06 July 2023

Verantwortung und Vertrauen

Zur Weigerung der Ampel-Fraktion, einen „cum-ex-Untersuchungsausschuss“ einzusetzen

Der 5. Juli 2023 wird als ein historischer Tag in die bundesdeutsche Parlamentsgeschichte eingehen. Zum ersten Mal wird im Deutschen Bundestag ein von der qualifizierten Minderheit beantragter Untersuchungsausschuss nicht eingesetzt. Obwohl die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion über das nach Artikel 44 Abs. 1 Satz 1 GG notwendige Quorum eines Viertels der Mitglieder des Parlaments verfügen, konnten sie sich nicht mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den sog. cum-ex-Geschäften durchsetzen. Die parlamentarische Mehrheit der Ampelfraktionen machte verfassungsrechtliche Bedenken geltend und lehnte den Einsetzungsantrag ab. Die Einwände der Ampelfraktion können in ihrer Pauschalität jedoch nicht überzeugen. Sie widersprechen nicht nur der der Parlamentspraxis, sondern verkennen auch, dass sich Untersuchungsausschüsse des Bundes jedenfalls mittelbar mit Landesbehörden beschäftigen können.

Befassungs- und Untersuchungskompetenz sind deckungsgleich

Der Untersuchungsausschuss sollte aufklären, warum, auf wessen Weisung oder mit wessen Unterstützung die Hamburger Finanzbehörden die zu Unrecht erstatteten Steuern in Millionenhöhe von der M.M. Warburg & CO Bank nicht zurückfordern wollten. Verfassungsrechtlicher Streit herrscht jedoch darüber, ob es sich dabei überhaupt um einen zulässigen Untersuchungsgegenstand handelt. Art. 44 Abs. 1 GG normiert die Pflicht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, wenn ein Viertel der Abgeordneten dies beantragt. Die Verfassung schweigt indes zum Kompetenzbereich eines solchen Ausschusses und zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Untersuchungsgegenstände. In der Praxis hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Befassungskompetenz und Untersuchungskompetenz des Bundestages deckungsgleich sind. Konkret: Alle Angelegenheiten, mit denen sich der Bundestag befassen darf, darf er auch untersuchen. Die Frage lautet also auf den Punkt gebracht: Womit darf sich der Bundestag als Kontrollorgan befassen?

Vertikale Gewaltenteilung wird nicht tangiert

Nach Auffassung der Mehrheit des Bundestages nicht mit dem Verhalten von Länderbehörden, jedenfalls nicht unmittelbar. Dies sei ein Verstoß gegen die vertikale Gewaltenteilung, also gegen das Bundesstaatsprinzip. Das Handeln der Hamburger Finanzbehörden aufzuklären sei allein Sache eines Untersuchungsausschusses der Hamburger Bürgerschaft. Und dieser Untersuchungsausschuss existiere bereits. Parallele Untersuchungen seien insoweit nicht zulässig.

So pauschal ist diese Argumentation mit einem Fragezeichen zu versehen. Zum einen widerspricht sie der Parlamentspraxis. Insbesondere in den letzten Jahren haben beispielsweise parlamentarische Untersuchungen zum NSU und zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz zu parallelen Ermittlungen von Untersuchungsausschüssen der Länder und des Bundes geführt. In der Sache ging es mit der inneren Sicherheit sogar um Kernbereiche der Länderkompetenz. Zum anderen sind beim Vollzug von Steuergesetzen Kernkompetenzen der Länder, die deren Eigenstaatlichkeit betreffen, nicht betroffen. Vielmehr geht es um Fragen des reinen Verwaltungsvollzugs. Dieser hat treuhänderisch seitens der Länder für den Bund zu erfolgen. Es geht um Geld, das (auch) dem Bund zusteht. Eine amtlich tolerierte Steuerverkürzung trifft daher nicht nur das handelnde Land, sondern auch den Bund. Denn die Kapitalertragssteuer, um die es hier geht, steht als Gemeinschaftssteuer Bund und Ländern zu. Daher werden die Länder im Wege der Bundesauftragsverwaltung tätig. Sie unterstehen der Recht- und Zweckmäßigkeitskontrolle des Bundes, namentlich des Bundesfinanzministers.

Pflicht der Länder zum Steuervollzug – Keine Ersatzvornahme des Bundes

Die Länder haben keinen Ermessensspielraum, ob und wie sie diese Steuergesetze vollziehen. Vielmehr sind sie zum Steuervollzug verpflichtet. Der Bund seinerseits hat weder ein Selbsteintrittsrecht noch das Recht zur Ersatzvornahme, wenn ein Land dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Ihm bleibt im Wesentlichen das Instrument der Weisung, wovon der Bundesfinanzminister im Fall der M.M. Warburg & CO Bank auch Gebrauch gemacht hat. Der Bundestag als Kontrollorgan der Regierung und als Haushaltsgesetzgeber hat ein Interesse daran, zu erfahren, was beim Vollzug von Steuergesetzen auf Länderebene schiefgelaufen und wie es zum Verlust „seiner“ Einnahmen gekommen ist oder dieser Verlust drohte. Welche Stellen haben aus welchen Gründen den Vollzug nicht oder nur verspätet sichergestellt? Was waren die Motive dafür? Von wem ging die Initiative für das Vollzugsdefizit aus?

Mittelbare Kontrolle der Länderbehörden bei Bundesauftragsverwaltung

Insoweit steht die herrschende Meinung in der Rechtslehre auf dem zutreffenden Standpunkt, dass eine mittelbare Kontrolle der Länderbehörden zulässig ist. Im Kern darf der Bundestag Feststellungen zum Verhalten von Länderbehörden treffen, diese aber nicht politisch bewerten. Denn wie soll er wissen, ob der Bundesfinanzminister vorschnell oder zu spät von seinem Weisungsrecht Gebrauch gemacht hat, wenn er zum Geschehensablauf in den Ländern keine Feststellungen treffen darf?

Zudem ist es dem Bundestag unbenommen, aufgrund festgestellter Mängel im Landesvollzug eine Gesetzes- bis hin zu einer Verfassungsänderung anzustreben, wonach beispielsweise der Vollzug von Steuergesetzen künftig durch bundeseigene Behörden erfolgt. Dazu kann der Bundestag einen Untersuchungsausschuss in der Mischform einer Kontroll- und einer Gesetzgebungsenquete einsetzen. Letztere hat die Aufgabe, nach Abhilfemöglichkeiten für die im Rahmen der Kontrollenquete festgestellten Defizite zu suchen. Auch wenn die Entwicklung künftiger Verfahrensweisen in der Parlamentspraxis regelmäßig Aufgabe parlamentarischer Enquetekommissionen ist, so besteht jedoch keine Sperrwirkung gegenüber einem Untersuchungsausschuss. Das Parlament ist frei, welches Instrument es wählt. Eine Grenze liegt dort, wo die Gesetzgebungsenquete im Sinne einer Motivlüge nur vorgeschoben ist, um sich mit Vorgängen zu befassen, die außerhalb der Kompetenz des Bundestages liegen. Dass die Notwendigkeit von Handlungsempfehlungen seitens des Untersuchungsausschusses gerade anhand problematischer Einzelfälle untersucht wird, liegt dabei auf der Hand. Eine Befassungskompetenz des Bundestages unter diesen Prämissen zu verneinen, überzeugt daher nicht.

Politische Verantwortung und politisches Vertrauen als Kehrseiten

Dies gilt auch für den zweiten Komplex, die Prüfung der personell-politischen Integrität des Bundeskanzlers. Parlamentarische Kontrolle zielt nicht in erster Linie auf rechtliche, sondern auf politische Verantwortung der Exekutive ab. Politische Verantwortung greift weiter als rechtliche Verantwortung. Ihr Bezugspunkt ist die Pflicht, „im Sinne des Ganzen gut und richtig zu handeln.“ Politische Verantwortung ist die Kehrseite des politischen Vertrauens.

Der Bundeskanzler ist auf das politische Vertrauen der Abgeordneten angewiesen. Die Möglichkeit des Misstrauensvotums nach Artikel 67 GG und die Vertrauensfrage nach Artikel 68 GG belegen dies. Ob der Kanzler dieses Vertrauen verdient, richtet sich nicht nur nach seinem Verhalten im aktuellen Amt, sondern bezieht auch frühere amtliche Funktionen mit ein – ganz gleich, ob auf Länder- oder kommunaler Ebene. Daher darf ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundestages dieses Verhalten in den Blick nehmen und untersuchen. Er ist nicht auf die Amtsführung des Bundeskanzlers in diesem Amt beschränkt. Maßgeblich ist allein, ob ein früheres Verhalten Rückschlüsse auf die derzeitige Amtsführung zulassen oder das politische Vertrauen in die Person einschränken könnte. Die im Einsetzungsantrag aufgeworfenen Fragen, die sich mit der Rolle des heutigen Bundeskanzlers als Erster Hamburger Bürgermeister befassen, sind daher ebenfalls von der Befassungskompetenz des Bundestages gedeckt. Sie können mithin Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung sein.

Keine Teileinsetzung gegen den Willen der Antragsteller

Soweit der Einsetzungsantrag sich mit Fragen der Zusammenarbeit von Bundes- und Länderbehörden befasste, ließ die parlamentarische Mehrheit erkennen, dass sie insoweit zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses bereit sei. Dem steht allerdings § 2 Abs. 2 PUAG entgegen. Danach darf der Einsetzungsbeschluss den im Einsetzungsantrag bezeichneten Untersuchungsgegenstand nicht gegen den Willen der Antragsteller verändern. Es besteht ein sog. Bepackungsverbot und darüber hinaus, wie hier maßgeblich, ein „Verschlankungsverbot“. Ein besonderes Problem stellt sich jedoch, wenn die Mehrheit Teile des Einsetzungsantrags für verfassungswidrig hält. In diesem Fall regelt § 2 Abs. 3 PUAG – zumindest dem Wortlaut nach – die Verpflichtung der Mehrheit, den Untersuchungsausschuss unter Beschränkung der Teile, die der Bundestag mehrheitlich nicht für verfassungswidrig hält, einzusetzen. Auf die Zustimmung der Antragsteller käme es in diesem Fall nicht an. Dies würde bedeuten, dass sich die qualifizierte Einsetzungsminderheit zunächst nicht gegen einen „Untersuchungsausschuss light“ zur Wehr setzen könnte. Ihr bliebe nur das Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.

Diese Auslegung von § 2 Abs. 3 PUAG überzeugt jedoch nicht. Sie trägt dem Minderheitenschutz nicht hinreichend Rechnung. Denn letztlich zwingt sie der qualifizierten Minderheit einen Untersuchungsgegenstand auf, der sich beispielsweise nur mit Nebenaspekten oder auch politisch uninteressanten Fragen befasst. So wäre es hier, wenn sich die Untersuchung auf die Zusammenarbeit von Bundes- und Länderbehörden beschränken müsste. Von daher ist es konsequent, dass die Mehrheit von einer Teileinsetzung abgesehen hat, da die Antragsteller damit nicht einverstanden waren.

Wie es weitergeht

Nach der Ablehnung des Einsetzungsantrags kann die qualifizierte Einsetzungsminderheit ein Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen. Dessen Entscheidung darf mit Spannung erwartet werden. Denn die hier aufgeworfenen Fragen zur parlamentarischen Untersuchungskompetenz des Bundestages – insbesondere in Bezug auf Länderbehörden und Regierungsmitglieder – sind in den hier interessierenden Zusammenhängen bisher verfassungsgerichtlich nicht geklärt.

Der Autor nahm als Sachverständiger an der Anhörung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zum dem Einsetzungsantrag der CDU/CSU-Fraktion teil.


SUGGESTED CITATION  Glauben, Paul J.: Verantwortung und Vertrauen: Zur Weigerung der Ampel-Fraktion, einen „cum-ex-Untersuchungsausschuss“ einzusetzen, VerfBlog, 2023/7/06, https://verfassungsblog.de/verantwortung-und-vertrauen/, DOI: 10.17176/20230706-231107-0.

2 Comments

  1. cornelia gliem Thu 6 Jul 2023 at 15:04 - Reply

    hui. ja das ist tatsächlich ein historischer Tag, der seltsamerweise in der Öffentlichkeit kaum auffiel soweit ich das bemerken kann. Es kommt mir so vor, als habe die AMPEL-Mehrheit “irgendwelche” Argumente gesucht, um den Kanzler zu schützen. Was äußerst schade und bedenklich ist.

  2. Heiko Sauer Sun 9 Jul 2023 at 12:22 - Reply

    Sehr geehrte Frau Gliem,
    das kann man so m.E. nicht sagen:
    Ich habe wie Herr Glauben auch an der Anhörung im Deutschen Bundestag teilgenommen. Zwischen den insges. 7 Sachverständigen bestand in der Frage, dass die Untersuchung des Bundestages mittelbar auf Vorgänge in einem Bundesland ausgreifen darf, gar kein Dissens. Im Zentrum stand vielmehr die Frage, ob der Einsetzungsantrag auf eine solche MITTELBARE “Mituntersuchung” von Vorgängen in einem Land ausgerichtet ist oder nicht auf eine UNMITTELBARE Untersuchung dieser Vorgänge ohne nennenswerte Anknüpfung an das Aufsichtsverhalten der Bundesregierung. Eine solche unmittelbare Untersuchung ist nach der ganz herrschenden Auffassung im Schrifttum und nach der großen Mehrheit der angehörten Sachverständigen (überprüfbar) nicht zulässig.
    Echter Dissens zwischen den Sachverständigen bestand eigentlich nur in der Frage, ob der Bundestag zur Beurteilung der Eignung von Olaf Scholz für das Amt des Bundeskanzlers auch dessen früheres Verhalten als Regierungschef eines Landes untersuchen darf.
    Eine Gesamtschau des Einsetzungsantrags, der Stellungnahmen der Sachverständigen und des Verlaufs der Anhörung ergibt aus meiner Sicht recht deutlich, dass man mit der Annahme, Verfassungsrecht wäre hier von den Koalitionsfraktionen nur irgendwie vorgeschoben worden, vorsichtig sein sollte.
    Beste Grüße
    Heiko Sauer

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