20 November 2014

Unsere Verfassungspflicht, Katholizismus auszuhalten

Ein Chefarzt in einer katholischen Klinik lässt sich scheiden, findet eine neue Lebensgefährtin und heiratet sie.

Wo ist das Problem? Ich glaube, ich werde mich mit den allermeisten Leser_innen schnell einig werden: Ich sehe keins. Mit wem und wie lange der Mann verheiratet bleiben will, ist seine Privatsache, und wenn er sich dagegen verwahrt, dass ihm dort irgendjemand reinredet, sein Arbeitgeber zumal, dann hat er meine ganze Sympathie. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass sein Arbeitgeber ein katholisches Haus ist. Ich glaube, anders als rechtgläubige Katholiken, nicht an das unauflösliche heilige Sakrament der Ehe. Wenn der Mann ein guter Arzt und guter Chef ist, sollte er seinen Job machen können, ganz egal, mit wem er Tisch und Bett teilt.

Aber ich bin auch nicht das Grundgesetz (oder die EMRK).

Das Bundesverfassungsgericht hat heute einen Beschluss zu dieser Fallkonstellation veröffentlicht, den ich für ziemlich weise halte.

Der Zweite Senat hebt darin ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf, das versucht hatte, dem Chefarzt zu Hilfe zu kommen, indem es das Beharren des kirchlichen Arbeitgebers auf dem Sakrament der Ehe kurzerhand nicht ernst nahm: Die Klinik habe es auch sonst nicht so streng damit genommen, habe in anderen Fällen geschiedener und wiederverheirateter Mitarbeiter nichts unternommen und auch den Kläger nach seiner Scheidung erst einmal weiterbeschäftigt. Daher wiege ihr Interesse, die Loyalitätspflichten ihrer Mitarbeiter durchzusetzen, hier weniger schwer als das in Art. 6 GG und 8, 12 EMRK geschützte Interesse des Arztes, zu heiraten, wen er will.

So kann man das nicht machen, findet das BVerfG.

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, in religiösen Dingen neutral zu bleiben, und schützt in Art. 140 i.V.m. Art. 137 III WRV das Recht der Kirchen, ihre eigenen Angelegenheiten “im Rahmen der allgemeinen Gesetze” selbst zu regeln. Das gilt nicht nur dort, wo Religion praktiziert und gepredigt wird, sondern auch dort, wo die kirchliche Sendung durch karitative Nächstenliebe verwirklicht wird, also in Krankenhäusern. Wenn ihre Angestellten, zumal wenn sie der Kirche selbst angehören, auf eine Weise leben, die den Glaubenssätzen der Kirche fundamental widerspricht, dann kann das die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Sendung erschüttern, und das können die Kirchen ihren Angestellten – within reason – arbeitsvertraglich verbieten. Und wenn diese dann trotzdem dagegen verstoßen, können sie sie feuern.

Das ist alles soweit seit 1985 eigentlich verfassungsgerichtlich Stand der Wissenschaft und Technik. Doch das BVerfG hält es für nötig, seine Vorgaben konkreter und hochauflösender zu fassen (die heutige Entscheidung liest sich streckenweise fast wie ein Kommentar zu seiner eigenen Rechtsprechung und der des EGMR). Dazu erlegt es in solchen Fällen den Arbeitsgerichten auf, in zwei Stufen vorzugehen: Auf der ersten Stufe geht es um die Loyalitätspflichten kirchlicher Arbeitnehmer. Ist ihr Arbeitgeber überhaupt in kirchlicher Sendung unterwegs? Sind die arbeitsvertraglichen Loyalitätsverpflichtungen tatsächlich in kirchlichen Glaubenssätzen verwurzelt? Und sind Verstöße dagegen ein kleines oder ein großes Problem? All das, so das BVerfG, sei allein Sache der Kirchen. Sie müssen nur plausibel machen können, dass es so ist. Ansonsten hätten die Arbeitsgerichte das zu akzeptieren.

Erst im zweiten Schritt geht es ans Abwägen: Hier steht die Kirche mit ihrem Statusrecht, dort steht ihr Arbeitnehmer mit seinem Recht auf Privat- und Familienleben. Und Sache der Arbeitsgerichte sei es, zu schauen, dass beide so viel wie möglich davon behalten können. Praktische Konkordanz nennt man das, methodisch nicht besonders toll, aber im Großen und Ganzen funktionabel und vernünftig.

Gut möglich, dass der Chefarzt am Ende seinen Job zurückbekommt: Das BVerfG gibt dem BAG noch eine Reihe von Gesichtspunkten auf den Weg, die seiner Meinung nach für ihn sprechen könnten. Der heutige Beschluss ist mitnichten ein Kniefall vor Rom, der kirchliche Arbeitnehmer schutzlos jeder Pfaffenwillkür ausliefert. Er ist nur eine kraftvolle Erinnerung an die Entscheidung unserer Verfassung, die Autonomie der Kirchen anzuerkennen und zu schützen. Und diese Entscheidung ist mir völlig areligiösem Menschen lieb und teuer.

Beim Lesen der BAG-Enscheidung konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten das oberste deutsche Arbeitsgericht am liebsten gesagt: Leute, wir sind im 21. Jahrhundert, ihr glaubt doch nicht im Ernst immer noch an diese Sakramentsnummer. Das ist es, was unter dem Grundgesetz nicht geht. Was die Kirchen glauben, das glauben sie, ob es uns und unseren Gerichten gefällt oder nicht. Wir dürfen es doof finden, altmodisch, lächerlich, auch ungerecht, ja skandalös. Aber wir müssen sie es glauben lassen.

Verfassungsrecht bewährt sich dort, wo es darum geht, dem Anderen Anerkennung und Entfaltungsspielraum zu verschaffen, dem Anderen im Gegensatz zum Eigenen. Freiheit für das Eigene, für uns selbst und für das, was wir alle gut finden, ist billig zu haben. Aber das Andere, das von uns aus gesehen Außenliegende, das braucht robusten verfassungsrechtlichen Schutz, damit es nicht von uns passend gemacht und plattgewalzt und aus dem Weg geräumt wird, zu unserem eigenen Schaden. Das kann die Kunst sein, die wir nicht verstehen. Oder die Presse, die uns lästig wird. Oder die Wissenschaft, die unsere Gewissheiten erschüttert. Oder einfach mein kleines individuelles Ich mit meinen komischen Meinungen, Gewissensregungen, Intimitätswünschen. All das schützen wir, indem wir uns verfassungsrechtlich binden. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der lauter Sachen gedeihen, die uns fremd sind.

In einer solchen Gesellschaft möchte ich leben.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Unsere Verfassungspflicht, Katholizismus auszuhalten, VerfBlog, 2014/11/20, https://verfassungsblog.de/unsere-verfassungspflicht-katholizismus-auszuhalten/, DOI: 10.17176/20180216-122924.

23 Comments

  1. max Thu 20 Nov 2014 at 17:39 - Reply

    Die Frage die ich mir stelle ist nicht was der Arbeitgeber für moralische Standards setzen darf. Sondern ob dieser Arbeitgeber staatliche Gelder bekommt. Wenn er staatliche Gelder bekommt, hat er sich an die etablierten Werte und Normen zu halten und da wäre eine Kündigung aus diesem Grund vollkommen indiskutabel.

  2. RA Splendor Thu 20 Nov 2014 at 18:11 - Reply

    Lassen wir einmal die leichte Polemik ausser Acht, die Ihren Beiträgen in Bezug auf christlichen Glauben in der Regel eigen ist, Herr Steinbeis.

    Ein m.E. zulässiges Differnzierungskriterium bei staatlicher Kontrolle kirchlichen Arbeitgeberhandelns wäre die Finanzierung. Handelt es sich um eine Stelle, die vom Staat refinanziert wird, weil Grundversorgungsaufgaben wahrgenommen werden, hätte auch der kichliche Arbeitgeber das staatliche Arbeitsrecht einzuhalten. Wird die Stelle aus Eigenmitteln bezahlt, darf der kirchliche Maßstab angewendet werden. Das hätte den Vorteil, dass auch schon bei der Einstellungsentscheidung in stark konfessionell geprägten Gebieten (z.B. im katholischen Alt-Bayern) nicht Bewerbern mit nicht-römischer Konfession der Zugang zu einer Vielzahl an Berufen versperrt wäre. In so einer Gegen müsste man doch bisher z.B. als Arzt zur römischen Kirche übertreten, wenn man in einem Krankenhaus arbeiten möchte, weil es (fast) nur römisch-katholische Krankenhäuser dort gibt, die aber alle durch die Refinanzierung vom Staat oder der Versichertengemeinschaft getragen werden.

  3. Katharina Mangold Thu 20 Nov 2014 at 18:13 - Reply

    Die Frage ist für mich, wie weit die Religionsfreiheit die wirtschaftliche oder marktförmige Tätigkeit kirchlicher Einrichtungen schützt. Gewährleistet die Unverletzlichkeit der “Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses” auch das berufliche Lumpensammeln oder Menschen heilen? Ist es ein Eingriff in diese Freiheit, wenn wirtschaftliches Handeln (zB Arbeitsverträge abschließen) den allgemeinen Regeln für Rechtsgeschäfte (zB des AGG) unterliegt? Ist es wirklich eine überzeugende Interpretation, dass Ärztin oder Erzieher in katholischen Einrichtungen ihre Religionsfreiheit (oder gar jene der Kirche) verwirklichen? (Das von “max” erwähnte Problem der sog. Staatsquote, also der in weiten Teilen staatlichen Finanzierung solcher angeblich kirchlicher Tätigkeiten, tritt zu dieser Grundfrage nur verschärfend hinzu.)

  4. Þórsmörk Thu 20 Nov 2014 at 18:15 - Reply

    Danke für diesen Beitrag. Klug kommentiert. Verfassungspolitisch ist die Entscheidung des Zweiten Senats eine weitestgehend gute Sache, in der Ausführung im Einzelnen gibt es aber doch ein paar dunkle Punkte. Aber immerhin hat man sich wieder auf einen zutreffenden Tenor zurückbesonnen, nachdem vergangene staatskirchenrechtliche Entscheidungen mit § 90 Abs. 1 BVerfGG nicht vereinbar waren.

  5. AX Thu 20 Nov 2014 at 18:32 - Reply

    Es braucht dringend ein abgestuftes Schutzkonzept. Die Kirchen beschäftigen in Deutschland über eine Million Arbeitnehmer und die wenigsten davon sind in unmittelbarem Zusammenhang mit dem kirchlichen Verkündigungsauftrag tätig (so ein früheres Kriterium des BAG). Im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall hat der Arbeitgeber eine “Konzernstruktur” (O-Ton Internetseite) bestehend aus sechs GmbH, Geschäftsführung und Aufsichtsrat (auf dessen Internetseiten mit einer “Holdingübersicht” veranschaulicht) und nimmt am wirtschaftlichen Wettbewerb teil. Verlangt es Art. 137 Abs. 3 WRV wirklich, das kirchliche Selbstverwaltungsrecht derart weit zu fassen? Wo bleibt umgekehrt der “Entfaltungsspielraum” einer Kindergartenleitnerin?

  6. Diogenes Thu 20 Nov 2014 at 20:15 - Reply

    Sonst geben Sie doch auch oft der Religionsfreiheit den Vorrang bei der Abwägung der Grundrechte oder Werte von Verfassungsrang. Die Entscheidung ist gut vertretbar.

  7. Elvenpath Thu 20 Nov 2014 at 21:41 - Reply

    Tja, das lässt nur einen Schluss zu: Kirchen raus aus den Krankenhäusern.
    Das das problemlos geht, sieht man am laizistischen Frankreich, wo es fast keine kirchlichen Krankenhäuser gibt.

    Des weiteren möchte ich mich der Meinung von “max” anschließen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigt hat, dass unsere kirchlichen Krankenhäuser zu fast 100% vom Staat finanziert werden, also von ALLEN Steuerzahlern.
    Also haben sich diese Krankenhäuser gefälligst an die gesellschaftlichen Normen zu halten und nicht Leute zu diskriminieren, die nicht in ihre Ideologie passen.

  8. Elvenpath Thu 20 Nov 2014 at 21:46 - Reply

    “Er ist nur eine kraftvolle Erinnerung an die Entscheidung unserer Verfassung, die Autonomie der Kirchen anzuerkennen und zu schützen. Und diese Entscheidung ist mir völlig areligiösem Menschen lieb und teuer.”

    Das wäre nur dann in Ordnung, wenn die Kirchen die Krankenhäuser selbst finanzieren würden. Ansonsten muss ich so ein Verhalten nicht nur als areligiöser Mensch ablehnen.
    Die Kirchen möchten Autonomie, die aber bitte von allen bezahlt werden. Ne, so geht das nicht.

  9. Uwe Kranenpohl Thu 20 Nov 2014 at 21:49 - Reply

    Hmm!
    Einerseits find ich die Position von Maximilian Steinbeis schon sympathisch, die Religionsfreiheit und damit die Autonomie der Religionsgemeinschaften so hoch zu hängen. Ich interpretiere die Position mal so weiter, dass die Reform “seltsamer” Lebensverständnisse aus den Kirchen selber kommen muss (dann sollen die “aufgeklärten” Kirchenmitglieder aber mal kräftig ihre Stimme erheben).
    Andererseits kann man das Argument, dass die Kirchen nicht überall als Kirchen in eigentlichen Sinne tätig sind und dies dann auch noch mit öffentlichen Geldern (nicht aus der Kirchensteuer) tun, nicht einfach zurückweisen. Zumal die zurückgezogene Rolle der öffentlichen Hand in Teilen des Sozialen Dieste (Subsidiaritätsprinzip) ja seinerseits wieder eine Privilegierung gerade der Kirchen ist.
    Daher ist auch aus meiner Sicht ein Stufenkonzept erforderlich: Hohe Standards bei jenen, die in der Verkündigung tätig sind, niedrige bei jenen die in unterer Position faktisch gewerblich tätig sind und die dann faktisch vielleicht nur den üblichen Loyalitätspflichten gegenüber dem Arbei