This article belongs to the debate » Der Kopftuch-Beschluss: Zwei Senate, zwei Gerichte?
27 March 2015

Two Tales of Two Courts: zum Kopftuch-Beschluss und dem „horror pleni“

1. Mit dem Titel seines Beitrags „A Tale of Two Courts“ spielt Christoph Möllers auf die inhaltliche Spannung an, die zweifellos zwischen den beiden Kopftuch-Entscheidungen des Ersten und Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts besteht. Der Eindruck sei „irritierend“, so Möllers, „es hier nicht mit zwei Senaten, sondern mit zwei Gerichten zu tun zu haben, die den institutionellen Rahmen, aber nicht die juristische Argumentation teilen“. Es wird kaum das letzte Kapitel dieser Saga gewesen sein. Die Erzählung von den zwei Gerichten hat genug Potenzial für einen Fortsetzungsroman mit erheblicher „staying power“. Schließlich wird auch in Zukunft immer wieder einmal zumindest die Frage berechtigt sein, ob die besondere „Einheit in Zweiheit“ am Karlsruher Schlossplatz wirklich noch eine Einheit ist. Aus einer kulturwissenschaftlichen Beobachterperspektive verspricht es auch reichen Ertrag, diese Frage aufzuwerfen und die Erzählung darüber fortzuspinnen.

Für eine Antwort im Kopftuch-Fall wäre freilich zu klären, wie weit die inhaltlichen Differenzen wirklich reichen. Womöglich brachte die frühere Entscheidung eher inhaltliche Tendenzen zum Ausdruck, ohne sich konkreter festzulegen? Immerhin spricht auch das Sondervotum zum jetzigen Beschluss nur sehr zurückhaltend von Maßgaben, die das damalige Urteil „mindestens nahe gelegt“ habe, sowie von „Maßgaben und Hinweisen“, von denen sich die jetzige Mehrheit entferne. Und das Sondervotum zum damaligen Kopftuch-Urteil kritisierte die Mehrheit ja gerade dafür, dass diese „alle Fragen offen“ lasse.

2. Wie dem aber auch sei: Möllers deutet an, dass es womöglich auch noch Stoff für eine zweite Erzählung von den zwei Gerichten gibt – wobei er selbst in der Schwebe lässt, ob er auch diese zweite Story für erzählenswert hält. Sie würde nicht mehr nur von inhaltlichen Spannungen, sondern von rechtswidrigen Kompetenzüberschreitungen handeln. Möllers hält es zwar für „nachvollziehbar“, „die Risiken einer Plenarentscheidung vermeiden zu wollen“, stellt aber die Frage in den Raum, ob das hier noch rechtmäßig möglich war: „Soweit § 16 Abs 1 BVerfGG dem Gericht eine Pflicht zur Plenarvorlage auferlegt, mag man“, so Möllers, „bezweifeln, ob der Erste Senat in dieser Entscheidung noch als gesetzlicher Richter agiert hat.“ Er lässt das letztlich dahin stehen („sei es“).

3. Hat der „horror pleni“ hier also den Ersten Senat dazu geführt, die Vorlagepflicht an das Plenum zu missachten? Ob dieses zweite, von Möllers nur angedeutete Narrativ trägt, hängt nicht nur davon ab, ob die frühere Entscheidung überhaupt konkretere Aussagen getroffen hat, sondern auch davon, ob es sich dabei gerade um tragende Entscheidungsgründe handelte. Denn eine Vorlagepflicht besteht richtigerweise nur dann. Die Abgrenzung zwischen tragenden und nichttragenden Gründen („obiter dicta“) wird allzu selten „beackert“. Ihr näher nachzugehen ist nicht nur in diesem besonderen Kontext wichtig, sondern generell, namentlich auch für die beherzigenswerte Forderung, Rechtsprechung stärker zu kontextualisieren, wie sie etwa Oliver Lepsius immer wieder erhebt.

Was also sind tragende Gründe? Nach einer gebräuchlichen Definition sind es solche, „die nicht hinweggedacht werden können, ohne daß das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele“. Nicht tragend sind dagegen „Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs zwischen genereller Rechtsregel und konkreter Entscheidung stehen“. Diese Definition lag beispielsweise in der legendären Auseinandersetzung um die Frage des Kindesunterhalts als Schaden sowohl der damaligen Entscheidung des Ersten Senats zugrunde, aus der die Zitate stammen, als auch dem vorangehenden „Stellungnahme“-Beschluss des Zweiten Senats.

4. Es verdient Hervorhebung, dass ein Gericht es danach in erheblichem Umfang selbst in der Hand hat, wie weit die tragenden Gründe reichen sollen. Maßgeblich ist der Begründungsgang, also namentlich auch die Begründungsdichte, die das Gericht selbst wählt. Nur das Gericht entscheidet, ob es eine höhere Begründungsdichte oder eher einen „judicial minimalism“ à la Cass Sunstein will (siehe allerdings auch Sunsteins eigene Einschränkungen zu einem solchen Ansatz). Tragend sind nicht nur die Gründe, mit denen sich das Ergebnis bei minimaler Begründungsdichte vielleicht auch gerade noch hätte begründen lassen, sondern alle Gründe, die das Gericht konkret herangezogen hat, um das Ergebnis zu stützen.

5. Tragend können aber auch dann nur solche Gründe sein, die dazu dienen, das konkrete Entscheidungsergebnis zu stützen. Sie müssen mindestens im Begründungszusammenhang zum Ergebnis stehen. Gerade das kann man aber für die fraglichen Ausführungen in der ersten Kopftuch-Entscheidung mit Fug bezweifeln.

Was war damalige Ergebnis? Die kopftuchtragende Beschwerdeführerin hatte mit ihrer Verfassungsbeschwerde Erfolg. Der Urteilstenor stellte fest, dass die angegriffenen Rechtsakte sie in ihren Rechten verletzten, hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf und verwies die Sache zurück. Wie wurde dieses Ergebnis begründet? Die Ablehnung der Beschwerdeführerin wegen mangelnder Eignung verletzte ihre Rechte nach dem Urteil deshalb, weil es „jedenfalls an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ fehlte. Für ein „mit der Abwehr abstrakter Gefährdungen begründetes“ Kopftuchverbot reiche die „geltende beamten- und schulrechtliche Gesetzeslage nicht aus“ (S. 306 f.).

Mal angenommen, das Urteil hätte außerdem klipp und klar gesagt, dass ein Kopftuchverbot, das „mit der Abwehr abstrakter Gefährdungen“ begründet wird, ansonsten verfassungsgemäß sein kann, und es hätte auch genauer beschrieben, wie ein entsprechendes Gesetz auszusehen hätte. Wären diese Ausführungen dann für das Ergebnis tragend gewesen? Wohl kaum: Der Verfassungsbeschwerde wurde stattgegeben, weil Grundrechtseingriffe ohne eine hinreichend bestimmte gesetzliche Eingriffsgrundlage verfassungswidrig sind. Das Kopftuchverbot, das auf bloß abstrakte Gefährdungen gestützt werden sollte, war (schon deshalb) grundrechtswidrig, weil es („jedenfalls“) an der dafür nötigen hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage fehlte. Der Punkt lässt sich ganz generell fassen: Wenn ein Recht deshalb verletzt ist, weil für den Eingriff eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage fehlt, dann können jedenfalls zu diesem Begründungspfad einer Entscheidung Aussagen darüber, wann ein hinreichend bestimmtes Gesetz möglicherweise verfassungsmäßig sein könnte, keinerlei unterstützenden Beitrag leisten. Sie können stets „hinweggedacht“ werden, ohne dass deshalb das Ergebnis nach dem Gedankengang dieses Begründungspfads entfiele.

6. Ist aber die Aussage, dass ein hinreichend bestimmtes Gesetz nötig ist, nicht überhaupt nur dann sinnvoll, wenn ein Gesetz ansonsten verfassungsgemäß sein kann? Nein, schließlich kann ein Eingriff kumulativ sowohl den Parlamentsvorbehalt als auch weitere grundrechtliche Anforderungen verletzen. Den einen Verstoß festzustellen, muss andere Verstöße keineswegs ausschließen. So erklärte beispielsweise der israelische Supreme Court in seinem GSS-Urteil von 1999 bestimmte Verhörmethoden gegenüber mutmaßlichen Terroristen mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage für rechtswidrig – ließ jedoch offen, ob ein solches Gesetz nach israelischem Recht zulässig wäre. Zu dem Gesetz kam es dann nicht.

Das Kopftuch-Urteil sendete freilich andere Signale an die Landesgesetzgeber aus. Das macht diese Signale jedoch noch nicht zu tragenden Gründen. Die Frage nach einem Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt bleibt logisch unabhängig von der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit im Übrigen. Soweit sich also dem Urteil überhaupt konkretere Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit eines Kopftuchverbotes im Übrigen entnehmen lassen, handelte es sich dabei jedenfalls um obiter dicta. Der Erste Senat hat sich nicht eigenmächtig und kompetenzwidrig zu einem zweiten Gericht aufgeschwungen – sondern ist (allenfalls) von obiter dicta des Zweiten Senats abgewichen. Es verwundert deshalb nicht, dass auch das Sondervotum – immerhin von zwei „Richter-Richtern“ verfasst – keineswegs eine Plenumszuständigkeit behauptet. Nicht nur hält es sich wie wiedergegeben in der Frage inhaltlicher Abweichungen sehr zurück. Es stellt außerdem fest, der „hier zur Entscheidung berufene“ Erste Senat habe die „Maßgaben“ des damaligen Urteils „unausgesprochen als nicht entscheidungstragend bewertet“. Das Sondervotum bezeichnet also den Ersten Senat selbst als zur Entscheidung berufen: Hear, hear.

7. Es gibt also nicht nur eine denkbare Erzählung über zwei Gerichte, sondern „two tales“, die es sorgfältig auseinanderzuhalten gilt. Die eine Erzählung ist eher aus der Beobachterperspektive bedeutsam. Sie handelte nur von inhaltlichen Abweichungen zwischen den Kopftuch-Entscheidungen, wobei man darüber streiten mag, ob ihr Ausmaß und Gewicht es rechtfertigen, gleich von zwei Gerichten zu sprechen. Die andere wäre dagegen aus der kompetenzrechtlichen Teilnehmerperspektive zu erzählen. Sie wäre zwar besonders spannend, würde sie doch von Umgehung des Plenums, von Rechtsbruch und Kompetenzanmaßung handeln. Sie würde aber Abweichungen von tragenden Gründen voraussetzen. Schon deshalb ist an ihr, so die These – nichts dran.


SUGGESTED CITATION  Hong, Mathias: Two Tales of Two Courts: zum Kopftuch-Beschluss und dem „horror pleni“, VerfBlog, 2015/3/27, https://verfassungsblog.de/two-tales-of-two-courts-zum-kopftuch-beschluss-und-dem-horror-pleni/, DOI: 10.17176/20181005-145821-0.

3 Comments

  1. David Fri 27 Mar 2015 at 18:47 - Reply

    Als Nichtjurist frage ich: Zum Kopftuch gibt es zwei sich widersprechende Urteile des BVerfG. Wieso wurde dann offensichtlich nicht nach dem §16 (1) BVerfGG gehandelt?

    § 16 (1) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber das Plenum des Bundesverfassungsgerichts.

    Sie schreiben ja selbst, man habe den Eindruck, es mit zwei Gerichten zu tun zu haben.

  2. […] für den jüngsten Kopftuch-Fall eigentlich das Plenum zuständig? Mein Vorschlag, diese Frage zu verneinen, weil die neue Entscheidung nicht von tragenden Gründen der alten […]