Verfassungstreue in der thüringischen Kommunalpolitik
Zur Einordnung des Falles Sesselmann
Die Wahl des AfD-Kandidaten Robert Sesselmann zum Landrat in Sonneberg erregte viel Aufsehen. Der Erfolg des AfD-Kandidaten Hannes Loth bei der Bürgermeisterwahl in Raguhn-Jeßnitz schon weniger. Am meisten debattiert wurde jedoch die Überprüfung der Verfassungstreue von Sesselmann, mehr noch als die Konsequenzen seiner Wahl für den Landkreis. Nun wurde bekannt, dass Sesselmann den „Demokratie-Check“ bestanden hat. Das Landesverwaltungsamt als Rechtsaufsichtsbehörde kam zu dem Schluss, dass der Kandidat nach beamtenrechtlichen Maßstäben die Gewähr dafür bietet, sich jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) einzusetzen. Die beamtenrechtliche Verfassungstreue ist ein Mittel der wehrhaften Demokratie. Obwohl mit der nationalsozialistischen Machtübernahme und dem Weimarer Scheitern begründet, schaffen ihre Instrumente es nicht, rechte Bedrohungen frühzeitig wahrzunehmen und zu verhindern. Im Gegenteil, in der Tendenz sind sie demokratieverkürzend, und wenden auch schon in ihrer rechtsgeschichtlichen Genese den Blick nach links; die Rechten lassen sie gewähren. Der Fall Sesselmann verdeutlicht dies aufs Neue.
Verfassungstreue und fdGO
Der umständliche juristische Sprachgebrauch des Gewährbietens wird im Beamtenrecht mit Verfassungstreue oder politischer Treuepflicht umschrieben. Die Begriffe sind aber nicht deckungsgleich und nicht synonym zu verwenden. Treue ist nicht Gehorsam, sondern beinhaltet ein Ermessen nach bestem Wissen und Gewissen sowie Können. Die politische Treuepflicht findet vor allem dann Anwendung, wenn es keine Verfassung gibt.
In Monarchien ist Herrschaft durch personale und traditionale Treuebeziehungen legitimiert. Hier ist ein persönliches Treueverhältnis der Mitglieder des staatlichen Apparates unabdingbar für dessen Stabilität. Mit der Entstehung und Entwicklung moderner Staatlichkeit und ihrem Verwaltungsapparat wird dieses Treueverhältnis abstrakter, aber nicht weniger relevant für stabile Verhältnisse. Mit Bezug zur Verfassung wird auf eine Wertordnung und damit eine rationale und nicht mehr auf eine charismatische oder traditionale Herrschaft abgestellt.
Mit Blick auf das Grundgesetz lässt sich behaupten, dass dies im Wesentlichen in das Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) übersetzt wurde. Die fdGO ist der zu schützende Kern der wehrhaften Demokratie. Oft hat der Verweis auf sie letztbegründlichen Charakter. Sie wird in vielen Rechtsbereichen als potenzielle Ausgrenzungsmöglichkeit angeführt; sie ist ein wertaufgeladener Rechtsbegriff, der repressiv eingesetzt werden kann. Als Formel mit Verweis auf demokratische Staatsorganisationsprinzipien ist sie aber rationaler und abstrakter formuliert als die traditionale Bindung an einen Monarchen.
Eine erste Legaldefinition der fdGO wurde in den Referentenentwürfen und Gesetzgebungsprozessen zum BVerfGG und 1. StÄG 1950/51 vorgelegt. Insbesondere im Strafrecht prägte der inzwischen erstarkte Ost-West-Konflikt die Zielrichtung der fdGO-Definition. Der Blick in die jüngere nationalsozialistische Vergangenheit verstellte sich zunehmend. Das BVerfG übernahm im SRP-Verbot schließlich im Wesentlichen die Definition aus der Strafrechtsnovellierung von 1951 (vgl. § 88 StGB i.d.F.v. 1951). Mit dem Fokus auf die Würde des Menschen, die sich durch Demokratie und Rechtsstaat verwirkliche, löste das BVerfG in seinem Urteil zur NPD von 2017 die fdGO etwas aus ihrer vom Kalten Krieg geprägten antikommunistischen Entstehungsgeschichte und etatistischen Stoßrichtung. Obwohl sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Auslegung der fdGO weiterentwickelt und liberalisiert hat, wird oft noch die Definition des SRP-Verbots zitiert (vgl. bspw. Wagner, öAT 2021, 183f.). Im NPD-Urteil wird die fdGO im Kern durch einen Dreiklang aus Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat charakterisiert. Das BVerfG bezeichnet diese Grundsätze als „schlechthin unverzichtbar“ (Rdnr. 529) für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat.
Was Preußenschlag und Radikalenerlass gemeinsam haben
Was zeigen historische Ereignisse über fdGO und Verfassungstreue? Sie offenbaren die Fragwürdigkeit von Treuebekenntnissen, die Illiberalität von Personalprüfungen und dass Demokratie durch repressive Abwehr nur schwer zu schützen ist. Zwei Beispiele möchte ich anführen.
Interessant ist der sogenannte „Preußenschlag“ des Präsidialkabinettes von Franz von Papen. Nach dem „Altonaer Blutsonntag“ 1932 verhängte von Papen über Preußen den zivilen und militärischen Ausnahmezustand. Die eskalierte SA-Demonstration im Juli 1932 durch Hamburg Altona war der Vorwand für die Reichsregierung, die preußische Regierung aufzulösen. Weniger erforscht ist, wie sofort begonnen wurde, die Verwaltung insbesondere in den ostpreußischen Gebieten umzubauen. Preußen war das „letzte Bollwerk der Republik“ (Ingo Müller, Vortrag 17. Juli 2022), gerade weil in Preußen durchgängig die Weimarer Koalition regiert hatte und somit die Verwaltung Stück für Stück demokratisiert worden war. Der Preußenschlag war auch eine „Säuberung der preußischen Innenverwaltung von Republikanern“ (Ingo Müller, ebd.). Mit diesem Coup wies von Papen auch für den Nationalsozialismus den Weg zur Machtübernahme. Der nationalsozialistische Staatsstreich bediente sich des Wortlautes der Papeschen Notverordnungen und der Legalitätsbehauptung. Durch letztere konnte der – ohnehin in weiten Teilen (national-)konservativ oder monarchistisch eingestellte – Beamtenapparat für die Nationalsozialisten als neue Machthaber gewonnen werden. Die Loyalität oder, eben etwas strenger, die Treue der Mitglieder der Verwaltung zum bestehenden politischen System und seinen Regularien ist zentral für sein Fortbestehen. Mit dem neu besetzen preußischen Verwaltungsapparat war nicht mehr viel Gegenwehr zu erwarten.
Ein zweites Beispiel ist der Radikalenbeschluss des Jahres 1972. Dieser Beschluss der Ministerpräsidenten der Bundesländer wird heute als historische Folie zur Bewertung der Verfassungstreueprüfung herangezogen. Auch als konservative Reaktion auf die 1968er-Bewegung wurde beschlossen, dass Personen, bei denen Zweifel an der Treue zur Verfassung, mithin für das Eintreten für die fdGO bestünden, nicht in den öffentlichen Dienst übernommen werden konnten. In den Bundesländern entwickelten sich diesbezüglich unterschiedliche Praktiken. Zumeist fand regelhaft eine Abfrage bei den Landesämtern für Verfassungsschutz statt. Wenn Zweifel auftraten, wurden die Bewerber:innen zu einem Gespräch vorgeladen, in dem sie die Zweifel auszuräumen hatten. Obwohl der Beschluss formal auf linke und rechte Gruppen zielte, waren insbesondere Mitglieder der DKP und der K-Gruppen von der Praxis betroffen. Verwaltungsleitlinien und Vorgaben für die Anhörungen in Hamburg beispielsweise zeigen, dass nur auf das linke Spektrum gezielt wurde und für Bewerber:innen von rechts nicht einmal passende Fragen für die Anhörungen vorbereitet waren. Unter dem Stichwort „Berufsverbote“ wurde diese Überprüfungspraxis, die mehrheitlich Berufsgruppen im Erziehungs- und Bildungsbereich betraf, selbst international kritisiert.
In der historischen Rückschau ist es insbesondere interessant, dass augenscheinlich das frühere NS-Personal keine Bedrohung für die sich etablierende Bundesrepublik darstellte, etwaige Kommunist:innen hingegen schon.1) Dieser Umstand allein zeigt, dass die Kritik an der illiberalen Praxis der wehrhaften Demokratie, wie sie beispielsweise von Helmut Ridder oder Ingeborg Maus vorgebracht wurde, nicht von der Hand zu weisen ist. In der Tendenz sind Überprüfungsmaßnahmen und Treuepflichtvorgaben illiberal und repressiv, insbesondere wenn die Informationen nachrichtendienstlich erlangt werden.
Neuer Trend: Verfassungstreue als Schutz vor der AfD?
Was bedeutet diese Geschichte der Verfassungstreue nun für die thüringische Kommunalpolitik des Jahres 2023? Nun ja, auch heute ist die Verfassungstreue der Beamt:innen zentral für die Bundesrepublik. Mit Blick auf die rechte Landnahme der AfD ist Besorgnis angezeigt. Die Erfolge Robert Sesselmanns und Hannes Loths bei den Kommunalwahlen werden nicht die letzten der AfD gewesen sein. Die Umfragewerte für die kommenden Landtagswahlen zeigen, dass die AfD weiter zulegt. Das Ergebnis der Verfassungstreueprüfung von Robert Sesselmann zeigt vor allem, dass dem Vormarsch der AfD mit den juristischen Mitteln der wehrhaften Demokratie nur begrenzt beizukommen ist. Eine Mitgliedschaft in der AfD, selbst im thüringischen Landesverband, ist augenscheinlich noch kein hinreichendes Kriterium für den Ausschluss von einem Amt in der Kommunalpolitik. Die Abwägung zwischen Parteienprivileg und Treuepflicht wurde hier zugunsten der liberaleren Seite aufgelöst.
Das kann man auch gutheißen. Welche Folgen hätte ein anderes Ergebnis gehabt? Das Landesverwaltungsamt kann nicht nach politischen Konsequenzen entscheiden. Eine Aberkennung der persönlichen Eignung Sesselmanns für das Landratsamt hätte wahrscheinlich Entrüstung unter seinen Wähler:innen ausgelöst. Nur zu gut hätte dies in die Erzählung von der AfD als wahre Oppositionspartei, die von den „Altparteien“ ausgegrenzt wird, gepasst. Medial dagegen die sachliche Deutungshoheit zu gewinnen, scheint ein Kampf gegen Windmühlen.
Nun ist Sesselmann Landrat in Sonneberg. Wie es im Landkreis weitergeht, bleibt zu beobachten. Wie sich das rechte Hegemoniestreben in Thüringen weiterentwickelt, zeigte sich jüngst im Gesetzgebungsprozess zur Beschleunigung von Disziplinarverfahren. Mit Blick auf die Definition von „Verfassungsfeinden“ im öffentlichen Dienst sagte ein AfD-Abgeordneter in der Sitzung des Innenausschusses des Bundestages am 12. Juni 2023: „Vielleicht ist Björn Höcke nächstes Jahr schon Innenminister in Thüringen und damit Dienstherr des Verfassungsschutzes. Dann schauen wir mal…“ Diese Andeutung ist eine Warnung, man könnte sie auch Drohung nennen. Sie verweist auf die historisch oben beschriebene Problematik von Verfassungstreueregelungen bzw. der wehrhaften Demokratie: Sie lassen sich nach politischen Vorzeichen umdefinieren.
Der rechten Hegemonie in manchen ländlichen Räumen wird nicht mit einer Verfassungstreueprüfung von Kommunalpolitiker:innen beizukommen sein. Das ist eine politische Auseinandersetzung, die nicht auf der juristischen Ebene entschieden wird. Eine mühselige, aber nachhaltige Strategie wäre der Ausbau sozialer und kultureller Infrastruktur, die Förderung von Mobilität und Gesundheitswesen sowie eine finanzielle Stärkung der Kommunen auch mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels. Auf juristische Abwehr ist nur bedingt Verlass – das zeigt die Vergangenheit.
References
↑1 | Obwohl sich der Rechtsterrorismus spätestens seit den 1970er Jahren verstärkt organisierte und Anschläge durchführte, lag der behördliche Fokus auf linken Gruppierungen. Viele rassistische Anschläge sind unbekannt und oft auch kaum ermittelt: Vgl. https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/rassismus_und_geschichtswissenschaft_manthe |
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