Seit wann kann ein Gericht eine Legislaturperiode halbieren?
Hat es das schon mal irgendwo gegeben? Dass ein Gericht befindet, die Regierungsmehrheit im Parlament sei auf verfassungswidrige Weise zustandegekommen? Und dann freihändig ein Datum für das Ende der Legislaturperiode festlegt, gleichsam aus höheren verfassungspolitischen Erwägungen heraus?
Der Landtag von Schleswig-Holstein ist 2009 gewählt worden, laut Verfassung für fünf Jahre. Die Verfassung sieht ferner vor, dass der Landtag 69 Sitze haben soll und dass eventuelle Überhangmandate ausgeglichen werden sollen. Solche Überhangmandate gab es 2009 in absurd hoher Zahl, weil CDU und SPD beide zwar mies abschnitten, aber die 40 Wahlkreismandate trotzdem unter sich ausmachten.
Die Folge war, dass der im geltenden Wahlrecht unvorhergesehenerweise nicht ausreichte und plötzlich unausgeglichene Überhangmandate stehen blieben – und zwar drei Stück.
Das hat das Landesverfassungsgericht heute für verfassungswidrig erklärt, wogegen ich auch überhaupt nichts habe.
Nichtig, rechtswidrig oder falsch angewandt
Interessant ist aber, was für Schlussfolgerungen die Landesverfassungshüter daraus ziehen. Eigentlich gibt es drei Möglichkeiten:
- Das Wahlrecht ist verfassungswidrig und nichtig, die Wahl ungültig, der Landtag wird aufgelöst. Das ist schon deshalb schwierig, weil es dann ja gar kein Wahlgesetz gäbe, nach dem der neue Landtag gewählt werden könnte.
- Das Wahlrecht ist verfassungswidrig, aber nicht nichtig. Der Landtag kann fortbestehen, muss aber ein neues Wahlrecht beschließen. Das ist im Prinzip der Weg, den das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf das Bundeswahlrecht (negatives Stimmgewicht) 2008 gewählt hat.
- Das Wahlrecht ist in Ordnung, wurde aber in verfassungswidriger Weise ausgelegt und angewandt. Wenn der Fehler – wie hier – nicht in der Wahl selber liegt, sondern in der Zuteilung der Mandate, ist die Lösung eigentlich einfach: Dann werden die Mandate nach korrekter, verfassungskonformer Auslegung des Wahlrechts neu zugeteilt.
Das LVerfG wählt jetzt einen vierten Weg: Das Wahlrecht ist verfassungswidrig, aber nicht nichtig. Der Landtag darf weitermachen, aber nicht bis zu dem in der Verfassung festgelegten Datum. Sondern kürzer.
Das ist echt originell. Wie kommen die denn dazu?
Das “mildere Mittel”
Das sei aus Gründen der “Verhältnismäßigkeit” nötig, beteuern die Richter. Das Wahlgesetz sei nicht verfassungskonform auslegbar, und sonst bleibe nur die Nichtigkeit, und das gehe ja wohl nicht. Da sei die Verkürzung der Legislaturperiode das “mildere Mittel”.
Gerade ein Verfassungsgericht sollte aber wissen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur die Auswahl unter den Mitteln betrifft, zu denen man befugt und kompetent ist. Wo das Gericht aber die Befugnis hernimmt, die Legislaturperiode anders als in der Verfassung niedergelegt zu bestimmen, dazu hätte es doch zumindest ein paar Worte verlieren können.
Und selbst wenn: Ist die verfassungskonforme Auslegung des Wahlrechts wirklich so ganz und gar ausgeschlossen, wie das Verfassungsgericht suggeriert? Hat da nicht doch vielleicht eine klitzekleine Rolle gespielt, dass nach vollständigem Ausgleich der Überhangmandate die schwarz-gelbe Regierung Carstensen ihre Mehrheit verloren hätte?
Hatte mich heute auch gewundert, seltsame Verfahrensweise.
Unter http://www.schleswig-holstein.de/cae/servlet/contentblob/933394/publicationFile/Urteil_1_10.pdf
Zur (Nicht?)Ungültigkeit der Wahl (S. 78 von 82):
Rz. 174
a) Ein festgestellter mandatsrelevanter Wahlfehler führt nicht sogleich zur Ungültigkeit
der gesamten Wahl, sondern – soweit möglich – im Sinne des „Verbesserungsprinzips“
zur Berichtigung, allerdings nur insoweit, wie der Wahlfehler (räumlich)
wirksam geworden ist (ebenso: Schl.-Holst. OVG, Urteile vom 24. Juni 1993
– 2 K 4/93 -, SchlHA 1993, 194 ff. = NVwZ 1994, 179 ff., Juris Rn. 66; und vom
30. September 1997 – 2 K 9/97 -, NordÖR 1998, 70 ff., Juris Rn. 39). Um die demokratische
Legitimation des Parlaments und derjenigen Verfassungsorgane, die
ihre demokratische Legitimation vom Parlament ableiten, möglichst zu erhalten,
gilt das „Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli
2008 – 2 BvC 1/07 u.a. – BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 134 m.w.N.). Eine Ungültigerklärung
der gesamten Wahl hätte eine umgehende Delegitimierung zur Folge
und müsste nach dem Gesetz zu einer Wiederholungswahl spätestens sechs Wochen
nach rechtskräftiger Feststellung der Ungültigkeit führen (§ 46 Abs. 6
LWahlG). Sie käme aus Verhältnismäßigkeitsgründen nur in Frage, soweit der
Fehler nicht mit einer Nachzählung und / oder Berichtigung zu beheben ist. Zudem
müsste sich der damit verbundene Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten
Volksvertretung für die Zeit von regulär fünf Jahren vor dem Interesse am Erhalt
dieser Volksvertretung rechtfertigen lassen. Sie setzt deshalb – in den Worten
des Bundesverfassungsgerichts für das Bundeswahlrecht – einen erheblichen
Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise
gewählten Volksvertretung unerträglich schiene. Hierzu hat gegebenenfalls eine
Folgenabwägung stattzufinden (vgl. BVerfG, Urteile vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris
Rn. 135; und vom 8. Februar 2001 – 2 BvF 1/00 – BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn.
88 m.w.N., stRspr.; vgl. auch HbgVerfG, Urteil vom 4. Mai 1993 – 3/92 -, NVwZ
1993, 1083 ff. = DVBl.1993, 1070 ff., Juris Rn. 155 ff.). Im Übrigen erfolgt eine Ungültigkeitserklärung
aus den oben genannten Gründen stets nur ex nunc (vgl.
BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 138; Kretschmer, in: Schmidt-
Bleibtreu / Hofmann/ Hopfauf , Kommentar zum Grundgesetz,
11. Aufl. 2008, Art. 41 Rn. 19, 21).
Rz. 175
Für die grundsätzlich vorrangige und die demokratische Legitimation des Parlaments
erhaltende Fehlerkorrektur durch Feststellung eines abweichenden Wahlergebnisses
gemäß § 47 Abs. 3 LWahlG ist angesichts der miteinander verwobenen
und nur in ihrer Gesamtheit bestehenden schwerwiegenden Wahlfehler trotz
des Gebots des geringstmöglichen Eingriffs kein Raum. Das Zusammenwirken der
Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG führt zu einer
so erheblichen und komplexen Fehlerhaftigkeit der Wahl, dass ihr insgesamt
die verfassungsmäßige Grundlage entzogen ist. Denn das Entstehen von elf
Mehrsitzen (Überhangmandaten) mit der Folge, dass der Landtag nun aus 95 Abgeordneten
besteht, verfehlt die in der Verfassung verbindlich vorgegebene Größe
von 69 Abgeordneten in nicht mehr hinnehmbaren Ausmaß und führt zugleich
durch die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zu einer Beeinträchtigung des
Grundsatzes der Wahlgleichheit, weil sie den Wählerwillen in einer nicht zu rechtfertigenden
Weise verzerrt. Die einzelnen Wahlfehler lassen sich nicht trennen
und isoliert korrigieren, denn sie bedingen und intensivieren sich in ihrem Zusammenwirken
gegenseitig.
Rz. 176
Aber auch die Anordnung einer binnen sechs Wochen abzuhaltenden Wiederholungswahl
nach § 46 Abs. 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 LWahlG kommt im Ergebnis
nicht in Betracht, da dies nicht dem Umstand Rechnung tragen würde, dass die
von § 46 LWahlG vorausgesetzte Unregelmäßigkeit der Wahl hier nicht auf der
fehlerhaften Anwendung der Wahlvorschriften, sondern darauf beruht, dass die zu
korrigierende „Unregelmäßigkeit“ in der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes
selbst liegt. Allerdings sind die in der Summe festzustellenden Wahlfehler so weitgehend
und so gewichtig, dass sie eine Wiederholungswahl auch unter Berücksichtigung
der genannten Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte nach gebotener
Folgenabwägung rechtfertigen würden. Denn der Fortbestand des in verfassungswidriger
Weise zusammengesetzten Landtages für die Dauer von weiteren
vier Jahren ist gegenüber dem hohen Verfassungsgut seiner richtigen Zusammensetzung
nicht zu rechtfertigen. Der Landtag stellt das zentrale Organ der demokratischen
Grundordnung dar, von dem alle andere staatliche Gewalt seine demokratische Legitimation ableitet. Über die Wahl des Landtages bekundet das
Volk seinen Willen und übt die letztlich von ihm ausgehende Staatsgewalt aus
(Art. 2 Abs. 1 und 2 LV).
Rz. 177
Die Besonderheit, dass der Wahlfehler auf der Verfassungswidrigkeit von Normen
des Landeswahlgesetzes beruht, erfordert daher zugleich eine abweichende Regelung,
die das Wahlergebnis für eine Übergangszeit als weiterhin gültig anerkennt
und damit dem Landtag einen vorübergehenden Bestandsschutz zugesteht.
Denn zunächst muss das Landeswahlgesetz so geändert werden, dass der nächste
Landtag auf der Grundlage eines verfassungskonformen Landeswahlgesetzes
gewählt werden kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 138).
Angesichts der verschiedenen Möglichkeiten, eine verfassungskonforme Gesetzeslage
herbeizuführen, ist es vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, also des
Landtages, die dafür notwenigen Änderungen zu beschließen. Die in § 46 Abs. 6
LWahlG vorgesehene Frist von maximal sechs Wochen ist auf einen solchen Fall
nicht zugeschnitten. Sie geht davon aus, dass nur die (gesetzmäßige) Durchführung
der Wahl zu wiederholen ist, nicht aber, dass zuvor das der Wahl zugrunde
liegende Gesetz zu ändern ist. Für die Durchführung einer Wahl auf der Grundlage
eines geänderten Gesetzes bedarf es eines deutlich längeren Zeitraums, damit
der Landtag zunächst ein verfassungsmäßiges Wahlrecht schafft. Während dieses
Zeitraums bleiben die Abgeordneten im Amt und der Landtag behält seine volle
Handlungs- und Arbeitsfähigkeit, denn bis zur Neuregelung und Durchführung der
gebotenen Neuwahl verbleibt es bei dem festgestellten Wahlergebnis.
Rz. 178
b) Als gegenüber der eigentlich gebotenen Ungültigkeitserklärung mit anschließender
Wiederholungswahl geringerer Eingriff in den Bestand des Landtages ist
die Legislaturperiode deshalb auf den 30. September 2012 mit der Auflage zu beschränken,
unverzüglich ein verfassungskonformes Landeswahlgesetz zu verabschieden.
Diese Frist ist notwendig, aber auch ausreichend, um den Landtag in
die Lage zu versetzen, das Landeswahlgesetz zu ändern und die für die Vorbereitung
einer Neuwahl erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
[…]
Ach was!
Die Vorgehensweise des Gerichts bei der Verkürzung der Wahlperiode leuchtet mir mehr ein als die materielle Argumentation, die am Ende zu demokratisch schwer erträglichen Ergebnissen führt.
Das Gericht kann im Rahmen der Normenkontrolle eine Norm des Wahlgesetzes beanstanden. Es kann im Rahmen der Wahlprüfung die Sitzverteilung im Landtag beanstanden. Wenn beides zusammenkommt, kann es vorsehen, dass der Landtag neu gewählt werden muss und zwar erst nach Schaffung eines neuen Wahlgesetzes. Bis zu dessen Schaffung bleibt der alte Landtag für eine Übergangszeit bestehen. Es wird also weniger die Wahlperiode verkürzt als vielmehr die Amtszeit eines verfassungswidrigen Landtags verlängert, um in Ruhe ein neues Wahlgesetz ausarbeiten und die Neuwahl vorbereiten zu können.
Gegen diese Vorgehensweise spricht eher, dass sie materiell von falschen Prämissen ausgeht. Das Verfassungsgericht hat sich die Möglichkeit das korrekte Wahlergebnis sofort festzustellen (indem es nur die Deckelung der Ausgleichsmandate für verfassungswidrig erklärt), bewusst selbst abgeschnitten, indem es das Problem komplizierter machte als es ist. Dem Wortlaut der Verfassung ist schließlich kein Befehl zu entnehmen, den Landtag “möglichst” klein zu halten. Allenfalls ist die Verfassungsvorschrift in sich widersprüchlich, weil sie sowohl das Regelungsziel eines kompakten Landtags als auch die Existenz von Überhang- und Ausgleichsmandate vorsieht. Es ist mE willkürlich und ergebnisorientiert, wenn nun aus den verschiedenen Verfassungszielen gerade die Regelgröße von 69 Abgeordnete als entscheidende Größe herausgestellt wird.
Doch selbst, wenn man daraus einen komplexen Auftrag an den Gesetzgeber ableitet, so ist es mE völlig inakzeptabel, mit der Korrektur der Sitzverteilung zu warten, bis der Landtag eine Wahlrechtsreform beschlossen und die Neuwahl in aller Ausführlichkeit vorbereitet hat. Immerhin agiert so lange eine verfassungswidrig zustandekommene falsche Mehrheit. So habe ich auch in der taz nord kommentiert.
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2010/08/31/a0017
Ich halte die Lösung des Gerichts für vertretbar aber die Frist ebenfalls für zu lang. Der Landtag sollte hier nur noch quasi geschäftsführend aber jenseits der Schaffung eines neuen Wahlgesetzes nicht mehr voll Handlungsfähig agieren dürfen. Bei der somit gebotenen Konzentration wäre eine deutlich kürzere Frist, z.B. Neuwahlen bis Ende 2010 angebracht gewesen. Der Bundestag hat während der Finanzkrise doch bewiesen wie schnell Gesetze beschlossen werden können wenn es als notwendig erachtet wird.
Gespannt bin ich darauf ob das BVerfG die Europawahl nach meiner sicherlich erfolgreichen Wahlprüfungsbeschwerde wegen der 5% Hürde (http://guido-strack.de/EU-Wahl/) wie geboten neu durchführen lassen wird, nur die Sitzverteilung neu berechnet oder auch wieder eine Fristenlösung schafft.
Verfassungsrichter sind letztlich halt auch nur Politiker (Wikipedia: “Der Begriff Politik bezeichnet die Angelegenheiten, die die Einrichtung und Steuerung von Staat und Gesellschaft im Ganzen betreffen. Er umfasst dabei alle Aufgaben, Fragen und Probleme, die den Aufbau, den Erhalt sowie die Veränderung und Weiterentwicklung der öffentlichen und gesellschaftlichen Ordnung anbelangen”) mit Roben. Ob in Deutschland, Schleswig-Holstein, den USA oder anderswo.
@Guido Strack: Die nötigen 100 Unterschriften sind also zusammengekommen?
Yiip! Insgesamt sind bisher so knapp über 200 zusammen gekommen und jetzt wird es langsam Zeit dem ganzen seine endgültige Textfassung zu geben.
Dann war die nicht aktualisierte Angabe mit den 2/3 aber ziemlich gemein!
Solange der Gesetzgeber das materielle Wahlprüfungsrecht nur rudimentär und unbrauchbar regelt, kann man dem Verfassungsgericht nicht verdenken, die Rechtsfolgen eines Wahlfehlers selbst zu bestimmen. Nach § 46 Abs. 1 LWahlG wäre dem Verfassungsgericht nur die angesichts des festgestellten Wahlfehlers offensichtlich unsinnige Anordnung einer sofortigen Wiederholungswahl geblieben.
Was die übermäßig lange Frist zur Neuwahl angeht, habe ich den Verdacht, die Richter wollten sich selbst nach Verabschiedung des neuen Wahlrechts (Mai 2011) genug Zeit geben, um etwaige Normenkontrollklagen gegen die Reform noch vor der Neuwahl entscheiden zu können. Angesichts der zwischenzeitlich zum Beispiel von der SPD vorgestellten Eckpunkte, die die Verfassungswidrigkeit ja nun ganz eindeutig nicht beheben, ist das vielleicht gar nicht so doof.