08 April 2025

Kreative Kassenführung à la Karlsruhe?

Astrid Wallrabensteins Sondervotum zum Soli-Urteil

Nach den Sondervermögen nun ein Sondervotum. Die Karlsruher Entscheidung vom 26. März bestätigte die Verfassungskonformität des sogenannten Solidaritätszuschlags in seinem aktuellen Zuschnitt. Die das Urteil mittragende Richterin Astrid Wallrabenstein fügte eine abweichende Meinung an. Sie halte die „Maßstabsbildung und den damit konstruierten Kontrollanspruch des Senats darüber, ob vom Gesetzgeber angeführte Finanzbedarfe (fort)bestehen, […] für verfehlt.“ Indem der Zweite Senat „die Ergänzungsabgabe an materielle Voraussetzungen“ binden wolle, verkürze er „einseitig“ den bundesgesetzgeberischen „Gestaltungsspielraum“ zulasten der Fiskal- und Sozialzwecke.

Da Urteil und Sondervotum zufällig in eine Phase fallen, in der die Bundesrepublik chaotisch nach alternativen Finanzierungswegen sucht, fällt es schwer, die Sache nicht auch politisch zu interpretieren. Weniger ist Mitgefühl angezeigt, dass der Karlsruher Termin den Berliner Wunschkoalitionären ausgerechnet während des fiskal- und haushaltspolitischen Superstresses der letzten Wochen on top kam. Vielmehr ist von Pech zu sprechen, denn gerade die von Wallrabenstein monierte höchstrichterliche Berufung auf bitte doch „evidente“ Belastungsgründe für eine befristete Sondersteuererhebung wäre eine Steilvorlage für eine einfachgesetzliche Verteidigungssonderabgabe ohne Bundesratsbeteiligung gewesen.

Insofern kam das Urteil gleich doppelt zur Unzeit. Zur „Zeitenwende“ kam es zu spät, und zum gigantischen nächsten „Doppelwumms“ des neuen Schuldenpakets dürfte die Berliner Furcht vor einem negativen Urteil sogar zusätzlich Anlass gegeben haben, zumal ja schon das Ende der letzten Bundesregierung durch eine Karlsruher Fiskalentscheidung eingeleitet worden war. Insofern verstärken und verdeutlichen Entscheidung und Sondervotum ein grundlegendes Dilemma der „gespenstisch“ okkasionellen Finanzverfassungspolitik: Ihr zugleich überkonstitutionalisierter und erratischer Charakter macht sie störrisch gegenüber den global rasanten Umbrüchen der finanz- und geopolitischen Ökonomie, verführt genau darum aber diverse Interessenten zu verfassungsrechtlich innovativen Instrumentalisierungen.

Wenn der Verfassungstext blaumacht

Gewiss hat Karlsruhes subtile Fiskalpolitik Tradition. Sie ist sogar ein Grundzug der bundesrepublikanischen Finanzverfassungsgeschichte, allemal ihrer kriseninduzierten Meilensteine. Dass sich in der aktuellen Entscheidung auch ein Echo früherer Krisen- und Krisenreaktionslagen zeigt, ist darum kein Zufall. Angefangen hatte alles mit Ernst Forsthoffs Anliegen, durch einen Kompromiss zwischen property und prosperity den totalen Staat der Daseinsvorsorge zu einem Steuerstaat zu domestizieren, der die nach oben offene Wachstumsskala miterklimmt. Erfolgreiches Ziel dieser für den bundesrepublikanischen Wachstums-Boom charakteristischen Intervention war es, eine konträre, tendenziell linksradikale Ausdeutung des Sozialstaatsprinzips aufzuhalten, namentlich umverteilende bis konfiskatorische Besteuerungschancen (nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 und 3 GG) durch eine fundamentale Eigentumsgarantie auszuschalten. Sozialen Ausgleich und demokratische Umverteilung wollte Forsthoff auf die gleichmäßige Besteuerung von industriegesellschaftlichen Produktionserträgen dressieren. Kaum minder out of the constitutional blue kam Paul Kirchhofs „Halbteilungsgrundsatz“, der ungeachtet der Mission ihres Schöpfers eine grundgesetzliche Variante der zeitgenössisch populären Ökonomischen Politiktheorie etablierte. Mit bezeichnender Analogie zu Ehe und Scheidung hatte Kirchhof eine „faire“ Teilung der nur gemeinsam möglich gewordenen Zugewinne zwischen Bürgern und Staat auf eine 50%-Marke beschränkt.

Mit solch folgenschweren Richtungsentscheidungen waren Anreize gesetzt, eine emanzipatorische Auslegung des Grundgesetzwortlauts durch quantifizierbare Benchmarks und wirtschaftsdynamische Verschränkung zu zügeln. Diese Mentalität mag man steuermoralisch nachvollziehen können, auch buchhalterisch und kaufmännisch usf. Politisch freilich unterfängt das Ganze die Ökonomie eines existenziell auf Privatwirtschaftswachstum konditionierten Alleinsteuerstaates, gegen dessen eigentlich unbegrenzte Besteuerungsgewalt Karlsruhe bei günstigen Gelegenheiten offenbar immer wieder einmal verfassungstextlich ungedeckte Brandmauern erfindet. Fernwirkungen solcher Versuche, eine fiskaldemokratische Entwicklung des Grundgesetzes mathematisch auszuhebeln, reichen bis zur offenbar technokratisch ausgedachten „Konjunkturkomponente“ der „Schuldenbremse“, die eine legale Umgehung der Neuverschuldung an scheinökonomisch-objektive Grenzwerte koppelte.

Eine vergleichbare Skepsis gegenüber einer quantitativen Qualifizierung der Verfassungsmäßigkeit markiert nun Wallrabensteins Sondervotum. Die in seine Urteilsbegründung eingeschleuste „neue Benennungspflicht (Rn. 100, 104, 111) und Beobachtungsobliegenheit (Rn. 77, 118f.)“, mit denen der Zweite Senat dem Gesetzgeber einen rechnerischen Nachweis der materiellen Voraussetzungen für die Erhebung des Solidaritätszuschlags auferlegt und sich selbst die Prüfung der Angemessenheit beimisst, individualisiere gewissermaßen die Steuerstaatsnorm des Grundgesetzes zu einem für jedermann via Verfassungsbeschwerde reklamierbaren Zahlenwert. Die dadurch erzeugte Unsicherheit lasse gar eine „Wirkung in der Tradition des Vermögensteuerbeschlusses“ befürchten. Letztlich also: fiskalischer Verzicht auf eine vielfach wichtige Steuer infolge eines verfassungsgerichtlichen Sowohl-als-auch. Die Detailbegründung des neuen Urteils zeige damit nicht nur eine gewaltenteilig und demokratisch fragwürdige „Bereitschaft“ des Bundesverfassungsgerichts, durch einen „für das Steuerrecht grundlegend neuartigen“ Trick wieder „in die Finanzpolitik einzugreifen“. Sie unterstreiche erneut, ich pointiere, den Karlsruher Willen zur „Erweiterung der Eigentümerstellung zu einem Kontrollrecht über Staatsausgaben“.

Was vom Solidaritätszuschlag bleibt

Das sind schwere Geschütze. Gerade kollegial spricht sich ein derart anti-libertär zuschlagender Vorwurf wohl nicht leicht aus, eine Judikative, die mit Ignoranz gegen das Sozialstaatsprinzip ihre Verfassungskompetenzen überschreite, ebne plutokratischer Renitenz den Weg.

Um den notorisch umstrittenen Solidaritätszuschlag an sich geht es dabei offenkundig nur bedingt. Mit ihrem jährlichen Aufkommen von, laut Urteilsbegründung, zuletzt zwischen 18 und 11 Milliarden bereits verplanten oder ausgegebenen Euro, die womöglich auch bis 2021 rückwirkend zu erstatten gewesen wären, stand sicher das Risiko eines beträchtlichen Erstattungs- und Ausfalldefizits im Raum. Generell aber ist die ab 1995 durch einen „Aufbau Ost“ spezifisch begründete Ergänzungsabgabe mit abschmelzendem Gesamtvolumen längst kein Riesenpfund im Bundesjahreshaushalt mehr. Aufgrund des strukturellen Rückgangs der einigungsbedingten Mehrkosten ist sie ein allmählich verfallender Übergangsposten. Darum war er mittlerweile bereits dahingehend reformiert und angepasst worden, dass ausschließlich noch Besserverdienende, Unternehmen und Kapitalerträge direkt belastet werden.

Die Beschwerdeführer nun sahen just dadurch die grundgesetzliche Eigentumsgarantie berührt und vermuteten überdies einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Das ist durchaus ein Politikum. Denn taktisch zielte der Doppelansatz der Beschwerdeführer auf eine so und so willkommene Option. Entweder eine über den abzuwehrenden Eigentumseingriff begründete Abschaffung der Ergänzungsabgabe, inklusive rückwirkender Erstattung. Oder aber Wiederverbreiterung der zweckgemäßen Gesamtsteuerschuldaufteilung, de facto also: Steuererhöhung für die Bevölkerungsmehrheit mit relativ dazu stark sinkendem Progressionsniveau.

Denn ein weiteres Politikum liegt im technischen Charakter der Ergänzungsabgabe selbst. Als Finanzbelastung aufgrund eines in Dauer und Höhe begrenzten Mehrbedarfs des Bundes ist dieses Instrument doppelt aufgabenbezogen. Es ist auf einen nachweisbaren Zweck implizit nationaler Tragweite beschränkt, dessen Verfolgung in Bundeshand liegt und darum weder beliebig ausgeweitet noch an Gliedstaaten und Kommunen delegiert werden kann. Der Aufschlag auf gängige Steuern (darum: „Ergänzung“) soll Missbrauch vereiteln (z.B. Steuererfindung oder „erdrosselnde“ bis konfiskatorische Belastung). Handelt es sich mithin um ein zwar vorübergehendes Zusatzmittel, so doch um ein finanztechnisch bequemes, für umverteilende Gestaltung offenes, bundesregierungsseitig attraktives und fiskalisch moderates Instrument.

Nur ein aufgabenbezogener und struktureller Mehrbedarf also begründet eine Alleinzuständigkeit des Bundes. Gerade diese rechtliche Konstruktion hat aber haushaltsplanerische Folgen, denn tendenziell liegt tatsächlich eine recht einfache Gleichung vor. Je beispielsweise konjunkturbedingt höher das Aufkommen der Ergänzungsabgabe ist, desto spürbarer sollten die Steuertarife gesenkt werden, um keine Überschüsse zugunsten potentiell zweckfremder Verwendung zu riskieren. Hier setzt die neuartige Ableitung des Zweiten Senats an: Der Haushaltsgesetzgeber sei in der Pflicht, fortbestehenden Bedarf rechnerisch nachzuweisen.

Ein besonderes Politikum ist konkret der Solidaritätszuschlag lediglich seiner eigentlichen Zweckbegründung nach. Dass er entgegen des Begründungsanscheins keine Zwecksteuer von West- für Ostdeutsche, sondern orts- wie geburtsunabhängig zu zahlen ist und auch ganz allgemein im Gesamthaushalt des Bundes aufgeht, hat die irreführenden Klischees und Ressentiments gegen ihn nie beseitigen können. Wie die legendäre Schaumweinsteuer für die Ertüchtigung der kaiserlichen Kriegsmarine leidet der Solidaritätszuschlag von jeher an einer populistischen Schlagseite, die nicht zuletzt auf die Ambivalenz jeder Zwecksteuerrhetorik selbst zurückzuführen ist. Die Politik spielt gern mit klientelgefälligen Assoziationen („Reichensteuer“). Deren falsche Versprechen entfalten aber eigene Kraft und wenn die vox populi sich dreht, verkehrt sich der gute Wille schnell ins Gegenteil. Wer heute „Ossi-Abgabe“ googelt, wird jedenfalls verlässlich zum Wikipedia-Eintrag „Solidaritätszuschlag“ manövriert. Und auch angesichts der deutlich abgesetzten Wahlergebnisse in den nicht mehr neuen Bundesländern wäre jede mit einem Ostdeutschlandmakel stigmatisierte finanzpolitische Reaktion auf ein negatives Urteil aus Karlsruhe wohl hässlich geworden.

Ein anderes Urteil, kurzum, hätte die Sache haushalterisch verkompliziert, die nach Karlsruhe getragene Skepsis in die weite Bevölkerung hinein verbreitert, an einigungspolitischen Wunden gekratzt und die Koalitionsverhandlungen zusätzlich belastet. Die voraussichtlich kommende Koalition kann sich nicht zuletzt glücklich schätzen, weil ihr programmatischer Zielkonflikt zwischen progressiver Belastung und Haushaltsentlastung einerseits, Sozialleistungsrückbau und Unternehmensentlastung andererseits um immerhin diese Baustelle ärmer geworden ist.

Die Eleganz des Sondervotums

Was leistet nun Wallrabensteins Sondervotum? In der Tradition abweichender Meinungen als „diskursivem Instrument“ liefert es zunächst einmal Vorratsargumente für gesetzgeberische Gestaltung und spätere Urteile. Dass es die Gesamtentscheidung in der Sache mitträgt, ist verständlich, insofern das Gericht die „Einschätzungsprärogative“ des Gesetzgebers beim Ermessen und Gestalten der Ergänzungsabgabe bekräftigt. Weder wurde der Verfassungsbeschwerde wegen etwaiger Ungleichbehandlung seit 2021 durch Sozialstaffelung stattgegeben, noch sei ein „evidenter“ Fortfall des Sonderfinanzierungszwecks derzeit feststellbar. Wallrabensteins Anliegen der Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips sind ebenso vom Urteil gedeckt wie ihre Bedenken gegen eine allzu aktive Revitalisierung des „Halbteilungsgrundsatzes“.

Das Sondervotum unterstellt anderes auch nicht. Es richtet sich aber gegen die Selbstermächtigung des Gerichts zur zukünftigen Kontrolle von Staatseinnahmen auf Grundlage buchhalterischer Rechenschaftskriterien. Denn der im Urteil vordergründig einmal mehr ausgetriebene Geist des längst kassierten Halbteilungsgrundsatzes wird durch eine dahingehend selbstwidersprüchliche Urteilsbegründung wiederbelebt. Unter Berufung auf die Forsthoff-Tradition verdeutlicht Wallrabenstein dies anhand eines anderen Sondervotums (abweichende Meinung BVerfGE 93, 121), mit dem Ernst-Wolfgang Böckenförde sich 1995 gegen eine durch Steuerverschonung konstitutionalisierte Vermögensprivilegierung ausgesprochen hatte. Wider eine tendenziell libertäre Steuerstaatsdeutung lieferte Böckenförde Vorratsargumente, die es heute vielleicht mehr denn je braucht. Denn eine Privilegierung, so Böckenförde und nun implizit wohl Wallrabenstein, drohe mit Karlsruher Hilfe intensiviert zu werden, wenn ausgerechnet – mittlerweile obendrein immer wenigere und reichere – Vermögens- und Wirtschaftseliten Steuern als das faktisch einzige Finanzmedium für aktive Umverteilung in der Bundesrepublik noch weiter depotenzieren dürfen.

Das ist die Stoßkraft des neuen Sondervotums. Es moniert die „einseitige“ Anlage einer Entscheidung, die für die Zukunft ankündigt, dass sie sich zwischen den in Artikel 14 des Grundgesetzes angelegten „Pole[n]“ Privatnützigkeit und Sozialbindung auf der Seite der Privatnützigkeit positioniere. Denn das Gericht „konstruiere“ einen von Interessierten leicht aktivierbaren „Kontrollanspruch“ darüber, „ob vom Gesetzgeber angeführte Finanzbedarfe“ überhaupt „(fort)bestehen“ und ob das Steueraufkommen diesem Bedarfsplan entspricht oder nicht. Diese Mahnung richtet sich wohl nicht zuletzt gegen eine vor zwei Jahrzehnten im selben Geist versuchte Diskussion über Gebühren- statt Steuerstaatlichkeit. Die hatte man zwischenzeitlich zwar erfolgreich abgeräumt geglaubt. Doch scheint das Bestellerprinzip proportionalen Gebens und Nehmens durch die Hintertür zurückzukehren, wenn Steuerpflichtige einen Leistungsnachweis des Bundes geltend machen können.

Nicht allein die extreme Dichte, mit der Urteil und Urteilsverkündung das heikle Modewort der „Evidenz“ bemühen, um der geforderten Nachweispflicht des Haushaltsgesetzgebers öffentlich Nachdruck zu verleihen, lässt erahnen, welch positivistisches Glaubensbekenntnis die Senatsverhandlungen durchwirkte. Auch die Überschneidung dieses Denkens mit dem libertären Konstitutionalismus der späten Chicago School frappiert – jener modernen Fiskalökonomie, die von Steuerbewilligung bis Schuldenbremse die Staatsfinanzen entlang eines Besteller- und Gebührenideals auf individuelle Veto-Grundrechte ausrichten zu können hoffte.

Eine dagegen „freiheitssichernde Korrektur“ der Eigentums- und Vermögensverhältnisse durch Besteuerung und steuerpolitische Gestaltung verortet Wallrabenstein (mit wenigen Anspielungen auf Böckenfördes Sondervotum zum Menetekel der letztlich verfassungsgerichtsbedingt ausgesetzten Vermögensteuer) beim Gesetzgeber und nicht beim Gericht. Sie ist nicht bereit, die finanzpolitische Gestaltung dem Belieben einzelner Steuerschuldner mittels Verfassungsbeschwerde anheimzustellen. Denn würde ausgerechnet „die Erhebung derjenigen Steuer“ eingeschränkt, „mit der der Bundesgesetzgeber eine kontinuierliche Umverteilungswirkung erzielen kann, ohne hierfür auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen zu sein“, wäre der Bundestag in seinen Budgetentscheidungen „nicht nur allen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber demokratisch“ verantwortlich, sondern „[z]usätzlich […] nun speziell denjenigen, deren Eigentum er durch eine Ergänzungsabgabe belastet, nochmals rechenschaftspflichtig.“

So wahrt das neue Sondervotum elegant die Balance zwischen dem relativ kleinen Budgetposten Solidaritätszuschlag einerseits und der womöglich großen Bedeutung subtiler Seitenpfade der Urteilsbegründung andererseits. Dass diese verteilungs- und demokratiepolitische Sorge, die per Urteilsbegründung geschaffene Evidenzqualifikation unterminiere das Sozialstaats-, Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip, ausgerechnet am Fall des Solidaritätszuschlags zum Tragen kommt, ist dennoch mehr als eine semantische Ironie. Schließlich war nicht das Interesse an einer Gerechtigkeit und Gleichheit korrektiv stützenden Steuerpolitik ursächlich für seine Einführung. Vielmehr galt es damals, eine materielle Grundlage für die Norm tendenziell gleichwertiger Lebens-, Selbstverwirklichungs- und demokratischer Teilhabechancen in alten und neuen Bundesländern mit finanzpolitischer Hilfe überhaupt erst herzustellen.

Ausmaß und Gründe der verfestigten ostdeutschen Frustration über die deutsch-deutschen Realisierungsgrade dieses Ideals brauchen hier nicht Thema zu sein. Ihre ökonomischen Faktoren und (anti-)demokratischen Regressionseffekte sind bekannt. Mit dafür eindrücklicher Sensibilität lässt das Sondervotum anklingen, dass die der Urteilsbegründung zugrundeliegende maßstäbliche Reduzierung des Ideals auf fixe Zahlen weder programmatische noch juristische Objektivität genießt. Immerhin könnte der Souverän den Gestaltungsrahmen des Vereinigungs- und Angleichungsideals erweitern wollen. Stattdessen aber verpflichtet uns Karlsruhe zu einem Preisschild und gibt sogar an, wann der Produktionsplan Deutsche Einheit erfüllt sei.

Fiskalischer Konstitutionalismus

Das Urteil fügt sich in zwei allgemeinere Trends ein, die mir abschließend bedenkenswert erscheinen. Erstens in einen Trend, der partikularistischen Akteuren haushaltswirksame Willkürmacht zubilligt. Auch die Karlsruher Entscheidung liefert einen quasi individualistischen Baustein für das Syndrom eines fiskalischen Konstitutionalismus, das allerlei Spezialinteressen gegen parlamentarische Finanzhoheit imprägniert und verheerend gegen demokratische Normalhaushaltsplanung wirkt. Gewiss scheint das Urteil bloß der allenthalben um sich greifenden Kreativität bei der Erfindung und Bewältigung großer Finanzierungsnöte kleine Grenzen aufzuzeigen oder wenigstens Spurrillen für die legale Fiskalierung außergewöhnlicher (Infra-)Strukturbedarfe vorzupflügen. Gleichwohl muss, zweitens, der Eindruck entstehen, dass im Nebel der so krisenreichen Weltsonderlage und des okkasionellen Berliner „Doppelwumms II“ auch Karlsruhe ein Gelegenheitsfenster ausnutzte.

Immerhin gewinnen seit geraumer Zeit immer mehr suprastaatliche, substaatliche, gewaltenteilige und lobbyistische Akteure Mitsprache über nationalstaatliche Fiskalspielräume und deren makroökonomische Stellschrauben. Der Staat selbst lädt dazu ein, hat er doch – in der Summe routinepanische – Begründungsmuster etabliert, die signalisieren: Außer der Reihe bedient wird, wer irgendwelche Super- und Spezialbedarfe zu markieren versteht. Auch darum ist die gepflegte Verschleierung der Politischen Ökonomie der deutschen Finanzverfassung und ihrer strukturellen Profiteure exakt seit Einführung der „Schuldenbremse“ immer stärker einem ad hoc-Exzeptionalismus im „taktische[n] Spiel mit“ den parlamentarischen und fiskalischen „Verfassungsebenen“ gewichen, den das demokratisch implosive Interregnum zwischen 20. und 21. Bundestag zufällig sichtbarer denn je werden ließ.

Doch umso mehr nur ist anzunehmen, dass auch die erneut so eigenmächtige Karlsruher Reservierung von exklusiven Zugriffs- und definitiven Kontrollrechten über spezifische Fiskalinstrumente den allgemeinen Ausnahmecharakter der Lage sehr genau durchschaut, sich selbst neu aufstellt und für kommende Gefechte rüstet. Will man die vordergründige Geringfügigkeit der Karlsruher Entscheidung und Wallrabensteins abweichende Meinung an diesem Befund spiegeln, gehören Sonderabgabe und Sondervotum mit der Politischen Ökonomie von „Sondervermögen“ bis „Schuldenbremse“ unter den globalen Bedingungen fiskalischer Transformationen geo-, verteilungs- und regimepolitischer Konkurrenz zusammengedacht. Das freilich würde eine schonungslosere Bestandsaufnahme des Status quo erfordern, als es eine mantrahafte Berufung auf das Steuer- und Sozialstaatsprinzip leistet.


SUGGESTED CITATION  Huhnholz, Sebastian: Kreative Kassenführung à la Karlsruhe?: Astrid Wallrabensteins Sondervotum zum Soli-Urteil, VerfBlog, 2025/4/08, https://verfassungsblog.de/soli-urteil-bverfg-sondervotum/, DOI: 10.59704/786be6dbebb190f2.

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