01 February 2024

Selbstergänzung zur Vermeidung politischer Blockaden des Thüringer Verfassungsgerichtshofs

Was passiert, wenn die politischen Verhältnisse in Thüringen dazu führen, dass die vakanten Richter*innenposten am Thüringer Verfassungsgerichtshof über längere Zeit unbesetzt bleiben und deshalb das Gericht funktionsunfähig wird? Die Amtsfortführung eines Mitglieds des Thüringer Verfassungsgerichtshofs ist nicht unbegrenzt möglich. Stirbt ein Mitglied, erreicht es die Altersgrenze oder wird Teil der Landesregierung oder des Landtags, scheidet es sogar unmittelbar aus dem Amt aus (siehe hierzu Gundling, ZLVR 2022, 103 ff.). Schon die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 87 Abs. 3 ThürVerf und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und das Demokratieprinzip führen, soweit der Zustand nicht nur vorübergehend ist, zu einer Beschlussunfähigkeit des Gerichtshofs. Eine solche Situation würde den Verfassungsstaat zumindest in eine Krise stürzen können, bedenkt man die vielen Aufgaben des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, die ihm durch Verfassung und Gesetz zugewiesen sind. Eine einzelne Fraktion könnte bereits mit einem guten Drittel der Stimmen im Thüringer Landtag eine Staats- oder Regierungskrise herbeiführen. Dieses Problem ließe sich lösen, wenn man als Auffangregelung für eine blockierte Nachwahl den Mitgliedern des Gerichtshofs die Ergänzung selbst überlässt.

Qualifizierte Mehrheiten und Auffangregelungen

Zur Vermeidung einer parteiisch-politisierten Besetzung des Verfassungsgerichts kommen in vielen Staaten qualifizierte Mehrheitserfordernisse für die Wahl der Mitglieder des Gerichts zum Tragen. Auch in Thüringen bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Landtag (Art. 79 Abs. 3 ThürVerf). Solche Mehrheitserfordernisse sollen eine gemäßigte und ausgewogene Besetzung des Gerichts fördern. Allerdings bergen eben diese qualifizierten Mehrheiten die Gefahr, dass bei einer starken Polarisierung oder Fragmentierung des wählenden Organs die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts durch die Blockade der notwendigen Wahlen gefährdet wird. Es müssen häufig über die einfache Regierungsmehrheit hinaus Fraktionen oder Abgeordnete gefunden werden, die die potenziellen Wahlvorschläge mittragen. Dass dies zumindest zeitaufwändig ist, haben in Thüringen bereits die vergangenen Jahre gezeigt (bspw. Gundling, ZLVR 3/2018, S. 105 ff.). Das mag auch der geringe Grad der Regulierung des Vorschlagsrechts (Lembcke, in: Reutter, Landesverfassungsgerichte, 2017, S. 393 ff.) bedingen.

Damit die Verfassungsgerichte nicht ihre Funktionsfähigkeit durch blockierte Wahlen verlieren können, gibt es in einigen Ländern Auffangregelungen. Die in der Umsetzung einfache Möglichkeit, lediglich das Mehrheitserfordernis im Wahlorgan nach erfolglosen Wahlgängen abzusenken, birgt – ähnlich der Lösung, dass sich per gesetzlicher Regelung die Amtszeit des ausscheidenden Mitglieds verlängert – die Gefahr, dass durch die politischen Kräfte im wählenden Organ bewusst eine Blockade der Wahl provoziert wird. Die Auffangregelung kann in diesen Fällen unmittelbar zur Zielerreichung durch diese politischen Kräfte missbraucht werden. Ganz ähnlich verhält es sich bei Automatismen, beispielsweise, dass ein Wahlvorschlag ohne Wahl zum Tragen kommt oder ein Richter eines anderen Gerichts aufgrund der ausbleibenden Wahl als Mitglied in das Verfassungsgericht vorrückt. Eine weitere Möglichkeit wäre schließlich, dass andere Organe an die Stelle des Wahlorgans – in Thüringen an die Stelle des Landtags – rücken (siehe bspw. Gertrude Lübbe-Wolff, Beratungskulturen, 2. Aufl. 2023, S. 234 ff.).

Selbstergänzung als Auffangregelung – ein Vorschlag

Bei den Auffangwahlorganen stellt sich in jedem Fall die Frage, wie diese zusammengesetzt werden und worauf sie ihre (demokratische) Legitimation stützen können. Müssen sie ad hoc gegründet werden, was immer auch Zeit in Anspruch nimmt, oder wird einem bestehenden Gremium diese Aufgabe zusätzlich übertragen? Am einfachsten und schnellsten ist es sicher, ein bestehendes Gremium für eine solche Regelung auszuwählen, da sich sonst die Frage der Zusammensetzung und in der Folge die Frage der Auswahl der entscheidenden Akteur*innen stellt. Möchte man auf ein bestehendes Gremium zurückgreifen, ist es sehr naheliegend, den Verfassungsgerichtshof selbst als Auffangwahlorgan vorzusehen. Dieser verfügt einerseits über direkt durch den Landtag selbst vermittelte demokratische Legitimation und ist andererseits fachlich bestens geeignet, die Auswahlentscheidung zu treffen. Darüber hinaus ist diesem Gremium zu unterstellen, dass es selbst an der eigenen Arbeitsfähigkeit interessiert ist.

In Thüringen müsste eine solche Auffangregelung über eine Verfassungsänderung eingeführt werden, wofür ebenfalls die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtags notwendig ist, sieht man von der Möglichkeit des Volksentscheids ab (Art. 83 Abs. 2 ThürVerf). Eine solche potentielle Auffangregelung sollte in jedem Fall als Ausnahme ausgestaltet sein und daher nicht unmittelbar nach einem gescheiterten Wahlversuch zum Tragen kommen. Damit das mögliche Selbstergänzungsrecht aktiviert wird, bedarf es zunächst eines Zeitrahmens, in dem der Landtag vergeblich versucht, ein oder mehrere Mitglieder zu wählen. Den politischen Kräften muss eine Zeit der Verständigung und der Suche nach geeigneten Mitgliedern eingeräumt sein, denn der Thüringer Landtag hat in seiner jüngeren Vergangenheit bereits gezeigt, dass er für die Findung und Wahl geeigneter Kandidat*innen auch mal längere Zeit benötigt. Gelingt die Wahl innerhalb eines gewissen Zeitraums nicht – es erscheinen hier mehrere Monate, mindestens ein halbes oder gar ein ganzes Jahr zur politischen Entscheidungsfindung angemessen – so wird das Selbstergänzungsrecht des Thüringer Verfassungsgerichtshofs aktiviert. Um mögliche, explizit herbeigeführte Blockaden des Selbstergänzungsrechts durch die politischen Akteur*innen zu vermeiden, sollten neben dem bloßen Zeitablauf keine weiteren Voraussetzungen, wie beispielsweise zwei gescheiterte Wahlgänge im Landtag, formuliert werden.

Wahl durch den Verfassungsgerichtshof

Der Verfassungsgerichtshof hätte durch eine solche Auffangregelung die Besetzung in seiner Hand. Nach den Regelungen zur Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs gemäß Art. 79 Abs. 2 ThürVerf, § 2 ThürVerfGHG besteht der Verfassungsgerichtshof aus neun Mitgliedern, denen neun stellvertretende Mitglieder zur Seite gestellt sind. Präsident und Vizepräsident stammen aus dem Drittel der Mitglieder, das dem Kreis der Berufsrichter*innen angehören muss, mindestens ein weiteres Drittel muss die Befähigung zum Richter*innenamt nachweisen und ein weiters Drittel kann aus Laienrichter*innen gebildet werden. Das Mehrheitserfordernis gilt für die Wahl im Verfassungsgerichtshof analog. Wie im Landtag müssen mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Thüringer Verfassungsgerichtshofs für eine*n Kandidat*in stimmen. Es empfiehlt sich, dabei sowohl Mitglieder als auch stellvertretende Mitglieder als Teil des Wahlorgans zu begreifen. Dies erhöht einerseits die Notwendigkeit der Verständigung und reduziert andererseits die Gefahr, dass sich die Wahlentscheidung nur auf wenige Mitglieder reduziert. Das Legitimationsniveau der Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder ist jedenfalls etwa äquivalent (§ 2 Abs. 2 ThürVerfGHG). Insbesondere erscheint der Einbezug der stellvertretenden Mitglieder für den Fall sinnvoll, dass eine größere Zahl an Mitgliedern aufgrund des Erreichens der Altersgrenze oder Tod aus dem Verfassungsgerichtshof ausscheiden und sich somit die Zahl der Wählenden erheblich reduziert. Soweit die Mitglieder, deren Position neu gewählt werden muss, noch in der Amtsfortführung sind, also nicht aufgrund des Erreichens der Altersgrenze oder anderen Gründen ausgeschieden sind, gehören sie ebenso dem Auffangwahlorgan an.

Vereidigung vor dem Landtag

Ist ein Mitglied vom Verfassungsgerichtshof erfolgreich gewählt worden, gelten für die Amtszeit zunächst dieselben Regeln, wie für die ordentlich im Landtag gewählten Mitglieder. Fraglich ist in der Folge auch die Regelung der Ernennung des vom Thüringer Verfassungsgerichtshof gewählten Mitglieds. § 5 ThürVerfGHG kann allerdings auch bei der Ergänzung der oben genannten Absätze unverändert beibehalten werden. Jedenfalls erscheint es sinnvoll, dass die durch den Verfassungsgerichtshof selbst gewählten Mitglieder ebenso vor dem Landtag den Amtseid leisten müssen. Außerdem behält der Landtag selbstverständlich das Recht, über die Nachfolge des vom Verfassungsgerichtshof gewählten Mitglieds zu entscheiden, wenn deren*dessen Amtszeit regulär ausläuft. Es muss sich also nach Ablauf der Amtszeit dieses Mitglieds die Wahl im Landtag erneut als unmöglich herausstellen, bevor das Gericht erneut besetzend tätig werden kann.

Nachträgliche Korrektur der Besetzung durch den Landtag

Der Vorschlag sieht allerdings keine nachhaltige Beschränkung des parlamentarischen Einflusses vor; insbesondere soll der Landtag als Korrektiv auf die Wahl durch den Verfassungsgerichtshof reagieren können. Nachdem es dem Landtag zunächst eine gewisse Zeit lang nicht gelingt, ein Mitglied zu wählen, wählen die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs zwar selbst das dann vakante Mitglied. Allerdings kann dem Thüringer Landtag das Recht eingeräumt werden, das vom Verfassungsgerichtshof gewählte Mitglied durch ein anderes, mit einer Zweidrittelmehrheit im Landtag ordentlich gewähltes Mitglied zu ersetzen, auch wenn die Amtszeit des durch den Verfassungsgerichtshof gewählten Mitglieds noch nicht abgelaufen ist. Damit kann der Landtag die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs jederzeit korrigieren; die Intention des Thüringer Verfassungsgebers wird somit nicht ersetzt, sondern lediglich um eine Auffangregelung ergänzt; die Volksvertretung behält jederzeit das Recht, den Verfassungsgerichtshof zu besetzen.

Verfassungsgerichten kommt in politisch herausfordernden Zeiten eine verantwortungsvolle Rolle zu. Um dieser gerecht werden zu können, müssen die Verfassungsgerichte unproblematisch handlungsfähig sein; hierfür kann der (Verfassungs-)Gesetzgeber Vorkehrungen treffen, nicht zuletzt um existenzielle Verfassungskrisen abzuwenden. Die vorgestellte Möglichkeit ist nur eine denkbare Möglichkeit. Sie ist eine Regelung, die zum Ziel hat, die Rechte des Landtags in möglichst geringer Weise zu beschneiden, ohne zugleich die hohen Anforderungen an die Auswahl stark herabzusetzen.

Darüber hinaus sind weitere Möglichkeiten zur Lösung denkbar, wie ein Landesgesetz, dass für den Fall eines handlungsunfähigen Verfassungsgerichtshofs dem Bundesverfassungsgericht gem. Art. 99 GG die Entscheidung in Landesstreitigkeiten zuweist. Ein solches Gesetz würde auch nur eine einfache Mehrheit im Landtag benötigen, wäre also aktuell politisch leichter umzusetzen. Dann aber werden die landeseigenen Streitigkeiten nicht mehr im Land, sondern auf der Ebene des Bundes entschieden – wie ggf. auch, wenn nach einem dauerhaften Ausfall des Verfassungsgerichtshofes der Fall des Art. 28 Abs. 3 GG greift.


SUGGESTED CITATION  Gundling, Lukas C.: Selbstergänzung zur Vermeidung politischer Blockaden des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, VerfBlog, 2024/2/01, https://verfassungsblog.de/selbsterganzung-zur-vermeidung-politischer-blockaden-des-thuringer-verfassungsgerichtshofs/, DOI: 10.59704/0649f858cd14f186.

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