Verfassungsänderung ausbremsen?
Zur Änderungsbedürftigkeit des Verfassungsänderungsverfahrens
Ob seines 70-jährigen Bestehens wurde das Grundgesetz kürzlich vielerorts als Erfolgsgeschichte gewürdigt. Vertreter aller Fraktionen nutzten diese Gelegenheit, um für eine Weiterentwicklung der Verfassung zu werben. Die konkreten Vorschläge reichten von der Verankerung von Kinderrechten über die Konstitutionalisierung des Klimaschutzes bis hin zu einer neuerlichen Reform des Machtgefüges zwischen Bund und Ländern.
Nicht erst vor dem Hintergrund dieser jüngsten Änderungswünsche werden Stimmen laut, die eine allzu leichte Änderbarkeit des Grundgesetzes kritisieren. Vor allem Dieter Grimm mahnt diesen Umstand bereits seit Jahren an und hat seine dahingehende Kritik anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Grundgesetzes noch einmal bekräftigt. Er schlägt vor, das Verfahren zur Verfassungsänderung um sog. „Unterbrecher“ zu ergänzen. Im Kern geht es darum, in das Procedere des Art. 79 Abs. 2 GG ein Element zu integrieren, das dem normalen Gesetzgebungsprozess fremd ist. Die hiermit einhergehende Disruption soll die Protagonisten aus Bundestag und Bundesrat dafür sensibilisieren, dass es sich bei einer Verfassungsänderung eben nicht nur um einen Akt der Gesetzgebung mit qualifizierten Mehrheitserfordernissen handelt und im Ergebnis einer inflationären Änderung des Grundgesetzes entgegenwirken.
70 Jahre – 63 verfassungsändernde Gesetze
Soweit der Therapievorschlag. Aber stimmt überhaupt die Diagnose? Ist das Grundgesetz zu leicht änderbar? Der Blick auf die bisherigen Zahlen legt dies zweifelsfrei nahe. 63 verfassungsändernde Gesetze in nur 70 Jahren sprechen eine deutliche Sprache, zumal häufig mehr als nur eine Grundgesetznorm novelliert wurde. Doch worauf sind diese häufigen Änderungen zurückzuführen? Immerhin macht Art. 79 Abs. 2 GG doch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich, über die in der Geschichte der Bundesrepublik bisher keine Partei verfügte.
Eine Ursache liegt darin, dass der Bundesrat im Prozess der Verfassungsänderung bisher selten die Rolle eines „echten Widerlagers“ innehatte. Hintergrund ist hier, dass der Bundesrat anders als der US-amerikanische Senat nicht als vollwertige zweite Kammer ausgestaltet ist. Er wird vielmehr durch die jeweiligen Landesregierungen beherrscht, was in der Vergangenheit dazu führte, dass ein einmal auf der Ebene der Parteipolitik gefundener Kompromiss nur selten am Zweidrittelmehrheitserfordernis im Bundesrat scheiterte.
Hinzukommt, dass sich das Verfahren der Verfassungsänderung nicht signifikant von der einfachen Gesetzgebung unterscheidet. Denn der derzeitige Modus der Verfassungsänderung hebt sich nur durch das Erfordernis der erwähnten Zweidrittelmehrheit vom gewöhnlichen Gesetzgebungsprozess ab. Diese Abweichung allein genügt aber nicht, um das „In-sich-Geschäft“ des Politikbetriebs bei Verfassungsänderungen aufzubrechen. Da die Beteiligten und die grundlegenden Verfahrensregelungen mit jenen eines normalen Gesetzesbeschlusses übereinstimmen, wird sich auch zur Überwindung von Blockaden der gewohnten Mechanismen des alltäglichen Politikbetriebs bedient. So werden Blockadehaltungen der Opposition bzw. des Bundesrates entsprechend der Machtlogik des Vermittlungsausschusses bei Zustimmungsgesetzen durch komplexe Kompromisspakete aufgelöst. Schließlich ergibt sich sowohl bei Verfassungsänderungen als auch bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen die Hürde qualifizierter Mehrheiten. Im Rahmen dieser – dem politischen Prozess ohnehin inhärenten − Aushandlungsprozesse sinkt aber freilich das Bewusstsein der Beteiligten dafür, dass es sich eben nicht um ein bloßes Zustimmungsgesetz, sondern um eine Änderung der grundlegenden Spielregeln der Politik handelt. Die Verfassungsänderung droht mithin ihren Sondercharakter zu verlieren und zum gesetzgeberischen Normalfall zu degenerieren.
Nachteile einer allzu leichten Änderbarkeit
Es bleibt allerdings die Frage, worin überhaupt das Problem einer allzu leichten Änderbarkeit der Verfassung liegt. Gegen die prinzipielle Möglichkeit einer Verfassungsänderung spricht erst einmal nichts. Sie ist im Gegenteil sogar Voraussetzung einer stabilen Verfassung, da die Änderbarkeit gewährleistet, dass Verfassungen auf neue Entwicklungen und Herausforderungen reagieren können. Anders gewendet: „A constitution that is too rigid invites its own replacement because it cannot cope with exogenous shocks“ (Ginsburg/Huq, How to Save a Constitutional Democracy, 2018, S. 173).
Auch der Einwand, die mit den bisherigen Grundgesetzänderungen einhergehenden Beeinträchtigungen „der sprachlichen Dignität und der stilistischen Ästhetik“ des Verfassungstextes führten unmittelbar zu einem Akzeptanzverlust des Grundgesetzes (Maurer, in: Kästner/Nörr/Schlaich, FS für Heckel, 1999, S. 821, 822), überzeugt kaum. Eine solche Korrelation würde voraussetzen, dass dem Gros der Bevölkerung der Verfassungstext tatsächlich bekannt ist und sich die Akzeptanz des Grundgesetzes aus eben dieser Textkenntnis speist. Eine derartige Annahme scheint aber eher realitätsfern. Wie sonst lassen sich die angesprochenen Lobpreisungen des Grundgesetzes anlässlich des kürzlich begangenen Verfassungsjubiläums als „Fundament einer stabilen Demokratie“ oder „Antithese zum Nationalsozialismus“ mit den bisherigen Verunstaltungen in Einklang bringen? Als Beispiel kann hier die Reform des Art. 16a GG dienen. Im Zuge dieser Änderung wurde ein zuvor prägnant gefasstes Grundrecht („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“) um vier zusätzliche Absätze und 271 weitere Wörter ergänzt. Herausgekommen ist ein sprachliches Ungetüm, das eher einer schwer verständlichen Verwaltungsvorschrift als einem Grundrecht gleicht. Festzuhalten bleibt aber, dass selbst diese – stilistisch fraglos völlig missglückte – Verfassungsänderung der gesellschaftlichen Akzeptanz des Grundgesetzes grosso modo keinen Abbruch getan hat (Gärditz, Atomausstieg ins Grundgesetz?, 2016, S. 42).
Das wirkliche Problem der bisherigen Änderungspraxis liegt darin, dass die beschriebenen Verhandlungsprozesse bei Verfassungsänderungen dem do ut des-Prinzip des Vermittlungsausschusses folgen. Dies bedeutet konkret, dass Blockadehaltungen der Opposition durch gegenseitige Zugeständnisse überwunden werden, die die verfassungsrechtliche Normierung zu vieler ‒ im jeweiligen Parteiinteresse liegender ‒ Detailfragen mit sich bringen. Verwiesen sei insoweit z.B. auf Art. 125c Abs. 2 Satz 2 GG, der auf § 6 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes Bezug nimmt. Derartige Regelungen, die ganz offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den grundlegenden Spielregeln der Politik stehen, sind in einer Verfassung, deren Zweck gerade darin liegt, das Machtgefüge innerhalb eines Staates zu normieren, schlicht deplatziert. Dieses „Hochzonen“ von Fragen, die strukturell eher auf der Ebene einfacher Gesetze anzusiedeln wären, erhöht freilich nicht nur (unnötig) die Technizität des Grundgesetzes, es engt – was viel schwerer wiegt − auch den demokratischen Spielraum der Politik ein. Denn die im Rahmen von parteipolitischen „Bündellösungen“ einmal auf die Ebene der Verfassung gehievten Fragen sind dem eigentlichen politischen Wettbewerb ‒ also der Gesetzgebung auf Grundlage wechselnder einfacher Mehrheiten ‒ bis zu einer neuerlichen Verfassungsänderung entzogen.
Unterbrecher als Lösung?
Vor diesem Hintergrund scheint es überlegenswert, das Procedere des Verfassungsänderungsverfahrens um die angesprochenen Unterbrecher zu erweitern. Gemeinsam ist allen dahingehenden Vorschlägen, dass die Gewohnheiten des politischen Tagesgeschäfts aufgebrochen werden sollen, um so die Sensibilität dafür zu steigern, dass es im Rahmen von Verfassungsänderungen eben nicht um „parteipolitische Punktsiege“, sondern um das Austarieren der Bedingungen des demokratischen Wettbewerbs geht.
Ein solcher Perspektivwechsel lässt sich auf unterschiedlicher Weise organisieren. Es ist z.B. denkbar, grundlegende Verfassungsänderungen – wie in Österreich (vgl. Art. 44 Abs. 3 der österreichischen Verfassung) – an ein Referendum zu knüpfen oder dem Volk insoweit ein Initiativrecht einzuräumen. Ich möchte mich hier aber auf die Möglichkeit konzentrieren, das Wirksamwerden einer beschlossenen Verfassungsänderung von einer Bestätigung des nächsten Parlaments abhängig zu machen. Dies sehen etwa die Verfassungen in Finnland oder den Niederlanden vor. Das unterbrechende Moment ist hier die Parlamentswahl, die der Wirksamkeit der Verfassungsänderung vorgelagert ist und die den Prozess der Verfassungsänderung für Stimmen außerhalb des politischen Geschäfts im engeren Sinne öffnet. Eine solche Unterbrechung hat zudem den Vorteil, dass ein erstmaliger Erdrutschsieg – wie beispielsweise jener von Viktor Orbán im Frühjahr 2010 – einer illiberalen Mehrheit nicht die Möglichkeit eröffnen würde, ad hoc die Verfassung zum eigenen Vorteil zu verändern. Fundamentale Änderungsvorschläge, die den politischen Wechsel für die Opposition dauerhaft erschweren und somit die eigene Herrschaft manifestieren, träten erst in Kraft, wenn ihre Initiatoren auch nach einer Wahl noch die politischen Mehrheiten innehätten. Es kommt somit zu einer unmittelbaren Einbindung des Staatsvolks – dem pouvoir constituant – in den Prozess der Verfassungsänderung und die Bürger erhalten die Chance eines „democratic recommitment“ (Ginsburg/Huq, a.a.O., S. 174 f.).
Gefahr der Inflexibilität
Zugleich liegt die Gefahr eines solchen Unterbrechers aber auf der Hand: Verfassungsänderungen – auch solche, die auf die Initiative liberaler Kräfte zurückgehen – wären künftig deutlich schwieriger zu realisieren. Der Handlungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers, seine Flexibilität, würde eingeschränkt. Insbesondere verfassungspraktisch ist daher Vorsicht geboten.
Wie würde sich ein modifiziertes Änderungsregime z.B. dann auswirken, wenn sich anlässlich einer neuerlichen EU-Krise innerhalb der etablierten politischen Landschaft parteiübergreifend die Bereitschaft zu einer weiteren europarechtlichen Vertiefung einstellte und diese eine Verfassungsänderung erforderte?
In einem derartigen Szenario wäre eine Regelung, wie sie beispielsweise § 73 Abs. 1 der finnischen Verfassung vorsieht, nicht praktikabel, da hiernach eine Verfassungsänderung erst mit Bestätigung des nächsten regulär gewählten Parlaments wirksam wird. Blendet man die relativ schwierig zu aktivierende Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 2 der finnischen Verfassung aus, bedeutet dies, dass – je nachdem, wann sich der Bedarf einer Verfassungsänderung einstellt – u.U. eine vollständige Legislaturperiode bis zum Wirksamenwerden einer Verfassungsänderung verstreichen müsste. Ob in einer handfesten EU-Krise wirklich so viel Zeit bliebe, um zu reagieren, darf getrost bezweifelt werden.
Mitnahmeeffekte für illiberale Kräfte
Praxistauglicher erscheint daher im Hinblick auf den Zeithorizont die niederländische Variante des Änderungsprocedere. Gem. Art. 137 Abs. 3 der niederländischen Verfassung ist nämlich nicht der Ablauf der Legislaturperiode abzuwarten, sondern das Parlament unmittelbar nach dem Beschluss einer Verfassungsänderung aufzulösen. Wirksam wird die Änderung dann auch hier mit der späteren Bestätigung durch das neu gewählte Parlament.
Auch eine solche Gestaltung birgt aber Risiken. Gerade das Szenario, in dem die Verfassungsänderung erfolgen soll, um eine weitere europäische Vertiefung zu realisieren, ist insoweit ein gutes Beispiel. Derzeit erscheint es naheliegend, dass einzig die AfD im Hinblick auf eine derartige Vertiefung eine ablehnende Haltung einnehmen würde. Mit einer solchen Positionierung ginge die Möglichkeit der AfD einher, die anzuberaumende Neuwahl politisch zu instrumentalisieren. Wahlkampftaktisch würde sich für die AfD das Narrativ nahezu aufdrängen, dass die bevorstehende Bundestagswahl ein Quasi-Referendum in Bezug auf die Unabhängigkeit Deutschlands darstellt und nur eine Stimme für die AfD diese zu sichern vermag. Die Erfahrungen des Brexit-Referendums zeigen, dass eine solche Strategie – ggf. garniert mit einer Desinformationskampagne − verfangen kann und erhebliche Stimmenzuwächse für die AfD als Mitnahmeeffekt zu befürchten wären.
Im Ergebnis steht man somit vor dem Problem, dass das niederländische Modell im Krisenfall anpassungsfähiger ist, zugleich aber Instrumentalisierungsrisiken mit sich bringt, während das finnische Modell diese Instrumentalisierungsrisiken ob der größeren zeitlichen Zäsur innerhalb des Verfahrens der Verfassungsänderung abfedert, sich aber in den Fällen als problematisch erweist, in denen eine unverzügliche Änderung der Verfassung erforderlich wird. Mithin wird deutlich, dass wohl jedem Modell der Verfassungsänderung politische Opportunitätskosten innewohnen und keines schlechthin geeignet ist, alle relevanten Faktoren im Prozess der Verfassungsänderung optimal abzubilden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich daher, dass das derzeitige Verfahren des Art. 79 Abs. 2 GG zumindest im Hinblick auf die Aspekte Flexibilität und Instrumentalisierungsrisiko Vorteile gegenüber den Regelungen aus Finnland und den Niederlanden birgt. Gleichzeitig erscheint es denkbar, dass sich das Problem einer extensiven Konstitutionalisierung von Detailfragen in Zukunft gar nicht mehr stellt, jedenfalls aber weniger dringend.
Bundesrat im Wandel
Innerhalb der politischen Landschaft kommt es in jüngster Zeit zu drastischen Verschiebungen, die dazu führen könnten, dass der Bundesrat doch zum echten Widerlager avanciert. Dies hängt vor allem mit der voranschreitenden Diversifizierung der Parteienlandschaft zusammen. In einzelnen Bundesländern ‒ Baden-Württemberg und Thüringen ‒ stellen aktuell schon Parteien den Ministerpräsidenten, die bisher nur als „Junior-Partner“ einer Regierungskoalition in Betracht kamen. Das nationale Europawahlergebnis ‒ insbesondere das Wahlverhalten der jüngeren Generation‒ macht deutlich, dass die Erosion der (früheren) Volksparteien sich auf absehbare Zeit nicht aufhalten lässt. Dreier- oder Vierer-Koalitionen sind daher wohl auch auf Landesebene künftig aller Voraussicht nach eher Regel denn Ausnahme. Kurzum: Die Zeiten, in denen sich nur die Spitzen von CDU/CSU und SPD einig werden mussten, um eine Verfassungsänderung auch erfolgreich durch den Bundesrat zu bringen, sind vorüber.
Besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht dem Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG zu, der ein Stimmensplitting im Bundesrat verbietet. Aus diesem Grund sehen Koalitionsverträge auf Landesebene für den Fall einer regierungsinternen Meinungsverschiedenheit regelmäßig eine vollständige Enthaltung des jeweiligen Landes im Bundesrat vor. An einer solchen Regelung ‒ genauer gesagt an der ablehnenden Haltung der hessischen Grünen ‒ scheiterte Anfang 2019 auch die Bestimmung weiterer „sicherer Herkunftsstaaten“ i.S.v. § 29a Abs. 2 AsylG. Gem. Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG erfolgt diese Bestimmung zwar nur durch ein Zustimmungsgesetz, sodass es hier gar nicht um eine Verfassungsänderung ging. Ergeben sich allerdings bereits auf dieser Ebene aus den geänderten politischen Rahmenbedingungen neue Herausforderungen, muss dies erst recht für Verfassungsänderungen gelten, die – anders als Zustimmungsgesetze − eine Zweidrittelmehrheit erfordern.
So leicht dürfte die Verfassung künftig also gar nicht mehr zu ändern sein.