Tageslicht
Die rechte Mehrheit zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit
Diese Zeit zwischen Wahl und Regierungsbildung hat etwas Unheimliches. Das Alte ist vorbei, das Neue hat noch nicht begonnen, ein gefühlter liminal space der Unregiert- und Ungeborgenheit tut sich auf, auch wenn Vernunft und Art. 39 Abs. 1 S. 2, 69 Abs. 3 Grundgesetz versichern, es sei gar nicht so. Dies sind so etwas wie die Rauhnächte der Politik, die längsten und dunkelsten zwischen den Jahren, in denen draußen die Wilde Jagd um die Hütten heult und drinnen die Menschen ihre Köpfe einziehen und Stoßgebete zum Himmel schicken: Herr, lass das vorübergehen.
Noch ist Friedrich Merz nicht Kanzler. Klapprige 28,5 Prozent haben für ihn gestimmt, und eine Mehrheit für seinen Politikwechsel wird daraus nur, wenn entweder die AfD (niemals!) oder die abgewählte Kanzlerpartei SPD ihm zu einer solchen verhilft. Gibt es nun eine rechte Mehrheit, oder gibt es sie nicht? Sind die linken Spinner mit ihren mangelnden Tassen im Schrank, die Omas gegen Rechts und tutti quanti mit ihrer Angela-Merkel-Förderung aus Steuergeldern, die vielen Hunderttausend, die gegen den bedingt vorsätzlich herbeigeführten Schulterschluss zwischen Mitte-Rechts und Rechtsextrem auf die Straße gegangen sind, sind all diese nun besiegt, gedemütigt, niedergestimmt, oder sind sie das nicht? Hat nun ein rechtes Mehrheitsvotum des Volkes der links-woken Kulturhegemonie kraftvoll ein Ende bereitet? Oder hat es das nicht? Hui, wie es pfeift und tobt dort draußen. Herr, lass das vorübergehen.
Mit dem Wahlergebnis steht eine rechte Mehrheit als Möglichkeit im Raum. Aber ob aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, hängt von Entscheidungen ab – Entscheidungen der Union und der SPD. Solange diese Entscheidungen nicht in Gestalt von Koalitionsvertrag und stabiler Kanzlermehrheit verbindlich gefallen sind, jagt die Wilde Jagd als Möglichkeit über den blitzdurchzuckten Himmel und den Menschen gerade deshalb faszinierten Schrecken ein, weil sie nicht real ist.
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Über Dauer und Ausgang dieses Zustands entscheidet zuallererst die Union. Die beteuert, keinesfalls mit der AfD koalieren zu wollen, und meint das zweifellos auch so. Sie wäre ja von allen guten Geistern verlassen, wenn sie sich bei der auf sie zukommenden Aufgabe, Deutschland gegen Putin zu rüsten, von dessen größten Fans abhängig machen würde, von den wirtschafts- und europapolitischen Differenzen ganz zu schweigen. Gleichzeitig macht sie aber jeden Tag deutlich, dass sie die Möglichkeit einer rechten Mehrheit politisch bewirtschaften will. Sie will den Kulturkampf, sie postuliert die Existenz einer rechten silent majority, eines wahreren Volkes als die links-woken urbanen Eliten in den NGOs und Protestdemonstrationen, die in dieser Wahl gesprochen und sich als Mehrheit manifestiert habe. Aber diese Mehrheit als Kanzlermehrheit realisieren? Niemals!
Sie will den Kuchen haben und ihn essen. Das ist ein sich selbst widersprechender Standpunkt. Mit Argumenten lässt er sich nicht vertreten. Darin könnte ein Teil der Erklärung für die heftigen Emotionen liegen, mit denen viele Konservative auf den Vorwurf reagieren, die Union ebne den Unterschied zwischen Mitte und Extrem ein. Diesen Vorwurf haben Florian Meinel und ich in unserem Editorial (lesenswert dazu: hier und hier) vor drei Wochen erhoben. Mir wurde letzte Woche von einem prominenten Unionspolitiker, den ich seit langem kenne, deswegen der Kontakt aufgekündigt: Wir hätten ihm unterstellt, die Union unterstütze bewusst und gezielt die Nazis, und das sei für ihn ganz persönlich als Mitglied dieser Partei ehrenrührig und eine Beleidigung. Den Diskursabbruch, den er vornahm, schob er uns in die Schuhe.
Die Omas gegen Rechts und alle anderen, die der Union diesen paradoxen Standpunkt streitig machen? Mit denen stimmt was nicht. Der Wahl-O-Mat, der CDU-Politikern 71 Prozent Übereinstimmung mit der AfD attestiert? Da muss doch was faul sein. Die muss man sich jetzt mal alle genauer anschauen. Die werden jetzt alle mal sehen, was es bedeutet, in der Minderheit zu sein, jetzt, wo die rechte Mehrheit…
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Entscheiden muss sich aber auch und vor allem die SPD. Sie hat mit ihren 16,4 Prozent die Macht, dafür zu sorgen, dass sich diese wilde Mehrheitsmöglichkeitsjagd bei hellem Tageslicht besehen in Luft auflöst. Wenn sie der Union zur Kanzlermehrheit verhilft, dann kann sie darauf bestehen, dass diese Kanzlermehrheit jemanden wählt, mit dem das auch so bleibt. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Ob sie die Kraft und den Willen dazu hat, ist eine andere Frage. Dass Hubertus Heil wieder Minister wird, ist natürlich auch irre wichtig.
Und noch jemand hat hier mehr Gewicht, als sie selbst in diesen düsteren Augenblicken vielleicht glauben mag: die engagierte, aufgeklärte, organisierte Öffentlichkeit a.k.a. Zivilgesellschaft. Diese Wahl hätte verdammt noch mal sehr viel schlimmer ausgehen können. Erst dann kippt die politische Kultur, erst dann wird die politikkulturelle Möglichkeit zur machtpolitischen Wirklichkeit, wenn sich alle bis auf ein paar marginalisierte Spinner einig werden: Ja, das ist dann wohl jetzt so. Das ist nicht geschehen. Alle nicht-rechtsextremen Parteien, die sich darauf eingelassen haben, sind bei dieser Wahl abgestraft worden, und die einzige, die sich dem verweigert hat, nämlich die Linke, ist die große Überraschungssiegerin dieser Wahl. Wenn jetzt trotzdem der silent-majority-Spuk in den nächsten Jahren die politische Wirklichkeit regiert, dann deshalb, weil wir das zugelassen haben. Warum sollten wir das tun?
Dank an Florian Meinel für wertvolle Hinweise.
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Editor’s Pick
von EVA MARIA BREDLER
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Am Mittwoch habe ich zu Sonnenaufgang geführtes „breathwork“ gemacht. Lachen Sie ruhig. Ich dachte auch, atmen ginge eigentlich von allein, aber tatsächlich passieren erstaunliche Dinge im Körper, wenn einem so ein tiefenentspannter australischer Typ sagt, wie man zu atmen hat: Meine Augen haben getränt, meine Lippen wurden taub, und irgendwie konnte ich meinen Rücken fühlen. Mag auch daran gelegen haben, dass es schweinekalt war. Wer gerade nicht gemeinschaftlich hecheln, aber trotzdem irgendwie besser klarkommen will, kann auch einfach das Album hören, das mich seit Wochen hoffnungsvoll stimmt – von der namentlichen Hoffnungsträgerin Esperanza Spalding, mit dem Titel, nun ja, Sie ahnen es: „Esperanza“.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Deutschland hat gewählt, nun haben wir es hinter uns. Der neue Bundestag tritt spätestens am 25. März zusammen, mit Friedrich Merz als designiertem Kanzler.
Noch am Wahlabend telefonierte Merz mit dem israelischen Premierminister Netanjahu und stellte ihm kraft seines ihm noch nicht verliehenen Amtes eine Einladung nach Deutschland in Aussicht. Dabei sagte Merz „Mittel und Wege“ zu, damit Netanjahu – trotz internationalen Haftbefehls – nicht festgenommen werde. Das mag gastfreundlich sein, aber völkerrechtsfreundlich ist das keineswegs, und außerdem ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung, wie KAI AMBOS (DE) argumentiert.
Dass die Regierung öffentlich nicht einfach (ver)sprechen kann, was sie will, sondern dabei an die Verfassung gebunden ist, sollte nach der meterlangen Rechtsprechung dazu eigentlich klar sein. Aber was ist mit dem Bundestag? Die Frage stellte sich nach einer Kleinen Anfrage (mit stolzen 551 Fragen) der CDU/CSU-Fraktion zur „Politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen“. Es hagelte Kritik; die Union verteidigte sich damit, nur die steuerrechtliche Redlichkeit der Organisationen prüfen zu wollen, und dies sei schließlich parlamentarische Kernaufgabe. SOPHIE SCHÖNBERGER (DE) rückt gerade: Es handele sich keineswegs um harmlose Fragen. Vielmehr seien die mit der Anfrage gestreuten Verdachtsmomente und Unterstellungen geeignet, die fraglichen Vereinigungen im Hinblick auf die Ausübung ihrer Meinungsfreiheit und ihre allgemeine Verbandstätigkeit einzuschüchtern. Damit überschreite die Anfrage die Grenzen parlamentarischen Informationshandelns.
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Head of Finance – zum schnellstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen!
Du suchst nach Möglichkeiten, in diesen dunklen Zeiten etwas für die Demokratie zu tun? Dich lockt die Aussicht auf einen sinnstiftenden, anspruchsvollen Job in einem kreativen jungen Team? Du willst anpacken, statt immer nur zu jammern? Dann bist Du wahrscheinlich die Person, die wir suchen.
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Eingehende Bewerbungen werden laufend gesichtet!
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Überprüft werden sollen nicht nur NGOs, sondern auch die Wahlrechtsreform. Das BSW hat gerichtliche Schritte angekündigt, um vor allem gegen die Sperrklausel vorzugehen. Andere kritisieren die Effekte des neuen Wahlrechts, wonach nicht alle Wahlkreisgewinner*innen auch in den Bundestag einziehen. Warum das ein Problem sei und wie es sich beheben ließe, schildert ANTJE VON UNGERN-STERNBERG (DE).
Die Bundestagswahl testete neben dem neuen Wahlrecht auch den Digital Services Act. Hat er wirklich das Zeug dazu, Wahlmanipulation auf Online-Plattformen zu verhindern? Die Bilanz von JAN-OLE HARFST (DE): Langfristig könne der DSA die Integrität von Wahlen online schützen, aber momentan sehe es leider anders aus.
Merz will Verteidigung wieder zu Priorität machen. Dafür braucht es Geld. Eine schnelle Reform der Schuldenbremse könnte die Mittel lockern, Merz bevorzugt ein Sondervermögen für die Bundeswehr. Auch dieses könnte nur mit den alten parlamentarischen Mehrheiten zustande kommen. Doch verfügt der alte Bundestag überhaupt noch über die dafür erforderliche Legitimität? Der Alt-Bundestag solle zwar handlungsfähig bleiben, meint JOEL S. BELLA (DE), das Grundgesetz ändern dürfe er jedoch nicht.
Um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken, zeigte sich Merz auch immer wieder offen für eine „aufwachsende Wehrpflicht“. Da kommt eine neue Entscheidung des BGH gerade recht: Danach könne das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung im Kriegsfall ausgesetzt werden. KATHRIN GROH (DE) hält dagegen: Gerade im Verteidigungsfall verlange der Kernbereich des Grundrechts uneingeschränkte Geltung.
Immer wehrloser wird dagegen das Verfassungssystem der USA, da erzählen wir Ihnen nichts Neues. Auch RUTH HOUGHTON und AOIFE O’DONOGHUE (EN) überrascht das nicht: Sie lesen das „Project 2025“ – ein politisches Programm konservativer und ultrarechter US-Organisationen – als vor- und wegbereitendes Manifest und sensibilisieren für entstehende Gegen-Manifeste.
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Unterstützer*innen und Anwält*innen von Trump kleiden dieses politische Manifest auch noch in hübsche theoretische Mäntelchen – etwa in Form der „unitary executive theory“, nach der alle Staatsgewalt vom US-Präsidenten ausgeht. MICHAEL MEYER-RESENDE (EN) mahnt an, sich trotz aller Theorieliebe nicht von feinen Outfits blenden zu lassen: Trumps Unterstützer*innen mobilisierten diese und andere Theorien nicht in gutem Glauben – und schon gar nicht kohärent.
Mit gutem Glauben haben auch Trumps Pläne wenig zu tun, sogenannte „reziproke“ Zölle einzuführen – diese widersprächen den bestehenden Regeln der Weltwirtschaftsordnung, wie PETER-TOBIAS STOLL (EN) erklärt. Zölle seien zwar nicht das aufregendste Thema, aber dahinter stehe eine Frage, die uns aufregen solle: Wie gehen wir mit Regeln um, die aus besseren Zeiten stammen und nun zu zerfallen drohen?
Die Frage stellte sich in anderer Form auch vor dem Europäischen Gericht. Dort hat eine rumänische Vereinigung von Staatsanwält*innen die Beendigung des Kooperations- und Kontrollmechanismus angefochten. Doch das Gericht wies die Nichtigkeitsklage ab, wegen fehlender unmittelbarer Betroffenheit. Das verkenne die Rechtsstaatskrise in Rumänien und werde unerwünschte Folgen mit sich bringen, kritisieren BENEDETTA LOBINA und CANDICE MEERA MAHARAJ (EN).
Die EU ringt auch außerhalb um Streitbeilegung, und zwar mit der Schweiz. CARL BAUDENBACHER (EN) nimmt ein Vertragspaket unter die Lupe, das der Europäischen Kommission das einseitige Recht einräumen würde, die Schweiz vor ein „Schiedsgericht“ zu bringen.
Währenddessen hat Argentinien einen Schritt gemacht, um internationale Werte zu verteidigen: Im Februar 2025 erließ ein argentinisches Gericht Haftbefehle gegen den myanmarischen General und de facto Machtinhaber Min Aung Hlaing und 24 weitere hochrangige Militärvertreter Myanmars. Es ist der erste Haftbefehl gegen das myanmarische Militär nach dem Weltrechtsprinzip – und damit ein Hoffnungsschimmer für alle vertriebenen und unterdrückten Rohingya, wie WINONA XU (EN) schreibt.
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Auch Ihnen eine hoffnungsvolle Woche!
Alles Gute,
Ihr Verfassungsblog-Team
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