06 February 2021

Verfassungsbruch? Schlimmer: Ein Fehler

Die Aufkündigung der Moderne durch die Pandemiepolitik 2.0

Ob der Lockdown fortgesetzt wird, entscheidet sich nach Lage der Dinge nicht nach Maßstäben des Verfassungsrechts. Nachdem im Herbst 2020 sogar in Regierungserklärungen über „Verhältnismäßigkeit“ und „Angemessenheit“ gesprochen wurde, besteht inzwischen kein Anhaltspunkt mehr, dass Entscheidungen der Exekutive – wie auch immer sie in den nächsten Wochen und Monaten lauten – aus rechtlichen Gründen begrenzt werden könnten. Vor allem mit dem Wunderwort der „Vorsorge“ hat man sich neue Beinfreiheit verschafft. Wie kam es dazu? Und warum ist das ein Fehler?

I. Staatsrechtswissenschaft in der Krise

Die Corona-Debatte in Deutschland begnügt sich in Sachen Verfassungsrecht im Wesentlichen mit der Formel: Leben schlägt Freiheit. Diese merkwürdige Verkürzung hat zunächst einmal mit dem Zustand der Verfassungsrechtslehre zu tun. Sie konnte ebenso wie die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit mit der Pandemie bisher nicht besonders viel anfangen. Der praktische Effekt ihres Tuns – etwa durch Einflussnahme auf bessere Gesetze, daran zu messende Verordnungen, effizientere Verwaltungsführung – hält sich in engen Grenzen, und daher hat die Politik schnell gelernt, dass in Sachen COVID-19 auf die üblichen Unterscheidungen der Rechtslehre nicht viel zu geben ist. Wo wackere Oberverwaltungsgerichte bei Ungleichheit und Unbestimmtheit ansetzen, werden sie gekontert durch das legendäre Wort der Bundeskanzlerin, dann müsse man gegebenenfalls eben mehr verbieten. Große, übergreifende Beschreibungen, die darauf reagieren und auch materiell etwas zum Verhältnis von Selbstbestimmung und Schutz zu sagen hätten, sind kaum zu finden – und wer auch nur Kontrollfragen zur Konsistenz der Corona-Regularien formuliert, wird vom kommissarischen Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages mit Maßnahmen der cancel culture belegt.

Es gibt einen naheliegenden Erklärungsansatz für diese surreale Lage: Art und Umfang der Pandemiemaßnahmen liegen so weit jenseits aller bisherigen Erfahrungswerte des Fachs, dass der eingeübte professionelle Maßstab nicht greift. Niemand würde ja zunächst ernstlich bestreiten, dass seit März 2020 die schärfsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik zu verzeichnen sind, noch dazu flächendeckend und ohne absehbares Ende – die Vermutung für die Freiheit, die unseren Staat 70 Jahre gekennzeichnet hat, wurde zugunsten des Schutzes der individuellen Gesundheit und des Systems der Krankenversorgung praktisch aufgehoben. Dennoch ist scheinbar zu all dem für viele Vertreter des Fachs im Grunde nichts zu sagen. Man verweist bestenfalls auf das Schutzgut Leben, auf die besondere Konstellation des Eilrechtsschutzes, auf das dynamische Geschehen, die „Stunde der Exekutive“, und überwintert in einer ziemlich privilegierten Stellung.

Diese Erstarrung findet ihre Ursache letztlich in einem Kategorienfehler, der aus der Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes folgt: Verfassungsrecht, das sind die Pfade, die in mythischer Vorzeit vor allem von roten Roben so erstaunlich erfolgreich gebahnt wurden und auf denen man sich mit der Alternative „verfassungswidrig/verfassungsgemäß“ in Zustimmung und Kritik sicher bewegt. Solange Karlsruhe (oder unter anderen Umständen Luxemburg oder Straßburg) keinen Rahmen vorgibt, kann die Staatsrechtslehre in der Konsequenz einer solchen Anschauung zu gänzlich neuen Verhältnissen wenig beisteuern – und zu den grundstürzenden Umständen im Doppeljahr 2020/2021 hat das Bundesverfassungsgericht (mit der bemerkenswerten und sofort wirksamen Ausnahme des Versammlungsrechts) eben kaum etwas gesagt.

Wäre stattdessen die Lehre von der Verfassung eine Grundwissenschaft im lebendigen Verfassungsstaat – an der Spitze aller Beratungsvorgänge, unverzichtbar für ein nachhaltiges Krisenmanagement – müsste sie zu den inneren Zusammenhängen von Freiheit und Schutz, von Eingriff und Leistung, sogar von Leben und Tod vordringen, unabhängig von der kleinen Münze gerichtlicher Verfahren. Dann könnte sie, und so müsste es doch vielleicht sein, auch jetzt die Anwendungsebene in Exekutive, Legislative und Judikative prägen, statt als praktisch irrelevant zur Seite geschoben zu werden. Es gäbe ein Bewusstsein dafür – und es würde vom Fach einhellig verteidigt –, dass alle Intensivmedizin, alle Forschung, alle Produktion von Arzneimitteln, aber auch alle Vorsorge, alle Hilfe für Kinder, alle Versprechungen der sozialstaatlichen Hilfe von Grundverabredungen des freiheitlichen Verfassungsstaats abhängen, und man diese jedenfalls nicht einfach auf Kredit suspendieren kann. Ohne diese Hilfestellung aber verrennt sich die Politik in eindimensional gesteuerten Dilemmata, aus denen kaum noch ein Ausweg zu finden ist. Das soll an drei Aspekten näher belegt werden.

II. „Vorsorge“: So-oder-so-Lockdown

Niemand erwartet ernsthaft, dass in absehbarer Zeit eine spürbare, allgemein wirksame Lockerung von Pandemiemaßnahmen ansteht. Neben einer allgemeinen Zermürbung liegt das auch daran, wie als Teil des „Erwartungsmanagements“ auf vielen Kanälen kommuniziert wird, dass man bei Verboten bleiben müsste, egal wie die Lage sich konkret entwickelt: Hohe Zahlen seien schlimm, niedrige aber letztlich auch nicht gut, weil sie angesichts „britischer Mutanten“ falsche Sicherheit mit sich brächten – auch Städte und Kreise, die seit Wochen unter der gesetzlichen 50er-Inzidenz sind, können nicht auf Erleichterungen hoffen. Der Ort, an dem diese Sicht auf die Dinge sich zu Entscheidungen verdichtet, ist seit 10 Monaten bekanntlich die „BKMPK“, also die faktisch durch das Bundeskanzleramt geleitete Ministerpräsidentenkonferenz: Hier werden die großen Linien der Corona-Strategie abgestimmt, bevor sie dann vor Ort politisch durchzusetzen sind. Nahegelegt wird diese Praxis letztlich durch den Bundesstaat selbst mit seiner eigentümlichen Mischung aus Zuständigkeiten, die „vertikal“ zwischen Bund und Ländern und „horizontal“ zwischen Regierungen und Parlamenten aufgeteilt sind. Das hat zunächst einmal seine gute Ordnung – von tiefem Staat oder Corona-Diktatur keine Spur. Allerdings wird so der eigentlich vorgesehene Gang der politischen und gesellschaftlichen Diskussion eben doch von den Füßen auf den Kopf gestellt, mit zunehmenden Wagenburg-Effekten. Schon die Zulieferung und Auswahl von Informationen folgt erkennbar deutlich engeren Pfaden, als das etwa im regulären parlamentarischen Betrieb der Fall wäre. Rechtfertigen muss sich, wer von der Marschroute der Absprachen abweicht, längst bevor daraus verbindliche Rechtsnormen gemacht sind, und in Gegensatz zu der Idee des Grundgesetzes, die Ausführung der Bundesgesetze in Art. 83 GG zur „eigenen Angelegenheit“ der Länder zu machen.

Nun ist der dramatische Ausgangspunkt für diese Entwicklung ja mit Händen zu greifen: Die dynamische Verbreitung des Corona-Virus mit immer neuen Erkenntnissen und Umständen legt das möglichst eng abgestimmte und zugleich bewegliche „Fahren auf Sicht“ sachlich nahe. Die Frage nach Maßstäben ist damit aber nicht obsolet. Hier wirkt nun das frische Wort von der „Vorsorge“ wie ein Relaxans – entdeckt auf der BKMPK im Januar und sofort flächendeckend eingesetzt. Wie bei den meisten Entscheidungen der letzten zehn Monate hat dieses Vorsorge-Argument eine rationale, leicht zu erfassende Logik, die hier auf besonders infektiöse Virus-Mutationen reagiert. Wenn aber der Eindruck entsteht, dass „Vorsorge“ als eine Art verfassungsrechtliche Breitband-Begründung funktioniert, verlässt das die Basis rationaler Politik in einem ganz fundamentalen Sinn: Denn die offenen Demokratien haben Politik seit jeher vor allem auf ihre praktischen Ergebnisse in der Wirklichkeit überprüft, statt an Programme und Vorhersagen zu glauben. Daraus schöpfen sie historisch ihre Überlegenheit. Für diesen Blick auf Wirklichkeit ist Wissenschaft, verstanden in einem umfassenden Sinn, äußerst nützlich. Deswegen kann sich auch die Infektionsschutzpolitik mit dem Begriff der Vorsorge nicht von einem verbindlichen Tatsachenbezug verabschieden, um in den Bereich der dauernden Modellierung von Wirklichkeit zu wechseln. Und entsprechend reicht es auch nicht hin, die Frage nach der Geeignetheit der brachialen Maßnahmen über Wochen und Monate angesichts bescheidener Erfolge mit der Feststellung abzuwehren, ohne genau diese Maßnahmen stünde man jedenfalls schlechter da. Das ist in einem ganz schlichten Sinn nicht zu widerlegen, verwechselt letztlich die Welt aber mit einem Labor.

Man muss schon allgemein entgegenhalten: Wie will man eine solche Politik vom Ende her denken? Vorsorge ist gut – aber vor allem nie abgeschlossen. Deswegen ist sie auch typischerweise gerade nicht mit flächendeckendem Zwang und Verboten verbunden – denn der Vorsorgestaat würde kein Ende finden, tödlichen Gefahren entgegenzutreten, wenn er damit einmal beginnt. Das Verfassungsrecht hat diese Einsicht bisher abgebildet, indem es tatsächliche Grundlagen für Vorsorge- oder Risikoregelungen und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe verlangt: Kausalität, Zurechnung, Verantwortung, eingetragen in den Erfahrungsspeicher der Rechtsordnung etwa bei Umwelt und Terrorismusbekämpfung. Nur in unübersichtlichen, zeitlich und sachlich begrenzten Sondersituationen wurde dem Staat zugebilligt, „auf Verdacht“ zu handeln. So konnte es auch zu Beginn der Corona-Epidemie im letzten Frühjahr vertreten werden. Aber statt die Anforderungen etwa an den Nachweis von Tatsachen und Begründungen für die Wirksamkeit von Maßnahmen zu erhöhen, wird ganz im Gegenteil derzeit erwartet, dass sich das Publikum an eine „Im-Zweifel-für-die-Sicherheit“-Begründung gewöhnen soll. Der Begriff der Vorsorge kehrt die Beweislast um. Man sollte ehrlich sein: Freiheit, die ihre Ungefährlichkeit beweisen muss, ist abgeschafft.

III. Das Leben der Anderen

Der Faktor Zeit wird politisch bisher auch deshalb unterschätzt, weil das Verfassungsrecht keine hinreichend präzisen Modelle steigender Grundrechtsbelastung zuliefert. Es herrscht die Vorstellung, dass jedenfalls rechtlich gesehen ein einmal vorhandener Eingriff sich in seiner Wirkung nicht steigert. Inzwischen beobachtet man zwar mit Unbehagen, dass Anspannung und Not zunehmen, und die Bundesregierung reagiert darauf mit einer erneuten Verständnis-Offensive. Aber eine echte Einsicht, dass sich tatsächlich die Grundrechtseingriffe mit jedem Tag vertiefen, also dynamisch und nicht statisch zu betrachten sind, ist damit nicht verbunden. Es fehlt an Tabellen und Sprachbildern für die sich auftürmenden Grundrechtsschäden. Dieses Feld wird epidemiologischen Podcasts überlassen.

Auch hier scheint ein fundamentales staatstheoretisches Problem auf: Die Lebenswelten von Entscheidern und Meinungsmachern auf der einen Seite und „den Menschen im Lande“ fällt unter Corona-Regeln per staatlichem Befehl auseinander. Zwar kann und muss Politik nicht durch Betroffene gemacht werden. Wer aber jeden Abend in einem neuen Fernsehstudio sitzt, durch Deutschland und Europa jettet und Ansprache von beliebig vielen Mitarbeitern hat, dem fehlt in einem prinzipiellen Sinn die solidarische Anschauung, was Schulkinder, Studenten, Arbeitslose, psychisch Kranke, nein: eigentlich fast jedermann, zur Zeit durchmachen. Die Bevölkerung schaut sich Spitzensport und Talkshows, dicht an dicht, zur Erbauung an – aber wen kann es denn wundern, dass diese Parallelwelt zugleich fassungslos macht, jeden Tag ein wenig mehr. Auch in dieser Aufteilung zwischen „die und wir“ verlässt die Corona-Politik eine Grundverabredung der freien, republikanisch gesonnenen Welt: Unterschiede beruhen nicht auf staatlichem Zwang.

IV. Leben und Sterben mit Corona

Das Dilemma, das durch die Unerreichbarkeit staatlicher Vorsorgeversprechen erzeugt wird, führt letztlich zum Verhältnis von Leben und Tod als Grundkategorien des Verfassungsstaats: Wenn jeder Todesfall „an, mit und wegen Corona“ als Versagen der Politik, als ethisches Versagen einer solidarischen Gesellschaft betrachtet wird, darf die Verbotspolitik prinzipiell niemals enden. Selbst bei höchster Impfstoffwirkung und selbst bei Impfpflicht und selbst bei Therapien wird es auf unabsehbare Zeit weiter Todesfälle „im Zusammenhang mit Corona“ geben – eben weil der Tod die eine große Sache ist, die die ganze Menschheit noch immer verbindet. Menschen sterben, oft mit einem schweren Tod, fast immer unverschuldet, mit unerfüllten Träumen, Ängsten, alleingelassen, oder auch in Ruhe und gelöster Stimmung, manchmal jung, oft alt, oft auch an Infekten, wenn das Leben sich erschöpft hat. Die Medizin lässt sich in der Tat auf den Tod nicht ein. Das mag man als ihren Auftrag sehen – als Gesellschaft dürfen wir es freilich besser wissen.

Die Politik hat sich aber vollkommen an eine einseitige (intensiv-)medizinische Perspektive gebunden und sie in der ihr eigenen Art zu einem totalen Anspruch umformuliert. Eine solche Politik muss aber scheitern, wenn sie ihre Formeln („Jeder Tote ist zu viel!“) wirklich ernst nimmt, oder sie führt in die totale Entgrenzung des Maßnahmenstaats. Das sind Alternativen, die mit unserer Verfassungsordnung nicht viel gemein haben. Das Grundgesetz ist in der Tat eine Verfassung, die dem Leben verpflichtet ist. Jedes leichtfertige Reden über die Grenzen von Leben und Gesundheit würde die historischen Einsichten hintergehen, auf die unser Staat gegründet ist. Es besteht aber ein kategorialer Unterschied zwischen den verfassungsrechtlichen Geboten, menschliches Leben nicht zu schädigen und miteinander im Schutz solidarisch zu sein – und der Hybris, einen bestimmten Tod aus dem Feld schlagen zu wollen und dafür notfalls die offene Gesellschaft zu opfern. Darüber kann gestritten, aber nicht geschwiegen werden.


SUGGESTED CITATION  Wißmann, Hinnerk: Verfassungsbruch? Schlimmer: Ein Fehler: Die Aufkündigung der Moderne durch die Pandemiepolitik 2.0, VerfBlog, 2021/2/06, https://verfassungsblog.de/verfassungsbruch-schlimmer-ein-fehler/, DOI: 10.17176/20210206-115729-0.

26 Comments

  1. schorsch Sat 6 Feb 2021 at 13:18