24 June 2020

Verfolgte Grundrechtsträger?

Was passiert im Moment mit und in unserer Polizei?

Das Bild war in allen Nachrichtensendungen präsent, das Video wurde tausendfach angeklickt: Der Polizeibeamte, der in der Stuttgarter Innenstadt massiv angesprungen wurde. Wir sehen Gewalt gegen Polizei, nachdem in den vergangenen Wochen viel über Gewalt durch Polizei diskutiert wurde. Wandelt sich die Perspektive, wechseln Polizeibeamt*innen von der Täter- noch stärker in die Opferrolle? Ist zu befürchten, dass aus verfolgenden nun verfolgte Grundrechtsträger werden? Wohl kaum.

In den vergangenen Wochen und Monaten war viel von Grundrechten die Rede, die Corona-bedingt eingeschränkt wurden. Jetzt, wo wir das Licht am Ende des Corona-Tunnels sehen, überschlagen sich die Ereignisse. Die (ausgerechnet) Stuttgarter Party-Szene sorgt für bundesweite Besorgnis. 19 verletzte Beamte, und sofort erfolgt der Ruf nach konsequentem Durchgreifen und härteren Strafen. Es werden wieder einmal „rechtsfreie Räume“ zitiert, dieses Mal von einem grünen Oberbürgermeister in Stuttgart, der auch die gesamte Härte des Gesetzes fordert und dabei in einem Zug die „liberale und weltoffene“ Stadt und Polizei in Stuttgart betont. Nur am Rande sei angemerkt, dass es im Raum Stuttgart über lange Zeit wohl tatsächlich, aber andere „rechtsfreie Räume“ gab, nämlich dort, wo ein großer Automobilkonzern unter den Augen der grün-schwarzen Landesregierung munter Software fälschen und Kunden betrügen durfte. 

Polizeibeamt*innen sind unzweifelhaft Grundrechtsträger – wie jede andere Bürger und jede andere Bürgerin in unserem Land auch. Sie haben die gleichen Rechte, und auch einige mehr, Stichwort Gewaltmonopol. Wer mehr Rechte als andere hat, muss damit aber sorgsam umgehen und muss sich auch gefallen lassen, dass seine Handlungen genau beobachtet und auch kritisiert werden, wenn Grenzen überschritten werden.  Kritik an der Polizei grenzt aber, diesen Eindruck kann man manchmal haben, an Majestätsbeleidigung. Wer z.B. anmerkt, dass Pfefferspray gefährlich ist und zu oft von der Polizei unangemessen eingesetzt wird oder wer sich daran stört, wie mit psychisch kranken Menschen umgegangen wird, der wird schon mal als „Hetzer“1) bezeichnet, der sich „mitschuldig an Stuttgart“ mache.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft DPolG HH springt gleich auf den Zug auf, kritisiert die Justiz und fordert mehr oder weniger unverblümt Richter zum Rechtsbruch auf, wenn sie auf Twitter schreibt: „Zum Autoritätsverlust der #Polizei tragen auch Richter bei, die Straftäter immer wieder laufen lassen. Gerade beim Kampf gegen Drogendelikte haben viele Beamte schon lange das Gefühl, nicht mehr Freund & Helfer, sondern Depp der Nation zu sein“ – worauf Rechtsanwalt Hüttl zurecht behauptet, dass damit vermittelt werde, ruhig mal ein paar Angeklagte einzuknasten, auch ohne sichere Feststellung der Schuld. Die Polizei soll „vom Freund und Helfer zum Deppen“ werden, meint in diesem Kontext ein WAZ-Redakteur, und für ihn ist es „auch bezeichnend, dass jetzt der Innenminister in einem Shitstorm steht, weil er eine Kolumnistin der ,taz’ anzeigen will“. Während man von Journalisten (im Gegensatz zu Politikern) durchaus mehr Sorgfalt bei der Recherche erwarten kann, ist der Aufschrei der DPolG erwartbar gewesen. Die kleinste aber lauteste Gewerkschaft fällt immer wieder dadurch auf, dass sie rechtslastige Forderungen erhebt; so hatte die (nicht ganz ernst gemeinte) Forderung von Andreas Hüttl, sie durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen, durchaus einen Hintergrund.

Horst Seehofer hätte mit seiner Ankündigung, Strafanzeige gegen die taz-Journalistin zu stellen, nicht deutlicher machen können, dass ihm der Schutz der Polizei wichtiger ist als der Meinungsfreiheit, und damit der Verfassung. Dabei genießt weder die Polizei als Institution noch der einzelne Polizeibeamte einen besonderen, über das für einen Bundesbürger übliche Maß hinausgehenden verfassungsmäßigen Schutz – Journalisten (und übrigen auch Wissenschaftler) sehr wohl. Polizisten können sich auf Gesetze und das Gewaltmonopol berufen, aber sie müssen immer die entsprechenden, durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder die Strafprozeßordnung gesetzten Grenzen einhalten. Tun sie dies nicht, dürfen sie auch nicht geschützt werden. Durch wen auch immer. 

Die Polizei ist ein Teil der vollziehenden Gewalt und gemäß Artikel 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Dies bedeutet, dass die Polizei geltende Gesetze beachten muss, und Eingriffe in die Rechte von Bürgern sind nur zulässig, wenn dafür eine gesetzliche Eingriffsbefugnis gegeben ist. Polizist zu sein reicht dafür nicht aus. Dies gilt übrigens sowohl für den Bereich der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als auch für den Bereich der Gefahrenabwehr.

Der Staat der modernen Sicherheitsgesellschaft wird zunehmend nervös, und mit ihm seine Akteure. Man befinde sich in permanenter Alarmbereitschaft  und halte ständig nach potentiellen Feinden Ausschau – so Tristan Barczak in einer aktuellen Studie. Nervös zu sein ist kein Vorwurf, nervös zu handeln aber sehr wohl. Und eine solche Nervosität macht sich gegenwärtig auch in deutschen Landen breit. Ausgelöst durch die Diskussion um den Mord (ja, das war es!) an George Floyd in den USA schwappt die Diskussion um Rassismus in der Polizei auch zu uns herüber. Dabei haben wir es spätestens seit mehreren Entscheidungen von (Ober-)Verwaltungsgerichten auch schriftlich (und juristisch abgesichert), dass es Racial Profiling in der Polizei gibt – was zuvor vehement bestritten wurde. Und auch der Stuttgarter OB Kuhn sieht „kein rassistisches Profil“ bei der Polizei. Natürlich hat er Recht: „Die“ Polizei als Institution hat kein rassistisches Profil, einzelne Maßnahmen und einzelne Beamt*innen aber sehr wohl. Dass man dies nicht mit der Theorie vom faulen Apfel, den es in jedem Korb gebe, begründen kann, wissen wir längst. Das strukturelle Problem liegt weniger in der Tatsache, dass einzelne Beamt*innen möglicherweise latent gewaltbereit und/oder rechtsextrem orientiert sind; es liegt in dem Umgang mit solchen Ereignissen und Personen.

Die mangelnde Fehlerkultur, die nicht nur ich oft genug kritisiert habe2), führt dazu, dass man sich fast sicher fühlen kann, wenn man als Beamter etwas falsch macht – auch, weil Kolleg*innen, die ein solches Fehlverhalten bemerken, dies meist weder intern noch extern anzeigen. Auch Georg Floyd hätte nicht sterben müssen, wenn seine anwesenden Kollegen eingeschritten wären. Zeit genug dazu hatten sie. Auch an mich werden immer wieder Fälle herangetragen, bei denen ich mich frage, warum die anderen anwesenden Beamt*innen nicht interveniert haben. Jeder kann einmal die Nerven verlieren und überreagieren; solange aber anständige (sic!) Kolleg*innen dabei sind und einschreiten, ist dies zwar noch immer verwerflich, im Ergebnis dürfte das Fehlverhalten dann aber meist deutlich weniger dramatische Auswirkungen für die Betroffenen haben, als wenn die Kolleg*innen wegschauen. 

Exzessives polizeiliches Gewalthandeln ist seit Jahren bekannt und spätestens seit der Untersuchung von Tobias Singelnstein aus dem vergangenen Jahr auch empirisch belegt. Als „Lagebedingtes Systemversagen“ bezeichnete die taz die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod von Aristeidis L., der an Händen und Füßen gefesselt erstickte, während ihn vier Einsatzkräfte auf dem Bauch fixieren. Kein Einzelfall, denn der sog. „lagebedingte Erstickungstod“ ist seit langem auch in der Polizei bekannt und dort in die Ausbildung integriert3). Es ist auch bekannt, dass er bei psychisch angeschlagenen Menschen oder solchen unter Drogeneinfluss eher auftritt. Zumindest kann dies bekannt sein, wenn man sich informiert, was man von den Beamten, vor allem aber von ihren Vorgesetzten erwarten kann und muss.

Dennoch werden Ermittlungen in Fällen von Polizeigewalt in den allermeisten Fällen, schätzungsweise 95%, eingestellt (so auch im Fall Aristeidis L.), wobei die Gründe bekannt sind. Ein langjährig tätiger Strafverteidiger hat dazu von seinen Erfahrungen berichtet, von Bürgern, die die „Autorität“ der Polizisten durch aufsässiges, aber nicht beleidigendes oder gewalttätiges Verhalten herausgefordert haben. Sie werden anlasslos oder unverhältnismäßig Opfer von Polizeigewalt. Eisenberg schreibt weiter: „Die uniformierten Schläger generieren durch abgesprochene und verlogene Aussagen einen rechtfertigenden Anlass für die Misshandlung, nämlich eine Widerstandshandlung des Opfers. Die Justiz verfolgt die Opfer, sie haben ihre liebe Not, das Lügen- und Aussagekomplott zu decouvrieren. Gelingt es, wird es zum bedauerlichen Einzelfall verniedlicht. In den zahllosen Fällen, in denen es nicht gelingt, etwa weil Richter eine Art Fraternisierung mit ihren ,Beamtenbrüdern’, den Polizeibeamten praktizieren, bleiben die Zusammengeschlagenen ratlos und mit Kriminalstrafe zurück“. Was der Praktiker hier mit drastischen Worten schildert, ist dem Wissenschaftler und Juristen leider nur zu gut bekannt. Diejenigen, die Grundrechte schützen sollen, verletzten sie auch – und zwar häufig. Viele (die meisten?) der Grundrechtsverletzungen dürften gerechtfertigt und dem Gewaltmonopol des Staates geschuldet sein, das von der Polizei ausgeübt wird, werden darf und werden muss, aber eben nicht alle. Sind Polizeibeamte daher „verfolgte Grundrechtsträger“? Sicherlich nicht, es sei denn, man betrachtet alle, gegen die wegen einer Straftat ermittelt wird, als Verfolgte. 

Sicherlich ist die Gefahr, dass jemand, der das Gewaltmonopol ausübt, in Situationen kommt, wo man die Schwelle der angemessenen und verhältnismäßigen Gewalt überschreiten kann, größer als in anderen Berufen. Polizeibeamte müssen oft an den sozialen Rändern der Gesellschaft tätig werden und sind mit den Schattenseiten unseres Wohlstandes konfrontiert. Sie arbeiten (auch) dort, wo es brutal, laut, beleidigend, optisch und odeur-mäßig unschön zugeht. Aber dies ist nun mal ihr Beruf. Ein Stahlwerker, der am Hochofen steht, beklagt sich auch nicht über die Hitze dort. Aber er darf mit gutem Recht erwarten, dass sein Arbeitgeber alles tut, um seine Arbeit zu erleichtern. Dazu gehören für die Polizeibeamt*innen aber nicht härtere Gesetze und mehr Eingriffsbefugnisse. Dazu gehört als allererstes Beratung, soziale und psychologische Unterstützung und eine empathische Polizeiführung, die sich nicht versteckt, wenn Probleme intern bekannt werden. Eine Führung, die nicht bestraft, sondern hilft, gerne auch mit externer Unterstützung. Verfolgte brauchen unsere Hilfe. Egal, ob es Flüchtlinge oder Polizeibeamte sind. Nur müssen sie diese Hilfe auch annehmen und nicht die Schuld permanent auf andere schieben. 

References

References
1 So zuletzt der Autor durch ein Mitglied des Bundes deutscher Kriminalbeamter auf Twitter, s. Screenshot.
2 Thomas Feltes (2012): Polizeiliches Fehlverhalten und Disziplinarverfahren – ein ungeliebtes Thema. Überlegungen zu einem alternativen Ansatz. In: Die Polizei 2012, S. 285-292 und S. 309-314.
3 Z.B. in Baden-Württemberg als Bestandteils des Einsatztrainings, s. hier, S. 30.

SUGGESTED CITATION  Feltes, Thomas: Verfolgte Grundrechtsträger?: Was passiert im Moment mit und in unserer Polizei?, VerfBlog, 2020/6/24, https://verfassungsblog.de/verfolgte-grundrechtstraeger/, DOI: 10.17176/20200625-004017-0.