29 Juli 2017

Subjektive Rechte aus der Dublin-Verordnung: Der Fall Mengesteab vor dem EuGH

Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen vom toten Pferd, von dem die Luxemburger Richter nicht absteigen wollen. Das tote Pferd ist die Dublin-Verordnung, die am Mittwoch ergangenen Urteile in A.S. und Jafari sind das Sitzenbleiben. Das Bild ist gut, aber unvollständig – zum Glück. Der Zustand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) lässt sich kaum schönreden, aber es gibt wichtige Akteure, die in dem Bild vom toten Pferd fehlen: Die Asylsuchenden selbst. Neben der Geschichte der Dublin-Verordnung als äußerst zähem System einer ungerechten Zuständigkeitsverteilung zwischen Staaten gibt es eine zweite Geschichte der Dublin-Verordnung: Die langsame Stärkung der subjektiven Rechte von Asylbewerbern. Diese Geschichte erhält ein weiteres Kapitel mit dem Urteil Mengesteab, welches der Europäische Gerichtshof ebenfalls am Mittwoch verkündete. Die Entscheidung ist hochrelevant für die Praxis, weil sie die Fristenberechnung betrifft, bis wann ein Asylsuchender in einen anderen Mitgliedstaat gemäß Dublin-Zuständigkeit zurückgewiesen werden kann. Und die Entscheidung markiert zugleich, dass angesichts politischer Lethargie die größte Hoffnung für eine Veränderung des festgefahrenen Dublin-Systems in den Klagemöglichkeiten liegt.

Viel ist passiert seit Kaveh Puid

Das erste Problem der Dublin-Verordnung liegt in den Zuständigkeitsregeln, welche die südlichen Mitgliedsstaaten unverhältnismäßig belasten. Das umfasst auch die Auslegung der Verordnung, wie sie das Gericht nun in A.S. und Jafari vornahm, welche – wie Generalanwältin Sharpston schrieb – die „herrschenden Umstände nicht in realistischer Weise berücksichtigt und die tatsächlichen Gegebenheiten […] außer Acht lässt“. Das zweite Problem der Dublin-Verordnung liegt in den Konsequenzen der N.S.-Entscheidung, also der Beschränkung von Dublin-Zurückschiebungen nach Griechenland und in sonstige Staaten, in welchen Asylsuchenden massive Grundrechtsverletzungen drohen. Diese Entscheidung war – alle Diskussionen um die Kriterien beiseite gelassen – zentral für ein grundrechtsgetragenes Asylrecht. Zugleich ergab sich dadurch ein kompliziertes Geflecht, in welchem oft unklar blieb, von wo nach wo und vor allem wann abgeschoben wird.

Dass dieses Geflecht so kompliziert werden konnte, hing auch mit den begrenzten Möglichkeiten von Asylbewerbern zusammen, gegen die Entscheidungen über Dublin-Zuständigkeit vorzugehen. Das Selbsteintrittsrecht, dessen notwendige Ausübung den Kern des Falls N.S. ausmachte, blieb verstanden als freie Entscheidung des Staates, der auch stattdessen nach weiteren möglicherweise zuständigen Mitgliedsstaaten suchen konnte. So schrieb Generalanwalt Niilo Jääskinen im Schlussantrag zum Fall Kaveh Puid, die Dublin-Verordnung sei eben „nicht darauf gerichtet, Rechte des Einzelnen zu begründen, sondern die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu ordnen“ (para. 58). Das Gericht sah das genauso, und unterstrich dieses Verständnis der Dublin-Verordnung im Fall Abdullahi.

Daran hat sich inzwischen einiges geändert. Die Reform der Dublin-Verordnung 2013 stärkte die Rolle der Rechtsbehelfe, was ermöglichte, auf neuer Grundlage zu argumentieren. Und so tat es Generalanwältin Eleanor Sharpston in ihren Schlussanträgen zu den Fällen Karim und Ghezelbash: Es sei „eine zu starke Vereinfachung, die Dublin‑III-Verordnung als ein rein zwischenstaatliches Instrument zu bezeichnen“ (Antrag Ghezelbash, para. 70), der Asylbeantragende müsse daher die fehlerhafte Anwendung der Kriterien im Wege der Überprüfung geltend machen können (Antrag Karim, para. 33, 46). Der EuGH hielt daraufhin fest, dass die Dublin-III-VO sich von ihrer Vorgängerin wesentlich unterscheidet (Ghezelbash, para. 34), dass sie nicht lediglich zwischenstaatliche organisatorische Regeln enthält, sondern den Asylbewerber mit eigenen Rechten in dem Verfahren beteiligt (para. 51).

Der Fall Mengesteab

In diese Entwicklung fügt sich der vom EuGH am 26. Juli entschiedene Fall Mengesteab ein. Herr Tsegezab Mengesteab ist ein eritreischer Staatsangehöriger, der 2015 von Libyen nach Italien und von dort weiter nach Deutschland gereist war. Sein Asylantrag wurde als unzulässig abgewiesen und er sollte nach Italien abgeschoben werden, also in den Mitgliedstaat, in dem er laut Auffassung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Außengrenze der Europäischen Union illegal überschritten hatte und der daher nach Art. 13 (1) der Dublin-Verordnung zuständig ist.

Absolut erwähnenswert, auch wenn sie im Urteil nicht mehr auftauchen, sind die Überlegungen von Generalanwältin Sharpston, ob Art. 13 (1) überhaupt einschlägig wäre: Es sei ja nicht so, argumentiert sie (Antrag Mengesteab, para. 51), dass Personen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden, sich heimlich über die Grenze schleichen. Vielmehr kommen sie in das Unionsgebiet durch einen Such- und Rettungseinsatz, welcher von Stellen der Mitgliedsstaaten und der EU gestützt und koordiniert wird. Die rechtlichen Bedingungen der Ausschiffung nach einem solchen Rettungseinsatz und damit des Zugangs zu Unionsgebiet liegen im Schnittpunkt internationalen Seerechts, internationalen Flüchtlingsrechts und des Unionsrechts. Es sei alles andere als eindeutig, dass eine so gestaltete Ankunft im Unionsgebiet eine illegale Grenzüberschreitung im Sinne des Art. 13 (1) Dublin-VO darstellt.

Doch diese Überlegungen waren im vorliegenden Fall nicht relevant, und wir werden – wie Sharpston schreibt – auf einen anderen Fall warten müssen, in welchem die Frage zur Sprache kommt. Im Fall Mengesteab ging es schon um die Frist, in welcher das BAMF überhaupt ein Aufnahmegesuch an Italien richten kann. Anschließend an die beschriebene Entwicklung von subjektiven Rechten unter der Dublin-Verordnung war die Frage, ob eine solche Frist zu denjenigen Belangen gehört, die der Asylbewerber rügen kann. Dient die Frist, in anderen Worten, nur der zwischenstaatlichen Verteilung von Asylsuchenden – oder schützt sie auch diese selbst? Letzteres, hielt der Gerichtshof fest, sonst wäre die ganze Idee des Rechtsbehelfs wenig ergiebig (para. 59). Also auch wenn der ersuchte Staat – wie hier Italien – bereit wäre, die Person aufzunehmen, kann die Einhaltung der Frist noch überprüft werden.

Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars

Der zweite Aspekt des Urteils ist speziell für die Praxis in Deutschland äußerst relevant und betrifft die Frage, ab wann die Frist von drei Monaten für das Aufnahmegesuch läuft. Der Hintergrund ist, dass der in Deutschland eintreffende Asylbewerber sich mit einer Situation konfrontiert sieht, die etwa dem entspricht, was Reinhard Mey als Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars besingt: Die Bitte um Asyl führt zunächst zu einer Bescheinigung, daraufhin wartet der Asylbewerber auf die Einladung des BAMF, die ihm irgendwann dann erlaubt, einen formellen Antrag auf Asyl zu stellen. Im Fall von Herrn Mengesteab vergingen zwischen dem formlosen und dem formellen Antrag etwas mehr als zehn Monate, vom 14. September 2015 bis zum 22. Juli 2016. Die Auffassung des BAMF war es, dass erst mit dem formellen Antrag die Frist zu laufen beginnt. Der EuGH sah das nun anders: Der Antrag auf internationalen Schutz, den Art. 20 Dublin-Verordnung meint, kann in allen Mitgliedsstaaten unterschiedlich aussehen. Aber ein die wichtigsten Informationen enthaltendes, von der Behörde ausgestelltes Schriftstück genügt, also die Bescheinigung, wie sie Herrn Mengesteab am 14. September erteilt wurde. Neben der vieldiskutierten Dauer der Asylverfahren dürfte nun also auch diese vorangehende, „versteckte“ Wartezeit zwischen formlosem und formellem Asylantrag stärkere Aufmerksamkeit erfahren.

Politische, aber vor allem auch rechtliche Handlungsfähigkeit

Die Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft von Asylsuchenden selbst kann man nicht aus dem Blick lassen, will man über die bisherigen und zukünftigen Entwicklungen des Dublin-Systems nachdenken. Das betrifft die politische Handlungsfähigkeit, aber das betrifft auch die rechtliche Handlungsfähigkeit, in Form der Bedingungen zu klagen, Rechte geltend zu machen und über deren Inhalt zu streiten. Es war die Handlungsfähigkeit von Flüchtlingen, die den Unzulänglichkeiten des Dublin-Systems auf erster Ebene begegnete, als diese vor unerträglichen Zuständen in Griechenland flohen, sie ins Gericht trugen, und so auch auf den Verhandlungstisch der Mitgliedstaaten brachten. Die Handlungsfähigkeit war sehr beachtet rund um den March of Hope 2015, und die Rolle dieser Ereignisse wird über die Diskussion, ob Merkel denn nun recht hatte, oft vergessen.

Aber dieser politischen Handlungsfähigkeit, so erheblich sie ist, sind Grenzen gesetzt bzw. werden Zäune gebaut. Umso wichtiger ist die Frage, welche rechtlichen Handlungsräume den Asylsuchenden zukommen. Die Möglichkeit, gegen eine falsche Anwendung der Dublin-Kriterien vorzugehen, illustriert das: Eine Dublin-Verordnung, die nicht lediglich als zwischenstaatlicher Organisationsmechanismus verstanden wird, ist eine, deren gute Ideen – die Rechtsicherheit, Eindeutigkeit und Zügigkeit von klarer Zuständigkeitsverteilung – sich durch Klagen langsam verfolgen lassen. Eine verantwortungsvolle Gestaltung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erübrigt sich damit nicht, den groben Missständen kann so nicht beigekommen werden. Dennoch ist die Geschichte des Urteils Mengesteab hoffnungsvoller als die Erzählungen, die überwiegend mit Blick auf das Urteil Jafari ergingen. Es ist keine Geschichte vom toten Pferd, sondern eine von vielen Zügeln.


SUGGESTED CITATION  Schmalz, Dana: Subjektive Rechte aus der Dublin-Verordnung: Der Fall Mengesteab vor dem EuGH, VerfBlog, 2017/7/29, https://verfassungsblog.de/subjektive-rechte-aus-der-dublin-verordnung-der-fall-mengesteab-vor-dem-eugh/, DOI: 10.17176/20170729-074105.

17 Comments

  1. Konvertit So 30 Jul 2017 at 18:48 - Reply

    Es ist schlicht kein Asylsystem mit individuellen Verfahren denkbar, welches nicht unter der Last einer durch naiver Wohlstandssuche motivierten und illusorischen Wohlstandsversprechen beförderten Massenmigration zusammenbrechen würde.

    Weder das grundgesetzlich verankerte, politische Asyl noch die GFK sind dazu gedacht, Millionen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Es geht bei diesen Einrichtungen darum politisch Verfolgten und spezifisch bedrohten Minderheiten zu helfen.

    Würden sich die Verfahren, durch kosequente Anwendung des Kriteriums „sicherer Drittstaat“ und obligatorischer Vorlage von Ausweispapieren, auf diesen Personenkreis konzentrieren, gäbe es keine Migrationskrise.

    Was sich tatsächlich abspielt und tatsächlich gewollt ist, hat vor diesem Hintergrund nichts mit Asylpolitik zu tun. Es handelt sich um eine politisch motivierte, moralische Erpressung unter der Überschrift „Solidarität“ zur Durchsetzung einer auf Jahre angelegten Masseneinwanderung mit den Zweck der Umvolkung der EU-Länder.

    Wer daran noch irgendeinen Zweifel hat, muss sich nur den EU-Parlamentsbeschluss vom 5. April diesen Jahres durchlesen.

    Quelle: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2017-0124+0+DOC+XML+V0//DE

    Darin heißt es:

    – Migration sei ein Menschenrecht – eine im Hinblick auf Art. 13 der Menschenrechte, der nur die Aus- und Einreise in das Heimatland garantiert und nicht etwa die Immigration in ein anderes Land der Wahl, flagrante Lüge.

    „A. in der Erwägung, dass Migration ein in Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankertes Menschenrecht ist“

    – Migration müsse „frei von politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Überlegungen“ gewährleistet werden – ein völlig absurder und gemeingefährlicher Gedanke.

    – Zwischen Armutsmigration und Asylmigration soll am besten nicht unterschieden werden, was genau meine These von der Kaperung des Asylrechts zum Zwecke der Masseneinwanderung belegt.

    „… dass die rechtliche Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten nicht so verstanden werden darf, als wäre Migration aus wirtschaftlichen Gründen oder Migration auf der Suche nach einem besseren Leben weniger legitim als die Flucht vor Verfolgung …“

    Fazit: Das tote Pferd, das hier geritten wird, ist vor allem eines:
    Der gescheiterte Versuch weiteren EU-Staaten über das Asylrecht eine Masseneinwanderung aufzuzwingen, wie sie Prantlhausen seit bald zwei Jahren mit Taerror, Tod und Vergewaltigungen erlebt.

  2. Peter Camenzind So 30 Jul 2017 at 22:58 - Reply

    Es scheint ohne Großbritanien vielleicht noch ca. 530 Mio Europäer zu geben. Zuletzt kamen in kürzerer Zeit, wie etwa einem Jahr, vielleicht ca. 2 Mio Zuwanderer nach Europa. Bis dabei ca. 530 Mio Europäer getilgt sind und man eine Art Umvolkung erahnen könnte, scheint es noch dauern zu können. Zumal Zuwanderer teils assimiliert sein können. Eine geplante Umvolkung müsste eher langfristig angelegt sein. Fraglich kann sein, inweiweit man soweit sicher genau planen kann. Oder inwieweit hierbei nur bedingt beherrschabare Änderungen möglich blieben, wie bei der Zuwanderung.