18 April 2024

Trau, Schau, Link!

Das BVerfG hat auf eine Verfassungsbeschwerde des Onlinejournalisten Julian Reichelt hin am Dienstag nach sehr kurzer Verfahrensdauer eine ihn betreffende einstweilige Anordnung des Berliner Kammergerichts materiellrechtlich überzeugend aufgehoben. Indem es die Zulässigkeitsvoraussetzungen äußerst großzügig und seine eigene Kontrolldichte äußerst engmaschig interpretierte, dürfte das Gericht beträchtliche Anreize dafür gesetzt haben, sich in äußerungsrechtlichen Fällen auch ohne besonderen Zeitdruck von nun an frühzeitig an es zu wenden.

Entwicklungshilfe für Afghanistan oder die Taliban?

Nach dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan im Jahr 2021 leistete das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) weiter Entwicklungshilfe in Millionenhöhe an ausgewählte Organisationen im Land. Reichelts Onlinemedium griff diesen Umstand mit der Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“ auf, woraufhin Reichelt selbst auf seinem X-Kanal auf den Bericht verlinkte mitsamt der Kurznachricht: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“

War damit nun auf X behauptet, es seien deutsche Gelder direkt die Taliban geflossen, oder auf den Umstand hingewiesen, das Talibanregime könne indirekt von den ins Land geflossenen Geldern profitieren? Das BMZ versteht die Äußerung im ersten, Reichelt im zweiten Sinne. Nachdem die Bundesrepublik für das BMZ erfolglos abmahnte, beantragte sie eine Unterlassungsverfügung im Eilverfahren, womit sie erstinstanzlich vor dem Landgericht Berlin (Az. 27 0 410/23) scheiterte, auf ihre sofortige Beschwerde hin allerdings vor dem Kammergericht obsiegte (Az. 10 W 184/23). Letzteres interpretierte Reichelts Aussage als unwahre Tatsachenbehauptung, das BMZ würde dem Talibanregime Gelder zukommen lassen. Reichelt bemühte daraufhin weder im Eil-, noch im Hauptsacheverfahren fachgerichtlichen Rechtsschutz, sondern erhob am 12. Dezember 2023 eine auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 2290/23) und bekommt nun schon nach vier Monaten für ihn erfreuliche Post aus Karlsruhe.

Internetspezifische Kommunikationsgrundrechtsdogmatik

In der Sache weist das BVerfG die sich auf den von Reichelt verfassten Kurztext fokussierende Argumentation des Kammergerichts zurück. Den Inhalt des Onlinemediums ignorierte letzteres ähnlich der tradierten Titelseitenleser/Kioskleser-Rechtsprechung und stellte im Hinblick auf die verlinkte Artikelüberschrift lediglich darauf ab, dass diese der Deutung, Deutschland zahle an die Taliban, nicht von vornherein entgegenstehe.

Das BVerfG deutet dagegen entsprechend der spezifischen Darstellungsweise und Rezeptionsgepflogenheit des Kurznachrichtendiensts:

 „Aus der Sicht eines Durchschnittslesers war es bereits angesichts der wiedergegebenen Vorschau des verlinkten Artikels ein hervorstechendes Anliegen des Beschwerdeführers, zwischen seiner Kurznachricht und einem hiermit verlinkten Nachrichtenartikel auf „(…)“ einen inhaltlichen Bezug herzustellen. Wird für die Kontextbestimmung einer Äußerung eine hierin für den Rezipienten erkennbar in Bezug genommene, inhaltlich sogar unmittelbar wahrnehmbare Schlagzeile eines Nachrichtenartikels ausgeblendet, verfehlt bereits dies die sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenen Anforderungen an die Deutung umstrittener Äußerungen.“ (Rn. 35)

Das überzeugt im Einzelfall und dürfte auch fortan dafür sensibilisieren, die dem jeweiligen Kommunikationsdienst inhärenten Wahrnehmungs- und Verbreitungsmodalitäten bei der Deutung einer Äußerung in den Blick zu nehmen. Mit seinen neuartigen Möglichkeiten, Eigen- und Fremdinhalte zu verknüpfen, wird der Kontext besonders relevant. Dieser ist verfassungsrechtlich maßgeblich für die Deutung einer umstrittenen Äußerung, ihn zu bestimmen wird aufgrund der Verweisungsstrukturen der Online-Kommunikation aber zunehmend schwierig. Damit steht die Frage im Raum, was noch zum relevanten Kontext gehört und was nicht – die Kontextgrenze. Dies verweist auf eine weitere Herausforderung internetspezifischer Äußerungsrechtsdogmatik, nämlich inwieweit (welche) Gerichte entsprechendes angesichts der Ausdifferenzierung der Nutzungspraktiken selbst beurteilen können, und hängt auch von der Grundfrage ab, inwieweit es sich bei der Perspektive um eine normative oder eine empirisch-vorfindbare handelt und inwieweit die Bildung eines Durchschnitts möglich und sinnhaft ist.

Damit reiht sich die Kammerentscheidung in eine Reihe jüngerer Judikate aus Karlsruhe, die peu à peu Fragmente einer entstehenden kommunikationsgrundrechtlichen Dogmatik unter Digitalisierungsbedingungen produzieren:

  • Die Realitäten der Plattformökonomie und algorithmisch forcierten Individualisierung werden als dem publizistischen Wettbewerb und der Meinungsvielfalt tendenziell abträglich gedeutet (BVerfGE 149, 222 (261 Rn. 79) – Rundfunkbeitrag).
  • Die gegenüber analog gespeicherten Informationen deutlich längere Auffindbarkeit von Jahre oder Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen über Internetsuchmaschinen werden in den beiden Recht auf Vergessen-Entscheidungen herausgestellt und in ihrer persönlichkeitsrechtlichen Problematik adressiert (BVerfGE 152, 152; 152, 216).
  • Die potenziell erhebliche Breitenwirkung von Veröffentlichungen im Internet wird als berücksichtigungsfähig bei Abwägungen zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht anerkannt (BVerfG, NJW 2020, 2622 Rn. 34).
  • Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich Freunde, Nachbarn und insbesondere auch neue Bekannte über Suchmaschinen suchen und so ein weitgehendes Gesamtbild der veröffentlichten Informationen übereinander erlangen, wird herausgestellt (BVerfGE 152, 152 (211 f. Rn. 147)).
  • Die bei schriftlichen Äußerungen gesteigerten Erwartungen an Selbstbeherrschung und Zivilität werden auf textliche Äußerungen in sozialen Netzwerken übertragen (BVerfG, NJW 2022, 680 (683 Rn. 36).

Gesteigerte Prüfungsintensität bei Kommunikationsgrundrechten

Wie aber kam das BVerfG überhaupt dazu, den Bedeutungsgehalt des Tweets derart penibel zu untersuchen? Gerade im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG übte sich Karlsruhe auch bislang nicht unbedingt in Zurückhaltung, begründet dies nun aber in interessanter Weise:

„Da die fallübergreifende Wirkung der Verfassungsrechtsprechung gerade im Bereich der Kommunikationsgrundrechte wegen der Öffentlichkeitsbezogenheit der geschützten Handlungen erhebliche Bedeutung hat und schon einzelne Fehler bei der Auslegung des einfachen Rechts und der Deutung der Äußerung zu einer Fehlgewichtung des Grundrechts führen können, muss allerdings eine gegenüber anderen subjektiven Verfassungsrechten gesteigerte Prüfungsintensität Platz greifen, soll die Freiheit dieser Lebensäußerungen nicht in ihrer Substanz getroffen werden (vgl. BVerfGE 81, 278 <289 f.>)“ (Rn. 33)

Die Senatsentscheidung aus dem Jahr 1990, auf die hier Bezug genommen wird, betraf die Bestrafung nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB wegen Verunglimpfung der Bundesflagge durch eine künstlerische Darstellung. Der nunmehr formulierte Maßstab findet sich dort nicht wortlautidentisch, sondern unmittelbar auf die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG bezogen und unter Hinweis auf die besondere Eingriffsintensität des in Rede stehenden Strafurteils. Beim dortigen Strafurteil hätte es des Sondermaßstabs zur Kontrollintensität gar nicht bedurft, denn die Intensität der verfassungsgerichtlichen Überprüfung sinkt und steigt klassischerweise entsprechend der Intensität des jeweiligen Grundrechtseingriffs (bspw. BVerfGE 59, 330 (334); 119, 1 (22)), so insbesondere bzgl. Art. 5 Abs. 1 GG (BVerfGE 83, 193 (145); 86, 1 (10)).

Bereits in einem Beschluss vom 10. November 2023 belebte die auch vorliegend entscheidende 1. Kammer des Ersten Senats den Maßstab in verschärfter Form wieder und erstreckte diesen auf äußerungsrechtliche Streitigkeiten vor Zivilgerichten. Dort geschah dies allerdings noch apodiktisch, indem die Kammer schlicht von der „gesteigerten Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Kommunikationsgrundrechte (vgl. BVerfGE 81, 278 <289 f.>)“ sprach (BVerfG, 1 BvR 2036/23 Rn. 20). Nunmehr bemüht es aber die zitierte Begründung, die vom klassischen Je-desto-Paradigma der Grundrechtsintensität abweicht und in ihrer jetzigen Kurzform einige Fragen aufwirft.

Im Maßstab steckt eine doppelte Begründung der hohen Kontrolldichte: Erstens habe grundrechtlich geschützte Kommunikation Öffentlichkeitsbezug und die betreffenden BVerfG-Entscheidungen daher fallübergreifende Wirkung, zweitens sei das einfachrechtliche Äußerungsrecht besonders fehlersensibel und der korrespondierende Grundrechtsschutz daher besonders vulnerabel.

Entsprechend des ersten Aspekts eine besonders breite Wirkung der BVerfG-Entscheidung mit dem Öffentlichkeitsbezug kommunikativer Handlungen herzuleiten, erscheint allerdings nicht eben zwingend. Entscheidungen, die Aussagen betreffend der Verfassungsrechte aller Eltern (Art. 6 Abs. 1, 2 GG), aller Gläubigen (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) oder aller Arbeitnehmenden (Art. 12 Abs. 1 GG) formulieren, dürften auch unter den Bedingungen heutiger Digitalisierung und Plattformisierung mitunter deutlich größere Personenkreise betreffen, als den erlauchten Kreis der sich regelmäßig an tausende Online-Follower wendenden Personen.

Die zweite Begründung ist insoweit interessant, als das Argument, dass bei der Auslegung des einfachen Rechts besonders sensibel vorgegangen werden müsse, klassischerweise für das Primat der sachnäheren Fachgerichtsbarkeit angeführt wurde. Nunmehr wird es um 180 Grad gedreht und grundrechtschützend gewendet. Auch die dem Argument zugrundeliegende Prämisse einer besonderen Fehlersensibilität ist nicht zwingend. Es fällt nicht eben leicht, sich ein Grundrecht vorzustellen, bei dem nicht „schon einzelne Fehler bei der Auslegung des einfachen Rechts […] zu einer Fehlgewichtung des Grundrechts führen können“.

Überzeugender hätte sich wohl argumentieren lassen, wenn allein auf die spezifischen Herausforderungen der Äußerungsdeutung abgestellt worden wäre oder auf die potenziell einschüchternde Wirkung in Bezug auf Staatskritik (vgl. BVerfGE 81, 278 (290); 93, 266 (292, 295 f.)).

Reichelt als Instrument gegen Haldenwang, Paus und Faeser?

Dass die Entscheidung des BVerfG – die ja als Verfassungsbeschwerde und nicht als einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG erging – derart schnell getroffen wurde, kann nach Ansicht mancher nicht verfahrensgegenständlich erklärt werden. Als die Bundesministerinnen Nancy Faeser und Lisa Paus im Februar diesen Jahres für ein „Demokratiefördergesetz“ eintraten, einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vorstellten und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang von staatswohlgefährdenden Äußerungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit sprach, trieb das nicht nur Gerhard Strate „die Schweißperlen auf die Stirn“. Einige, die sich damals echauffierten, meinen nun den entsprechenden Fingerzeig aus Karlsruhe zu erkennen – ob auf X oder, wie Volker Boehme-Neßler, der Faesers Vorgehen in „Berlin Direkt“ kritisiert hatte,  auf cicero.de („Ohrfeige für die Innenministerin und den Verfassungsschutzpräsidenten“; vgl. auch Reichelts Anwalt Joachim Steinhöfel auf faz.de: das BVerfG habe der Bundesregierung „eine Lektion darüber erteilt, was wirkliche Demokratieförderung ist“).

Gegen diesen Verdacht spricht nicht nur, dass Reichelts Tweet sicherlich als vieles bezeichnet werden kann, nicht aber als rechtsextremistisch. Gerade die Maßstäbe zur Staatskritik und „Behördenehre“ werden von der Kammer keinen Deut über den vorherigen status quo weitergetrieben oder zugespitzt, sondern in zwei Randnummern (Rn. 28 f.) unter zutreffendem Verweis auf BVerfGE 93, 266 (292 f.); BVerfG, Beschluss v. 28.11.2011 – 1 BvR Rn. 24) abgespult. Dass solche Spekulationen geäußert werden, erstaunt dennoch nicht, lassen sie sich doch einem unliebsamen politischen Projekt entgegensetzen und zahlen gleichzeitig auf das verbreitete Narrativ eines immer invasiveren, proaktiv ausgerichteten Verfassungsgerichts ein.

Dem soll hier nicht weiter nachgegangen, sondern stattdessen in  äußerungsrechtlicher Hinsicht noch zu den verfassungsgerichtlichen Maßstäben der „Behördenehre“ angemerkt werden, dass hierin ein Hebel bestünde, eine alte Prämisse des staatlichen Äußerungsrechts vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die treffende Prämisse, dass Behörden kein Ehrschutz im eigentlichen Sinne zukommt, dass diese aber funktional auf ein Mindestmaß gesellschaftlicher Akzeptanz angewiesen sind, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen zu können (Rn. 29) sollte auf das jeweilige Aufgabenprofil staatlicher Stellen bezogen und somit differenziert werden. Es könnte auch als Anstoß dafür dienen, die empirieferne und undifferenzierte Annahme einer besonderen Amtsautorität jeglicher hoheitlichen Informationstätigkeit (BVerfGE 138, 102 (115 Rn. 45); 148, 11 (28 Rn. 52); 154, 320 (337 Rn. 50); jüngst ausführlich zur Thematik C. Neumeier, AöR 149 (2024), 1 (44 f. und passim)) staatlicher Stellen aufzugeben. Die in der Rechtsprechungslinie zur „Behördenehre“ liegende Erkenntnis, dass staatliche Stellen teils erheblich darauf angewiesen sind, als glaubwürdige und qualitativ hochwertige Kommunikatoren zu gelten, bildete ein plausibles Fundament um ein zwischen staatlichen Funktionsträgern und Aufgaben differenziertes öffentlich-rechtliches Äußerungsrecht mit unterschiedlich strikten Regulierungsniveaus zu konstruieren. Auf dieser Grundlage würde Amtsautorität nicht mehr als besondere Regulierung erfordernde, per se vorhandene staatliche Machtressource begriffen, sondern als erst durch qualitativ hochwertige Kommunikation langfristig zu hegendes und zu pflegendes Desiderat staatlicher Stellen.

Biegen und Brechen bis zur Erschöpfung?

Kritik erfährt die Entscheidung demgegenüber – allen voran durch Felix Zimmermann auf lto.de – hinsichtlich der Handhabung der Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität.  Reichelt hätte es offen gestanden, die Zivilgerichte sowohl im Eilverfahren als auch im Hauptsacheverfahren weiter zu befassen und nach den hergebrachten verfassungsgerichtlichen Maßstäben wäre ihm dies wohl auch vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde zuzumuten gewesen.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hätte er nach §§ 936, 924 ZPO Widerspruch einlegen können, wodurch nicht einmal das in den Augen des BVerfG in seiner Rechtsüberzeugung gefestigte Kammergericht, sondern das erstinstanzlich befasste Landgericht Berlin nach ständiger Rechtsprechung wiederum des Kammergerichts (KG NJW-RR 2008, 520) zur Entscheidung berufen gewesen wäre. Erst gegen dieses Endurteil (§§ 936, 925 Abs. 1 ZPO) hätte die Bundesrepublik wiederum Berufung zum Kammergericht einlegen können (§§ 936, 925 Abs. 1, 511 Abs. 1 ZPO).

Im Übrigen hätte es nahegelegen, Reichelt in seinem nicht eben zeitdringlichen Fall auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen (vgl. BVerfGE 79, 275 (279)). Er hätte die Anordnung der Klageerhebung gem. §§ 936, 926 ZPO beantragen oder eine negative Feststellungsklage erheben können (wahlweise, BGH, Urt. v. 13.12.1984 – I ZR 107/82 – NJW 1986, 1815, oder gar kumulativ, OLG Hamburg, Beschluss v. 20.12.2001 – 3 U 212/01).

Denn bislang galt, dass allein daraus, dass das Gericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Sach- und Rechtslage nicht lediglich summarisch, sondern eingehend geprüft hat, nicht auf die offensichtliche Aussichtslosigkeit des Hauptsacheverfahrens geschlossen werden darf (BVerfG, BeckRS 2020, 17343 Rn. 10; BVerfG, NJW 2020, 2326 Rn. 9; Niesler, in: BeckOK BVerfGG, 16. Ed (Dez. 2023), § 90 Abs. 2 Rn. 176). Felix Zimmermann verweist treffend darauf, dass das BVerfG in der Vergangenheit selbst die Funktion der Rechtswegerschöpfung im Hauptsacheverfahren darin erblickt hat eine Entscheidung „zur Nachprüfung durch das Revisionsgericht zu stellen“ (BVerfG, Beschluss v. 13.6.2006 – 1 BvR 2622/05 -, Rn. 11). Auch der für das Äußerungsrecht zuständige VI. Zivilsenat könnte aber dafür sorgen, dass – um den obigen verfassungsgerichtlichen Maßstab zur Prüfungsintensität aufzugreifen – „die Freiheit dieser Lebensäußerungen nicht in ihrer Substanz getroffen“ wird. Von vornherein unzulässig wäre die Revision bzw. die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof jedenfalls nicht gewesen: Das Kammergericht hatte den Streitwert mit 25.000 Euro (Tenor III.) bereits im gegenständlichen Eilverfahren über dem Schwellenwert des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO festgesetzt.

Man könnte nun darüber mutmaßen, ob die Kammer auch insoweit eine äußerungsrechtliche Sonderdogmatik entwickeln möchte. Dass Gerichte von ihrer bisherigen Deutung einer Äußerung abweichen, mag man als noch unwahrscheinlicher als bei einer bislang eingenommenen Rechtshaltung ansehen. Begründbar wäre all das, aber die Begründung bleibt eben aus. Ohne diese desavouriert die Kammer den zivilprozessrechtlich vorgesehenen Instanzenzug etwas und mutet sich selbst perspektivisch zunehmende Verfahrenszahlen zu. Was die drei Kammermitglieder insoweit tatsächlich bewogen hat, bleibt also ein Rätsel.