, Az. 1 C 19/99) – davon ausgegangen, dass den Ländern hierbei ein weites Entschließungs- und Ausgestaltungsermessen zukommt, solange sie eines der im Gesetz genannten Ziele im Blick haben. Dabei könnten sich die Länder mit Blick auf die griechischen Flüchtlingslager insbesondere auf humanitäre Gründe stützen. Solche liegen vor, wenn der Einsatz zugunsten anderer Menschen, die sich in Not oder Bedrängnis befinden, auf moralischen oder sittlichen Überlegungen beruht, wobei die Ursache der Not irrelevant ist, sofern sie nicht lediglich ein Einzelschicksal ist. In einer solchen kollektiven Notlage befinden sich die Menschen in den griechischen Lagern schon allein aufgrund der vollkommen unzureichenden hygienischen und medizinischen Lage; hinzu kommen zunehmende Spannungen und Gewaltausbrüche sowohl innerhalb der vollkommen überfüllten Camps als auch mit der lokalen Bevölkerung und rechtsradikalen Milizen. Verstärkt betroffen hiervon sind besonders vulnerable Personengruppen, d.h. insbesondere allein reisende Frauen und Kinder. Durch eine drohende Infektion der Camps mit dem Coronavirus ist nun noch eine zusätzliche Gefahr hinzugetreten, insbesondere für solche Insassen, die zu einer der Risikogruppen gehören. Nach diesen Kriterien, also dem Schutz besonders hilfsbedürftiger Insassen, könnte sich dann wiederum die Auswahl der gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG „in sonstiger Weise bestimmten“ Ausländergruppe richten, welche im Rahmen eines Länderaufnahmeprogramms eine Aufenthaltserlaubnis erhält.
Was bedeutet es nun, wenn „zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ das Einvernehmen des Bundesinnenministeriums einzuholen ist – und das BMI in seinem Vermerk dabei auf die „Zuständigkeit des Bundes im Bereich der Außen- und Europapolitik“ pocht? Muss die Koalition der willigen Bundesländer warten, bis seinerseits das Bundesinnenministerium – endlich – begonnen hat, Schutzbedürftige aus Moria zu evakuieren? Warten womöglich, bis es zu spät ist?
Systematik, Telos und Rechtsprechung lassen keinen Zweifel: Das Innenministerium ist nicht berechtigt, sein Ermessen an die Stelle des humanitären Engagements der Bundesländer zu stellen. Es dürfte höchstens intervenieren, wenn ein Bundesland sein humanitäres Ermessen überschreitet oder missbraucht. Dafür ist nichts ersichtlich. Das BMI darf hingegen gerade nicht eigene (außen)politische Überlegungen zum Maßstab seines Einvernehmens machen. Wäre das anders, würde es eigene Vorstellungen an die Stelle der politischen Prärogative der Bundesländer stellen. Es sind aber gerade die Bundesländer, die im Rahmen ihrer souveränen Eigenstaatlichkeit die Aufnahmeentscheidung nach § 23 Abs. 1 AufenthG treffen – und deren Regierungen dafür dem Wähler demokratisch verantwortlich sind. Für ihr Landesaufnahmeprogramm muss sich eine Landesregierung gegenüber dem Landesparlament und -wähler verantworten – nicht gegenüber dem BMI. Dieses soll lediglich einen Flickenteppich inkohärenter, miteinander inkompatibler Einzelregelungen der Bundesländer verhindern können. In aller Klarheit hat das Bundesverwaltungsgericht dies längst entschieden:
„Das Erfordernis des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern dient zwar der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit, soll aber lediglich verhindern, dass einzelne Bundesländer sich durch Erlass entsprechender Anordnungen zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen.“
(BVerwG, Urteil vom 19. 9. 2000, Az. 1 C 19/99)
Dabei ist es natürlich nicht notwendig, dass alle (oder auch nur eine Vielzahl der) Bundesländer identische Aufnahmeanordnungen treffen: Es ist gerade Wesensmerkmal eines föderalen Systems wie der Bundesrepublik, dass grundsätzlich unterschiedliche Regelungen in den Ländern bestehen können und genau hierzu gewährt § 23 Abs. 1 AufenthG eine Möglichkeit; nicht umsonst spricht die Norm von der obersten Landesbehörde im Singular und legt damit nahe, dass schon ein Land alleine eine Aufnahmeregelung schaffen kann. So hat zum Beispiel Baden-Württemberg im Jahr 2014 rund 1000 traumatisierten Opfern der Terrormiliz „Islamischer Staat“ basierend auf § 23 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltsgenehmigung verschafft (BT-Drucks WD-3-223-18, S. 9 f.). Und seit Jahren erlauben mehrere Bundesländer auf Basis von Verpflichtungserklärungen den Familiennachzug aus Syrien, wohingegen anderen Bundesländer sich diesen humanitären Aufnahmeprogrammen nie angeschlossen haben. Demgemäß ist es unschädlich, dass sich die Innenministerkonferenz Ende Dezember 2019 keinen Beschluss zur Aufnahme von Flüchtlingen aus den griechischen Lagern fasste, denn das Vorliegen eines solchen Beschlusses ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Länderaufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG.
Das BMI begründet denn auch nicht, weshalb konkret die Bundeseinheitlichkeit durch eine „Koalition der Willigen“ Bundesländer gefährdet wäre. Es behauptet, das Einvernehmenserfordernis spiegele die alleinige Zuständigkeit des Bundes für die Zulassung von Ausländern zum Bundesgebiet und die Fragen der Außen- und Europapolitik wider. Das läuft dem Wortlaut und dem Zweck des Aufenthaltsgesetzes so evident zuwider, dass es kaum nötig ist, auf ein Gutachten zu verweisen, das zu dieser Frage Anfang März erstellt wurde. Hier nur so viel: Ginge es beim Einvernehmenserfordernis tatsächlich um die Wahrung außenpolitischer Interessen, wäre wohl kaum das Einvernehmen ausgerechnet des Innenministeriumserforderlich; es hätte da doch die Zuständigkeit des Außenministeriumsdeutlich näher gelegen.
Aber selbst wenn man die Interessen des Bundes an der alleinigen Entscheidung über die Zulassung von Ausländern in das Bundesgebiet und die Bestimmung seiner Außen- und Europapolitik miteinfließen lässt, wird nicht klar, was einem Landesaufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 1 AufenthG entgegenstünde. Ein solches Programm würde darauf abzielen, besonders vulnerable Kinder aus den griechischen Camps nach Deutschland zu holen. Genau das ist aber ja seit mindestens einen Monat auch das erklärte Ziel der Bundesregierung. Nur, dass ihr bisher noch keine Umsetzung gelungen ist. Dabei ist es natürlich bequem, wenn man die Verzögerungen der nächsthöheren EU(-Kommission) anlasten kann. Aber wer zum Schwarze-Peter-Spiel im Mehrebenensystem aufruft, sollte sich nicht dabei erwischen lassen, wie er selbst blockiert, verzögert und verhindert.
Sehr geehrter Herr Gafus,
Das ist ein sehr wichtiger Beitrag. Vielen Dank. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass sich das Bundesinnenministerium bei seiner Ablehung auf die Dublin III – Verordnung beruft. Wie Sie richtig schreiben, steht Dublin in keiner Weise einer humanitären Aufnahme entgegen. Sehen Sie eine Möglichkeit, Ihren Beitrag dem Bundesinnenministerium zuzuleiten?
Viele Grüße, Christine Landfried