05 May 2020

VB vom Blatt: Das BVerfG und die Büchse der ultra-vires-Pandora

Das Urteil in Sachen Anleihenkaufprogramm der EZB

1. Das Urteil des BVerfG zum „Anleihenkaufprogramm der EZB“ wurde nicht nur in Deutschland mit besonderer Spannung erwartet: Würde das Gericht erstmals den Bruch mit der EZB im Besonderen und dem Unionsrecht im Allgemeinen wagen? Und welche Folgen würde das für die Eurozone haben? Drohte vielleicht gar deren Zusammenbruch mitten in der Corona-Krise? Die Geduld der Wartenden wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt. Ursprünglich hätte das Urteil bereits am 24. März und damit nur wenige Tage nach der Ankündigung des coronabedingten Krisen-Programms der EZB (PEPP) ergehen sollen, wurde dann aber auf den heutigen Tag verschoben. Grund war laut BVerfG ebenfalls die Coronakrise. Der enge zeitliche Zusammenhang zur erneuten Krisenintervention der EZB gab freilich zu Spekulationen Anlass, dass das Urteil möglicherweise zurückgestellt worden war, um das Vorgehen der EZB nicht so früh zu behindern. Zwar entschied das BVerfG noch nicht über das neue Programm. Ein allzu restriktives Urteil hätte dennoch für Unsicherheiten und Turbulenzen auf den Finanzmärkten sorgen und nicht zuletzt die Risikoaufschläge für angeschlagene Staaten nach oben schnellen lassen können. 

2. Im Nachhinein wird man diese Befürchtungen als durchaus berechtigt ansehen müssen. Wie Andreas Voßkuhle bei (seiner vermutlich letzten) Urteilsverkündung ausdrücklich betonte, hat das BVerfG nun erstmals festgehalten, dass Handlungen der Europäischen Institutionen von der Kompetenzordnung nicht gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können. Auch wenn er zugleich ausführte, dass damit keine unmittelbaren Handlungsoptionen der EZB beeinträchtigt seien, wird dieses Urteil die Situation nicht nur innerhalb der Eurozone erheblich verkomplizieren. Nicht zuletzt Staaten wie Polen und Ungarn werden dieses historische Urteil sehr genau zur Kenntnis nehmen. Aber der Reihe nach.

3. Zur Erinnerung: Formal steht dieses Urteil am Ende des historisch zweiten Vorabentscheidungsverfahrens des BVerfG. Auch das erste Verfahren betraf mit dem OMT-Programm bekanntlich ein Anleihenkaufprogramm der EZB, das freilich in der Praxis nie umgesetzt wurde. Die EZB zielte darin vor dem Hintergrund der Finanz- und Eurokrise (erfolgreich) darauf ab, den Transmissionsmechanismus ihrer Geldpolitik zu sichern. Das BVerfG zweifelte allerdings an der geldpolitischen Qualität dieses Programms und nahm zudem einen potenziellen Verstoß gegen Art. 123 AEUV an, dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Der EuGH folgte dem nicht, sah vielmehr sowohl das Mandat als auch Art. 123 AEUV als gewahrt an. In seiner abschließenden Entscheidung akzeptierte das BVerfG die Auslegung des EuGH und verwarf dementsprechend die Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren.

4. In dem heute abgeschlossenen zweiten Vorlageverfahren erneuerte das BVerfG jedoch seine Bedenken, die sich diesmal indes auf ein anderes und nicht mehr per se krisenmotiviertes Programm der EZB bezogen: Das Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), wobei schon aufgrund seines Volumens vor allem eines der vier Unterprogramme, das Public Sector Purchase Programme (PSPP), im besonderen Fokus stand. Unter diesem Programm erwarb die EZB Anleihen von im Euroraum ansässigen Zentralbanken mit dem Ziel, die Inflationsrate im Euroraum an das von ihr formulierte Inflationsziel von „unter, aber nahe 2%“ anzunähern. Die Motivation unterschied sich insofern deutlich von derjenigen des OMT-Programms – es war eindeutig geldpolitisch motiviert. 

5. Das BVerfG hielt in seinem Vorlagebeschluss demgegenüber fest, dass es davon ausging, dass die vom EuGH aufgestellten Kriterien auch für andere Ankaufprogramme gelten würden und bejahte unter dieser Voraussetzung einen Verstoß sowohl gegen Art. 123 AEUV als auch gegen das allgemeine Mandat der EZB (Art. 119, 127 AEUV). Im Hinblick auf Art. 123 AEUV monierte es u.a. die faktische Gewissheit der Märkte bzgl. des Erwerbs der Anleihen durch die EZB, das Fehlen einer ausdrücklich normierten Mindestfrist zwischen der Ausgabe der Anleihen auf dem Primär- und deren Erwerb auf dem Sekundärmarkt sowie das Halten der Anleihen bis zu deren Endfälligkeit. Im Hinblick auf das Mandat bestritt das BVerfG zwar nicht die geldpolitische Motivation und bejahte in diesem Zusammenhang sogar die Rechtmäßigkeit der EZB-eigenen Definition von Preisstabilität (Rn. 117). Allerdings störte es sich an den erheblichen faktischen wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms, die daran zweifeln ließen, dass das Programm dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche. 

6. Im Ergebnis bejahte das BVerfG insoweit auch einen offensichtlichen und strukturellen Verstoß gegen die Kompetenzverteilung – seit der Honeywell-Rechtsprechung markiert dies eine Voraussetzung für die Geltendmachung des ultra-vires-Vorbehalts. Allerdings stellte es dieses Verdikt unter den Vorbehalt einer anderen Auslegung durch den EuGH. Hier zeigte sich – wie schon in der vorangehenden Vorlage – eine gewisse Inkonsistenz: Wieso sollte ein Verstoß offensichtlich sein, wenn der EuGH nach Ansicht des BVerfG zum Ergebnis kommen könnte, dass das Vorgehen unionsrechtskonform war? In einem solchen Fall läge ja nicht einmal ein Verstoß, geschweige denn ein offensichtlicher vor. Müsste das dann nicht auch den vom BVerfG festgestellten Verstoß zu einem nicht-offensichtlichen, weil umstrittenen machen (wofür auch die zahlreichen abweichenden Stimmen in der Literatur sprachen)?

7. In seinem Urteil folgte der EuGH den Ausführungen des BVerfG denn auch erneut nicht. Im Hinblick auf die Einhaltung des Mandats stellte er fest, dass auch solche Wirkungen als mittelbar einzustufen seien, die bei Erlass der Maßnahmen zwar vorhersehbar, aber gleichwohl nicht intendiert seien. Daher falle das PSPP angesichts seiner primären Zielsetzung und trotz der erheblichen Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik in den Bereich der Währungspolitik und gehe zudem nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus, womit freilich auch der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für einschlägig hielt. Schließlich reichten auch die von der EZB eingeführten Garantien aus, um sicherzustellen, dass das PSPP keiner unerlaubten monetären Staatsfinanzierung gleichkomme. Auch ein Wegfall des Anreizes zu einer gesunden Haushaltspolitik sei daher nicht zu konstatieren.

8. Soweit also der Stand bis heute Morgen. Jetzt aber, so wird man wohl sagen müssen, ist alles anders. Zwangsläufig kann im Folgenden nicht auf jede Facette des Urteils eingegangen werden – die umfassende Analyse auch aller mittelbaren Folgen wird dauern. Aber diese Folgen, soviel steht fest, gehen weit über den engen Bereich der Währungsunion hinaus. Hier sollen lediglich, wie in diesem Format üblich, nur einige wenige erste Gedanken formuliert werden.

9. Um das Handeln der EZB für ultra vires erklären zu können, musste das BVerfG zunächst die entgegenstehende und auch für das BVerfG bindende Entscheidung des EuGH beiseite schieben. Oder anders ausgedrückt: Das Urteil des EuGH musste um seiner Bindungskraft verlustig zu gehen, ebenfalls als ultra vires anzusehen sein. Genau das hält das BVerfG denn auch für dessen Prüfung der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich fest, wonach diese „Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit offensichtlich“ verkenne und daher „wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar“ sei (Rn. 119). Das ist gegenüber einem anderen Höchstgericht offenkundig nicht weniger als eine direkte Kampfansage, die das berüchtigte „Kooperationsverhältnis“ doch arg strapaziert. Der Zweite Senat gibt sich denn zwangsläufig große Mühe, diese Aussage ausführlich zu begründen, indem er die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Unionsrechtsordnung im Allgemeinen und in der Rechtsprechung des EuGH umfassend darlegt. Diese eigenen Maßstäbe seien es letztlich, die der EuGH verkannt habe, als er bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit allein auf die Zielsetzung der EZB geschaut, die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP aber gänzlich ausgeblendet habe – gerade weil er in anderen Bereichen, die vom BVerfG umfassend aufgelistet werden, solche Auswirkungen stets berücksichtigt habe. Warum, so heißt es in Rn. 153, hier anderes gelten solle, sei methodisch nicht nachvollziehbar.

10. Nun könnte der Grund tatsächlich aber gerade in den Besonderheiten der Geldpolitik liegen. Entsprechende Erwägungen stellt der Senat allerdings leider nicht an. Anders als in den aufgelisteten Bereichen befinden wir uns insoweit gerade nicht im Bereich des klassischen Eingriffsrechts, für den der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ursprünglich entwickelt wurde: Die ergriffenen (hoheitlichen) Maßnahmen dürfen vor dem Hintergrund des verfolgten Zwecks nicht mehr als unbedingt nötig in die subjektiven Rechte der Betroffenen eingreifen. Und schon hier zeigt sich das Problem: Im Rahmen der Geldpolitik fehlt es an einem solchen subjektiven Recht, in das eingegriffen wird. Welches sollte das sein? Bei einem Anleiheankaufprogramm etwa erwirbt die EZB Anleihen von privaten Marktteilnehmern. In deren Rechte wird also offenkundig nicht eingegriffen. Sie gehen die Geschäfte freiwillig ein. In wessen Rechte sollte aber dann eingegriffen worden sein? Allenfalls ließe sich argumentieren, dass die Wirtschaft als Ganzes beeinträchtigt wird und in der Tat ist es das auch, was der Senat im Einzelnen darlegt, indem er ein Potpourri an ökonomischen Auswirkungen auflistet, die sich aus dem Anleihenkaufprogramm ergeben hätten. Abgesehen davon, dass man die Kausalitäten hier mit guten Gründen bisweilen ökonomisch bezweifeln kann: Woran erkennt man nun, dass eine Maßnahme unverhältnismäßig wird, wenn man berücksichtigt, dass auch „normale“ geldpolitische Maßnahmen erhebliche ökonomische Auswirkungen dieser Art haben können? Als Beispiel mögen die drastischen Leitzinserhöhungen der amerikanischen Fed Ende der 70er Jahre genügen. Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen waren hier mehr als erheblich und haben vermutlich die Präsidentschaftswahl entschieden. War das also unverhältnismäßig? Die Fed sah sich ja allein dadurch in der Lage, die Inflation wieder in den Griff zu bekommen. 

11. Tatsächlich zeigt dieses Beispiel, dass die Berücksichtigung der wirtschaftspolitischen Auswirkungen „wie in anderen Bereichen“ gerade bei der Geldpolitik mehr als schwierig, ja vielleicht sogar partiell systemfremd erscheint. Die Möglichkeit der Zentralbank solche harten und budgetwirksamen Entscheidungen gegen eine Regierung zu treffen, war ja gerade der Grund, sie in die Unabhängigkeit zu entlassen und ihr allein das Mandat der Preisstabilität zu übertragen. Die EZB soll dieses Ziel gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste und den Blick nach links oder rechts verfolgen (abgesehen von einigen konkreten normativen Grenzen). Soll die EZB nun in Zukunft umfassende wirtschaftspolitische Erwägungen anstellen, wenn Inflation droht? Hier könnten sich die Gegner der EZB insofern ein Bein gestellt haben: Was sollten sie einer EZB entgegenhalten, die demnächst die Inflation ein wenig schleifen lässt, weil etwa Zinserhöhungen wirtschaftspolitisch allzu schlimme Auswirkungen hätten? Was das BVerfG hier durch die Hintertür einführt, ist – ähnlich wie dies bei der Fed der Fall ist – damit ein zweites Ziel der Geldpolitik, mit dem das primäre und ausdrücklich vorrangige Ziel der Preisstabilität unterlaufen werden könnte. Das Ganze könnte sich insofern gerade aus Sicht der deutschen Stabilitätsfreunde mittelfristig als Pyrrhussieg erweisen. Ohnehin, dass sei lediglich am Rande erwähnt: Wie hätte sich die Wirtschaft eigentlich ohne die Intervention der EZB entwickelt? Vielleicht wäre das ja alles noch viel schlimmer gewesen? Im Urteil des BVerfG liest man dazu nichts.

12. Bei der anschließenden eigenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit – bisher hatte der Senat ja lediglich die methodische Unvertretbarkeit der Prüfung des EuGH dargelegt – kommt das BVerfG nach den vorherigen Ausführungen wenig überraschend zu dem Ergebnis, dass das PSPP als unverhältnismäßig angesehen werden müsse. Der Sache nach rügt es allerdings vornehmlich die nicht transparente Begründung der Verhältnismäßigkeit durch die EZB (Rn 176). Das Programm ist also, so könnte man formulieren, aktuell unverhältnismäßig, weil das BVerfG die fehlende Abwägung der EZB nicht auf ihre Rechtmäßigkeit zu kontrollieren vermag. Die EZB hat nun drei Monate Zeit, um eine tragfähige Begründung nachzuliefern. Sollte das nicht geschehen, ist insbesondere die Bundesbank gehindert, am weiteren Vollzug des PSPP mitzuwirken (Rn. 235). 

13. Im Hinblick auf den ebenfalls in Rede stehenden Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung meldet der Senat zwar weiterhin Bedenken an, akzeptiert letztlich aber die Auslegung des EuGH bzw. sieht diese nicht als methodisch unvertretbar an.

14. Im Ergebnis bleibt damit allein der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der aber durch die EZB behoben werden kann, bevor es dazu kommt, dass die Bundesbank sich nicht mehr beteiligen darf. Das wird, so steht zu vermuten, auch schnell geschehen. Für die Währungsunion selbst dürften die unmittelbaren Folgen daher paradoxerweise weniger gravierend sein, als befürchtet. Positiv ist sicherlich, dass die EZB der Begründung ihrer Entscheidungen zukünftig mehr Sorgfalt widmen wird. Hier bestanden bisher durchaus Defizite, die eine gerichtliche Kontrolle tatsächlich erschwert haben. Das allerdings hätte das BVerfG wohl auch einfordern können, ohne den historisch ersten und folgenreichen ultra-vires Rechtsakt feststellen zu müssen. Für das neue Krisenprogramm PEPP dürfte die EZB im Hinblick auf die Begründung wohl auch noch einmal nachbessern. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass es hier zu erneuten Verfassungsbeschwerden kommen wird – immerhin ist hier mit der Sicherung des geldpolitischen Transmissionsprozesses ein Bereich betroffen, der im Gegensatz zum PSPP eher zur Geldpolitik im weiteren Sinne zu zählen ist (und damit normativ etwas angreifbarer scheint). Die Entwicklung einer – bisher in der Tat fehlenden – gerichtlich überprüfbaren Handlungsformenlehre steht insofern weiter erst am Anfang (wurde durch den Rekurs auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allerdings sowohl durch den EuGH als vor allem das BVerfG nun sogleich auf ein eher zweifelhaftes Fundament gestellt).

15. Gravierender dürften (leider) die Folgen sein, die das Urteil im Hinblick auf die europäische Rechtsgemeinschaft insgesamt haben könnte. Dass das vielleicht einflussreichste Verfassungsgericht der Welt (neben dem Supreme Court) dem EuGH eine methodisch unvertretbare Vorgehensweise attestiert hat, wird man jedenfalls in Polen und Ungarn mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Dort wird es jetzt noch einmal leichter fallen, sich missliebigen Urteilen aus Luxemburg mit dieser nun nobilitierten Argumentation zu entziehen. Das ist das eigentlich Tragische des Urteils: Im Bereich der Geldpolitik wird es vermutlich schnell verpuffen, für andere Bereiche und andere Mitgliedstaaten hat es aber die Büchse der ultra-vires-Pandora (ohne Not) geöffnet. Sie wieder zu schließen, dürfte praktisch unmöglich sein…