Sozialstaat ist nicht nur für die Unsrigen
Soziale Absicherung ist ein Menschenrecht. Der Anspruch, über das für eine menschenwürdige Existenz nötige Minimum an Mitteln zu verfügen, ist nicht allein etwas, das Angehörige eines Gemeinwesens einander solidarisch schuldig sind. Er kommt jedem zu. Auch dem Fremden, der uns nichts angeht. Auch dem, der nicht dazu gehört. Auch dem, von dem wir im Zweifel nichts an Gegenleistung für uns erwarten können. Auch er/sie ist ein Mensch. Und das ist Grund genug, uns in Anspruch nehmen zu können. Denn hier geht es um Menschenwürde, nicht um Solidarität.
Das war eigentlich auch vorher schon klar. Verfassungsdogmatisch enthält die heutige Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG zum Asylbewerberleistungsgesetz nichts Grundlegendes, das das Urteil vom Februar 2010 zu Hartz IV nicht auch schon enthalten hätte (mehr zum Hintergrund hier).
Dennoch ist es das Verdienst der heutigen Entscheidung, diese Konsequenz in aller Klarheit deutlich gemacht zu haben: Sozialstaat, das ist nicht nur für die Unsrigen. Wir haben es mit einem Menschenrecht zu tun. Das ist keine Kleinigkeit.
Das sieht man zum Beispiel daran, dass die Überlegung, dass das Existenzminimum in Deutschland womöglich für viele faktisch höher liegt als das Existenzmaximum im Kongo, keine Rolle spielen darf. Da mag die CSU mit den Zähnen knirschen, bis ihr der Kiefer weh tut. Aber das Argument, Sozialhilfe sei ein Migrationsanreiz, wird verfassungsrechtlich schlicht nicht gehört. Denn, so das BVerfG lapidar:
Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.
(Wer ist das, der im Ersten Senat immer diese wunderbar epigrammatischen Sätze formuliert? Irgendjemand hat da eine echte poetische Begabung. Da wäre ich mal um einen Insider-Tipp dankbar.)
Konsistenz in der Politik
Zwei Dinge scheinen mir darüber hinaus bemerkenswert an dem heutigen Urteil.
Zum einen reagiert es, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, auf eine oft gehörte Kritik am Hartz-IV-Urteil: Darin hatte der Senat dem Gesetzgeber vorgehalten, er müsse beim Errechnen des Existenzminimum stets transparent, konsistent und folgerichtig vorgehen und nachweisen können, dass und wieso das gefundene Ergebnis das Beste und Richtige sei; sonst sei seine Arbeit schon deshalb verfassungswidrig.
Das fanden viele unpolitisch: Es gibt unterschiedliche Vorstellungen, was zum Führen einer menschenwürdigen Existenz minimal notwendig ist, und Sache der Politik ist es, zwischen diesen Vorstellungen einen Kompromiss zu finden. Wenn der eine sagt, zwei Euro reichen allemal, und der andere sagt, unter vier Euro geht gar nichts, dann einigt man sich auf drei Euro. Das ist dann nicht besonders transparent oder konsistent, aber ist das deshalb gleich verfassungswidrig?
Jetzt stellt der Senat klar, dass es auf das Ergebnis ankommt, nicht das Verfahren:
Das Grundgesetz schreibt (…) nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und berechnen ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen.
Der Gesetzgeber sei frei, sich für die eine oder andere Methode zur Berechnung zu entscheiden, aber eine Methode muss er schon haben. Es bleibt dabei: Wenn er einfach irgendwas ins Gesetz schreibt, dann ist das ein hinreichender Grund, es für verfassungswidrig zu halten.
Gesetzgebung mit Ortsmarke Karlsruhe
Der andere Punkt: die Übergangsregelung.
Das AsylbLG einfach für nichtig zu erklären, hätte bedeutet, dass die Flüchtlinge statt wenig gar nichts bekommen, dass man also ein verfassungswidriger Zustand durch einen noch verfassungswidrigeren ersetzen würde. Das geht natürlich nicht.
Normalerweise gibt es dann in so einem Fall eine Übergangsfrist: Das verfassungswidrige Gesetz gilt noch ein halbes Jahr weiter, damit der Gesetzgeber in dieser Zeit für verfassungsmäßige Zustände sorgen kann.
Offenbar besaß der Senat in diesem Fall aber kein Vertrauen darin, dass der Gesetzgeber das auch tatsächlich tun würde. Denn dass diese Pflicht auf ihn zukommen würde, war ihm ja schon seit dem Hartz-IV-Urteil 2010 klar. Aber geschehen ist nichts. Kein Politiker der Regierungskoalition hat große Lust, seinen Namen auf ein Gesetz zu schreiben, das mehr Geld für Asylbewerber ausgibt.
Deshalb geht das Gericht jetzt anders vor: Es wird selbst gesetzgeberisch tätig.
Dazu nimmt es das reformierte Hartz-IV-Gesetz, nimmt die darin ermittelten Regelbedarfsstufen und die Systematik des AsylbLG und steckt sich daraus eine Übergangsregelung zusammen, die obendrein auch noch rückwirkend gelten soll, nämlich seit dem 1. Januar 2011. Das erscheint ihm
angemessen, weil sich der Gesetzgeber spätestens mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) auch im Hinblick auf das Asylbewerberleistungsgesetz auf die Notwendigkeit einer Neuregelung einstellen musste.
Und in Zukunft, wie lange wird dieses Übergangsgesetz gelten? Es gibt keine Befristung. Zwar betont das Gericht ausdrücklich, dass der Gesetzgeber verpflichtet bleibt, seinen Job zu tun. Aber solange er das nicht tut, gilt das Gesetz aus Karlsruhe.
(Ein paar minder gewichtige Praktikabilitätsüberlegungen: Wie muss man sich das jetzt vorstellen? Wird das geänderte AsylbLG jetzt im Bundesgesetzblatt veröffentlicht? Wie zitiert man aus diesem Gesetz?)
Nächste Woche verkündet der Zweite Senat sein Urteil zum Wahlgesetz. Da gab es ja auch schon den Ruf nach dem Karlsruher Ersatzgesetzgeber. Man glaubt ja gar nicht, was alles möglich ist.
Foto: Kumar Navaneethakrishnan, Fotopedia Creative Commons
Vielen Dank für den schnellen Bericht! Du bist wirklich schneller als der Wind. Drei Anmerkungen habe ich zu Deiner Zusammenfassung:
Dass es anders als bei Hartz IV keine Weitergeltung geben konnte, ergibt sich aus meiner Sicht daraus, dass die Beträge hier (anders als bei Hartz IV) “evident unzureichend” sind. Ein Dasein, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, kann aber auch nicht vorübergehend tragbar sein, denn “der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur, er muss aber auch in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht.” (Rn. 98) Vielleicht hätte man noch an andere Zwischenlösungen denken können, aber dass es eine geben musste, das ist aus meiner Sicht alternativlos. Der Gesetzgeber hat sich das auch selbst eingehandelt – Frau von der Leyens Staatssekretärin stand in Karlsruhe mit leeren Händen vor dem Gericht. Sie hatte kein Gesetz, keinen Gesetzesentwurf, und noch nicht mal Daten anzubieten, auf die sich der Entwurf stützen könnte.
Einen zweiten Punkt halte ich für bemerkenswert. Die Formulierung zur migrationspolitischen Relativierbarkeit gefällt mir auch außerordentlich gut – leider weiß auch ich nicht, ob wir sie der Berichterstatterin Susanne Baer zu verdanken haben, deren Sachbericht in der Verhandlung ja schon erfrischend pointiert war. Ich habe die Formulierung aber auch als Antwort auf Kay Hailbronners etwas erstaunlichen Auftritt in Karlsruhe verstanden. Der hatte in der Verhandlung argumentiert, das Unionsrecht verbiete eine Angleichung nach oben aus migrationspolitischen Gründen, konkret die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber (RL 2003/9/EG), die durch gemeinsame Mindeststandards u.a. Anreize für die Sekundärmigration verringern soll. Dafür sorgt aber erstens (leider) schon das Dublin-System, das keine Sekundärmigration innerhalb der EU zulässt, sondern den Staat der ersten Einreise zur Durchführung des Asylverfahrens verpflichtet. Und zweitens handelt es sich ja um Mindeststandards, die explizit überschritten werden dürfen – zumal es noch nicht einmal annähernd einen gemeinsamen Standard gibt (zB leben in Italien mangels Sozialleistungen Asylsuchende oft auf der Straße; da liegen wir sowieso schon weit drüber). Wie eine Richtlinie mit Mindeststandards übrigens für die Auslegung des GG, gar die Menschenwürde leitend sein kann, diese Antwort blieb Hailbronner den staunenden Richtern schuldig. Das Gericht hat diese Freestyle-Argumentation in seinem Urteil mit Nichtachtung gestraft – aber es hat in der Sache klare Worte gefunden.
Und einen dritten Punkt habe ich in der bisherigen Berichterstattung ebenfalls vermisst – die Klägerin und der Kläger, denen wir diese wichtige und erfreulich klare Entscheidung verdanken, gehen leer aus. Denn eine Rückwirkung gibt es nur in engen Grenzen, das steht schon im Hartz IV-Urteil – sie können nur auf eine günstige Kostenentscheidung hoffen (Hartz IV, Rn. 219).
Viel hätte es noch zu sagen gegeben – das Urteil hält sich kurz und bietet klare Sätze, wenig Lyrik. Muss es aber auch nicht. Der eine Satz, der reicht mir schon.
Nur zu den Praktikabilitätsüberlegungen: Der Tenor des Urteils wird im Bundesgesetzblatt verkündet (§ 31 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG). Deshalb ist der Tenor auch so detailliert – bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes wird der einschlägige Paragraf in Verbindung mit Ziff. 1, 2, etc des Urteilstenors angewendet.
In der Entscheidung zeigen sich einmal mehr die weitreichenden Befugnisse, die der Gesetzgeber dem Gericht eingeräumt hat.
P.S. Wollen wir hoffen, dass der Bund trotz Schuldenbremsen und “Rettungsschirmen” immer die finanzielle Kraft hat, alle menschenrechtlich fundierten Ansprüche zu einzulösen.
Das BVerfG traut dem Gesetzgeber nicht mehr zu seine Fristen einzuhalten. Und womit? Mit Recht. Wahlgesetz und Hartz IV, der Gesetzgeber reißt bewusst die Hürden. Hier hätte es frühestens 2014, nach der BT-Wahl eine Neuregelung gegeben. Das BVerfG handelt m.E. richtig wenn er dem Verursacher des verfassungswidrigen Zustandes auch das Risiko auferlegt. Zu mal bei einem so notorisch unbelehrbaren wie dem momentanen Gesetzgeber.
Ich fürchte nur, dass wir die jetzige Regelung auf Jahre mitschleppen werden, denn wie schon angemerkt: Keiner der Koalition will vermutlich die Sätze für Asylbewerber erhöhen…
“Das fanden viele unpolitisch: Es gibt unterschiedliche Vorstellungen, was zum Führen einer menschenwürdigen Existenz minimal notwendig ist, und Sache der Politik ist es, zwischen diesen Vorstellungen einen Kompromiss zu finden. Wenn der eine sagt, zwei Euro reichen allemal, und der andere sagt, unter vier Euro geht gar nichts, dann einigt man sich auf drei Euro. Das ist dann nicht besonders transparent oder konsistent, aber ist das deshalb gleich verfassungswidrig?”
Ganz entscheidender Punkt hier: Eine Forderung oder Ansicht allein darf hier nicht ausreichen. Ansonsten würde es ja auch reichen, wenn man einfach überall 0 Euro fordert und damit die andere Forderung einfach halbiert.
Oder man fordert einfach immer das negative der anderen Forderung.
200€ für Essen? Ich sage -200€. Also einigen wir uns auf 0.
Nein, es muss begründet sein, absolut transparent und nachvollziehbar. Und das ist es nicht. Die Regierung verweigert schließlich bis heute die Herausgabe ihrer Berechnungsgrundlage und natürlich steckt hinter sowas IMMER Betrug. Einen anderen Grund gibt es schlichtweg nicht für Geheimhaltung, nicht in derartigen Fällen.
Doch was ändert sich? Wenn man sich bei einer Polizeikontrolle weigert, auch nur den Führerschein oder Personalausweise zu zeigen, sind die Folgen wohl bekannt. Doch bei der Regierung? Für diese gelten einfach keine Gesetze und der Souverän (wie man bei den Umfragen und Wahlergebnissen sieht), scheint schon lange taub und blind gemacht worden zu sein, denn er reagiert ebenso wenig.
Nur was unterscheidet uns dann noch von einer x-beliebigen Diktatur? Dass unsere Diktatoren zu feige sind, ihre menschenverachtende Einstellung und Gewalt zumindest offen zur Schau zu stellen?