07 February 2023

Die Störerhaftung ist tot, lang lebe die Störerhaftung

Wer im vergangenen Sommer das Urteil des Bundesgerichtshofs in den Verfahren YouTube II und Uploaded III (BGH, Urteile vom 2. Juni 2022 – I ZR 140/15, I ZR 53/17 u.a.) nur oberflächlich verfolgt hat, könnte zu dem Schluss kommen, dass die Zeit der Störerhaftung in urheberrechtlichen Streitigkeiten endgültig vorbei ist. Nachdem der Gesetzgeber die heftig kritisierte Störerhaftung von WLAN-Betreibern bereits 2017 abgeschafft hatte, hat nun der BGH seine Rechtsprechung zur Störerhaftung von Video-Sharing-Plattformen und Sharehostern aufgegeben. Damit geht keine Entlastung dieser Dienste einher, im Gegenteil: Sie können nunmehr grundsätzlich sogar als Täter oder Teilnehmer von Urheberrechtsverletzungen, die Nutzer über ihren Dienst begehen, auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden. In der rechtswissenschaftlichen Debatte melden sich nun erste Stimmen, die den Urteilen entnehmen, dass der BGH die Störerhaftung für sämtliche Vermittlungsdienste abgeschafft habe. Mit anderen Worten könnten nun etwa auch Access Provider, Domain Registrare oder DNS-Dienste als Täter von Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer haften. Die Haftung dieser Dienste war bislang im Rahmen der Störerhaftung auf Unterlassung beschränkt und durch strikte Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsanforderungen begrenzt. Diese Lesart der beiden Urteile zur Haftung von Sharing-Plattformen ist nicht nur rechtlich fernliegend, die Ausweitung der Haftung neutraler Diensteanbieter droht die Grundrechtseinschränkungen, die bereits an der Störerhaftung kritisiert wurden, zu potenzieren.

Das Landgericht Köln (Urteil vom 29.09.2022 – 14 O 29/21) hat jedoch kürzlich genau das getan und die täterschaftliche Haftung für Urheberrechtsverletzungen Dritter, die der Bundesgerichtshof nun bei bestimmten Sharing-Plattformen prüft, auf andere Intermediäre, namentlich Caching- und reine Durchleitungsdienste übertragen. In dem Verfahren hatte ein Musikunternehmen gegen den Anbieter Cloudflare geklagt, der ein Content-Delivery-Network und einen unabhängigen DNS-Resolver betreibt. Eine Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen YouTube und Uploaded einerseits, die Gegenstand der BGH-Verfahren waren, und Cloudflare andererseits, bei dem es sich nicht um eine Sharing-Plattform, nicht einmal um einen Hosting-Anbieter handelt, ist beim Landgericht Köln nicht erkennbar. Eine derart drastische Ausweitung der täterschaftlichen Haftung hätte dramatische Folgen für die Grundrechte der Nutzer*innen und die IT-Wirtschaft.

Gutachten: Täterschaftliche Haftung nicht auf reine Durchleitungsdienste übertragbar

Dass es sich bei der Ausweitung der täterschaftlichen Haftung für Urheberrechtsverletzungen Dritter auf reine Durchleitungsdienste um einen Holzweg handelt, zeigt ein heute veröffentlichtes Rechtsgutachten, das Prof. Dr. Ruth Janal im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. verfasst hat. Ihre Analyse der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs zeigt, dass die neuen Kriterien, die die Gerichte heranziehen, um zu prüfen, ob eine Sharing-Plattform durch Bereitstellung urheberrechtsverletzender Uploads Dritter selbst eine öffentliche Wiedergabe vornimmt, klar auf Hosting-Anbieter zugeschnitten sind.

Selbst einige Monate nach den Urteilen YouTube II und Uploaded III prüft auch der Bundesgerichtshof im Fall von Internetzugangsanbietern nicht etwa eine täterschaftliche Haftung, sondern weiterhin lediglich eine subsidiäre Sperrverpflichtung gegen urheberrechtsverletzende Webseiten nach § 7 Abs 4 TMG. Im Urteil DNS-Sperre vom 13. Oktober 2022 (Az. I ZR 111/21) hat der Bundesgerichtshof am Beispiel eines Sperrverlangens des Wissenschaftsverlags Elsevier gegen die Deutsche Telekom bezüglich der Webseite Sci-Hub klargestellt, dass die DNS-Sperre das letzte Mittel sein muss, nachdem ein Vorgehen gegen tatnähere Beteiligte gescheitert ist oder grundsätzlich ohne jede Erfolgsaussicht ist. Davon könne nicht ausgegangen werden, wenn gegen einen Host-Provider mit Sitz innerhalb der EU, wie in diesem Fall in Schweden, nicht ernstlich vorgegangen wurde. Ginge der Bundesgerichtshof, wie durch das Landgericht Köln angenommen, bei allen Intermediären von täterschaftlicher Haftung aus, dann hätte er seine Prüfung im Fall DNS-Sperre nicht auf eine Verpflichtung zur Sperrung von Sci-Hub auf Grundlage von § 7 Abs. 4 TMG beschränkt. Dass der Bundesgerichtshof im Übrigen mit seiner Vermutung Recht hatte, dass noch nicht alle Möglichkeiten zum Vorgehen gegen tatnähere Beteiligte ausgeschöpft waren, zeigt sich daran, dass die betroffene schwedische Domain von Sci-Hub inzwischen offline ist, wie Sci-Hub-Gründerin Alexandra Elbakyan kürzlich auf Twitter bekanntgab.

Logik des EU-Urheberrechts verkannt

Die durch das Landgericht Köln vorgenommene nahezu uferlose Ausweitung der täterschaftlichen Haftung auf weit weniger tatnahe Intermediäre als Sharing-Plattformen ist auch nicht sinnvoll. Das erschließt sich aus den Überlegungen, die zur Ausweitung des europarechtlichen Konzepts der öffentlichen Wiedergabe geführt haben. Die Annahme, dass bestimmte Sharing-Plattformen selbst einen Akt der öffentlichen Wiedergabe ausführen, wenn ihre Nutzer*innen auf der Plattform Urheberrechtsverletzungen begehen, entwickelte sich parallel einerseits durch den europäischen Gesetzgeber im Rahmen von Artikel 17 der Richtlinie über das Urheberrecht im Digitalen Binnenmarkt (DSM-RL) und andererseits durch den Europäischen Gerichtshof, angefangen mit den Urteilen The Pirate Bay und Filmspeler. Bei beiden stand das Geschäftsmodell der Plattformen im Vordergrund, das zu einer unfairen Konkurrenz mit umfassend lizenzierten Unterhaltungsangeboten wie Musik- und Videostreaming führe.

Befürworter*innen von Artikel 17 DSM-RL wollten den sogenannten „Value Gap“ schließen, den die Unterhaltungsindustrie gegenüber der Politik beklagte. Dieser Theorie zufolge profitierten bestimmte soziale Plattformen wirtschaftlich von User-Uploads illegaler Inhalte. Diese Plattformen verfolgten zwar mit der Möglichkeit zum Austausch von Nutzer*innen-Uploads ein legitimes Geschäftsmodell und entfernten illegale Inhalte in der Regel nach einem Hinweis darauf, aber – so der Vorwurf – sie erhöhten durch die regelmäßige Präsenz nichtlizenzierter Unterhaltungsinhalte die Attraktivität der Plattform und schmälerten die Nachfrage für kostenpflichtige Streamingangebote wie Spotify oder Netflix. Das Ziel, durch eine Ausweitung des Konzepts der öffentlichen Wiedergabe genau diese Plattformen täterschaftlich für Urheberrechtsverletzungen Dritter haftbar zu machen, wenn sie sich nicht hinreichend um Lizenzen bemühen und illegale Uploads bekämpfen, ist in Erwägungsgrund 62 DSM-RL erläutert.

Auch der Europäische Gerichtshof stellte das Geschäftsmodell der Plattformen bei seiner Entwicklung der Kriterien, wann eine öffentliche Wiedergabe vorliegt, in den Vordergrund. Dabei spielten besonders die Bewerbung einer Dienstleistung als Mittel zur Urheberrechtsverletzung (The Pirate Bay, Filmspeler), die Gestaltung von Nutzungsoberflächen, die Urheberrechtsverletzungen erleichtern sowie die verzögerte Sperrung klarer Rechtsverletzungen nach einem Hinweis eine Rolle. In der Entscheidung YouTube/Cyando hat der Europäische Gerichtshof diesen Kriterienkatalog ausdifferenziert, ohne jedoch abschließend zu beantworten, ob YouTube und Uploaded diese Kriterien erfüllen. Man kann darüber streiten, ob die Value-Gap-Theorie stimmt oder die täterschaftliche Haftung für das richtige Mittel ist, Plattformen in die Pflicht zu nehmen (anderer Auffassung war der Generalanwalt im EuGH-Verfahren zu YouTube/Cyando). Klar ist jedoch: Es spielt eine entscheidende Rolle, ob die Plattform auf Urheberrechtsverletzungen ausgelegt ist und ob sie auf Hinweise glaubwürdig reagiert.

Bei reinen Durchleitungsdiensten sieht es ganz anders aus. Prof. Janal zeigt in ihrem Gutachten, dass diese schon gar nicht zur unverzüglichen Sperrung von Urheberrechtsverletzungen nach einem Hinweis verpflichtet sind. Insofern kann eine verzögerte Reaktion auch keine täterschaftliche Haftung begründen. Es ist darüber hinaus abwegig, dass ein Internetzugangsanbieter oder ein DNS-Resolver sein Geschäftsmodell auf die Begünstigung von Urheberrechtsverletzungen auslegt und damit in eine direkte Konkurrenz zu Streamingdiensten tritt. Ganz im Gegenteil sind Internetprovider, Content Delivery Networks und DNS-Resolver sogar notwendig, damit legale Streamingangebote überhaupt von ihren Kund*innen empfangen werden können. Die Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen Sharing-Plattformen Urheberrechtsverletzungen begünstigen können, hat ein reiner Durchleitungsdienst gar nicht. Folgt man also den Gründen des EuGH für die täterschaftliche Haftung bestimmter Online-Plattformen für Urheberrechtsverletzungen Dritter, muss man die täterschaftliche Haftung reiner Durchleitungsdienste aus denselben Gründen ablehnen.

Vorwirkung des Digital Services Act

Das Landgericht Köln unterliegt einem weiteren Irrtum, indem es DNS-Resolver nicht als reine Durchleitungsdienste behandelt, die laut § 8 TMG von der Haftung – auch von der Störerhaftung – befreit sind. Prof. Janal erklärt, dass DNS-Resolver bereits nach dem Wortlaut von Telemediengesetz und E-Commerce-Richtlinie als reine Durchleitungsdienste zu behandeln sind. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass auch Internetzugangsanbieter, die zweifelsfrei von § 8 TMG umfasst sind, selbst DNS-Resolver betreiben und Netzsperren nach § 7 Abs. 4 TMG in aller Regel nur mittels einer Sperrung der DNS-Auflösung vornehmen können. Würden unabhängige DNS-Resolver also willkürlich nach einem gänzlich anderen Haftungsmaßstab behandelt als die DNS-Resolver eines Internetzugangsanbieters, obwohl dieselbe Form der Sperrung von Webseiten begehrt wird, stelle dies einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs 1 Grundgesetz dar.

Schließlich weist Prof. Janal auf den Digital Services Act (DSA) hin, der kürzlich in Kraft getreten ist und ab Februar 2024 als europaweit einheitliches unmittelbar geltendes Recht Anwendung finden wird. Die Haftungsprivilegien aus der E-Commerce-Richtlinie wurden nahezu unverändert in den DSA überführt. In den Erwägungsgründen wurde dabei zum Zwecke der Klarstellung eine Liste von Beispielen aufgenommen, welche Dienste unter die verschiedenen Haftungsprivilegierungen fallen. In Erwägungsgrund 29 DSA heißt es:

„Vermittlungsdienste einer „reinen Durchleitung“ umfassen beispielsweise allgemeine Kategorien von Diensten wie Internet-Austauschknoten, drahtlose Zugangspunkte, virtuelle private Netze, DNS-Dienste und DNS-Resolver[…]“

Auch wenn der DSA noch nicht anwendbar ist, geht Prof. Janal von einer Vorwirkung der Verordnung aus. Mitgliedstaaten dürfen aufgrund ihrer Loyalitätspflicht gegenüber der Union die Ziele des Rechtsakts nicht behindern. Für die Rechtsprechung zu DNS-Resolvern bedeutet das laut Prof. Janal, dass Gerichte zumindest keine in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanordnungen gegen DNS-Resolver aussprechen dürfen, die nicht auf die Zeit vor der Anwendbarkeit des DSA im Februar 2024 begrenzt sind. Das dürfte auch für das Urteil des LG Köln gelten.

Der Autor dieses Beitrags leitet das Projekt control © der Gesellschaft für Freiheitsrechte zum Spannungsfeld zwischen Urheberrecht und Kommunikationsfreiheiten.


SUGGESTED CITATION  Reda, Felix: Die Störerhaftung ist tot, lang lebe die Störerhaftung, VerfBlog, 2023/2/07, https://verfassungsblog.de/storerhaftung/, DOI: 10.17176/20230207-113042-0.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.