Strich im Zeugnis statt Religionsnote verletzt negative Glaubensfreiheit
Ein Strich im Zeugnis, wo bei anderen die Religionsnote steht, verletzt die negative Glaubensfreiheit. Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem jüngsten Urteil zum derzeit offenbar wieder sehr aktuellen Thema Religion und Klassenzimmer.
Der Fall spielt im streng katholischen Polen: Ein Kind von Agnostikern bekam in der Grundschule keinen Ethikunterricht angeboten, weil er offenbar der einzige war, der daran teilgenommen hätte. Während die anderen in den katholischen Religionsunterricht gingen, musste er alleine die Zeit herumbringen. Die Frage der Benotung im Zeugnis löste man so, dass im Feld “Religion/Ethik” einfach ein Strich stand.
Dieser Strich ist es, an dem der EGMR Anstoß nimmt: Er verstößt gegen Art. 9 (Glaubensfreiheit) und Art. 14 (Diskriminierungsverbot) der EMRK.
Der EMRK beginnt seine Begründung mit einem glühenden Bekenntnis zur Glaubensfreiheit:
freedom of thought, conscience and religion, as enshrined in Article 9, is one of the foundations of a “democratic society” within the meaning of the Convention. It is, in its religious dimension, one of the most vital elements that go to make up the identity of believers and their conception of life, but it is also a precious asset for atheists, agnostics, sceptics and the unconcerned. The pluralism indissociable from a democratic society, which has been dearly won over the centuries, depends on it.
Zur Glaubensfreiheit gehört auch die Freiheit, sein Glauben oder Nicht-Glauben nicht öffentlich bekennen zu müssen. Der Strich im Zeugnis zwinge aber genau dazu.
Relevant für den Notendurchschnitt
Die Kammer unterstreicht, dass seit 2007 – also nach dem Zeitpunkt des hier zu entscheidenden Falls – in Polen die Regel gilt, dass die Religions-/Ethik-Note in den jährlichen Notendurchschnitt einfließt. Unterstellt, dass in Reli immer ein Einser geht, ist so gesehen mit dem Strich im Zeugnis tatsächlich eventuell ein handfester Nachteil verbunden.
2001 hatte der EGMR einen ganz ähnlichen, ebenfalls polnischen Fall genau andersherum entschieden. Als einen von drei Gründen (die anderen beiden sind ziemlich schwach), warum er hier zu einem anderen Ergebnis kommt, benennt die Kammer die neue Regel von 2007.
Das führt mich zu einem ambivalenten Fazit: Inhaltlich bin ich völlig d’accord, zumal mir das Fehlen jeglichen laizistischen Furors, den man im italienischen Kruzifix-Urteil gelegentlich wittern konnte, gut gefällt. Prozedural finde ich das Vorgehen der Kammer aber fragwürdig: Sie hat den konkreten Fall zu entscheiden, und der spielt in den 90er Jahren, wo die Religions-/Ethik-Note noch irrelevant für den Notendurchschnitt war. Dass sie trotzdem diesen Fall zugunsten des Klägers entschieden hat unter maßgeblicher Berufung auf eine Regel, die für ihn noch gar nicht galt, wäre zumindest eine ausführlichere Begründung wert gewesen. Das riecht danach, dass sich der Gerichtshof die Gelegenheiten, rechtspolitische Ansagen an die Mitgliedsstaaten zu machen, nimmt, wo er sie kriegen kann.
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der strich heißt doch nur, dass man keinen reli-unterricht hatte und ist noch kein Glaubensbekenntnis. bei mir waren regelmäßig striche im zeugnis, weil manche fächer in einem halbjahr einfach net angeboten wurden: Physik, Bio, Chemie, Reli…
[…] erinnern uns an den Fall Grzelak. Da ging es im letzten Sommer um die Frage, ob ein Strich im Schulzeugnis bei der Religionsnote […]