22 February 2014

Die verfolgte Unschuld vom Lande oder: Warum es keines „Grundrechts auf Diskriminierung“ bedarf

In einem Beitrag für die FAZ vom 21. Februar 2014 schreibt Christian Hillgruber einen aufregenden Satz:

In den westlichen Gesellschaften sind es mittlerweile schon weniger die Homosexuellen als vielmehr diejenigen, die Homosexualität für moralisch fragwürdig und homosexuelle Praxis für anstößig halten, deren Freiheit, anders zu denken und in Übereinstimmung mit ihrer inneren Überzeugung zu leben, gefährdet erscheint.

Diese Äußerung Hillgrubers spricht eigentlich für sich selbst– achselzuckend ließe sich zur Tagesordnung übergehen. Besonders an dem Beitrag in der FAZ ist allerdings die Tatsache, dass da ein Bonner Staatsrechtslehrer ein „Grundrecht auf Diskriminierung“ fordert für eine homophobe Minderheit, die angeblich gerade wegen dieser Minderheiteneigenschaft geschützt werden müsse. In solchem Falle ist es vorzugswürdig und notwendig, in aller Öffentlichkeit einer Auffassung entgegenzutreten, die sich als autoritative Experten-Meinung geriert.

Die Forderung nach einem „Grundrecht auf Diskriminierung“

In seinem „Plädoyer für den Schutz einer neuen Minderheit“ meint Hillgruber daran erinnern zu müssen, „dass auch andere Personen als Homosexuelle Freiheit und Würde haben und daher nicht gegen ihr religiös oder anders begründetes Gewissen gezwungen werden dürfen, praktizierter Homosexualität im Wortsinne wie im übertragenen Sinne Raum zu geben.“ Die „Lobby der Homosexuellen“, so Hillgruber, wolle „der Minderheit, die noch immer eine abweichende Meinung vertritt, die Freiheit nehmen, Homosexualität weiterhin negativ zu bewerten und ihr Verhalten gegenüber Dritten an dieser Bewertung zu orientieren“.

Nach über sechzig Jahren Geltung scheint das Grundgesetz gelegentlich neue Grundrechte zu brauchen, etwa weil technischer Fortschritt die Ausweitung grundrechtlichen Schutzes notwendig macht, wie beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder jüngst dem „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ (vulgo: Computergrundrecht). Braucht nun aber das Grundgesetz, braucht die Berliner Republik wirklich ein „minderheitenschützendes Grundrecht auf Diskriminierung“?

Gefährdung der Glaubensfreiheit?

In seinem Beitrag behauptet Hillgruber pauschal eine Gefährdung der Glaubensfreiheit, indem er das Beispiel eines religiösen britischen heterosexuellen Hotelierpaares heranzieht, das ein schwules Paar nicht beherbergen wollte und dafür vom Supreme Court auf der gesetzlichen Grundlage des Equality Act 2010 zu Schadensersatz wegen Diskriminierung verurteilt wurde. Hillgruber empört sich: „Der dortige Supreme Court hielt das Verhalten des Hoteliers für einen ‚Affront gegen die Menschenwürde‘!“ Der deutsche Staatsrechtslehrer kann es kaum glauben.

Der vom britischen Parlament im üblichen Gesetzgebungsverfahren erlassene Equality Act 2010 geht weiter als die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU vorschreiben (v.a. RL 2000/78/EG). Nach Regulation 4(1) ist es ungesetzlich für

a person (“A”) concerned with the provision to the public or a section of the public of goods, facilities or services to discriminate against a person (“B”) who seeks to obtain or to use those goods, facilities or services by . . . refusing to provide B with goods, facilities or services.

Der Diskriminierungsgrund der sexual orientation ist in Regulation 3 aufgeführt. Ausnahmsweise haben die Erlaubnis zu diskriminieren lediglich Personen, die andere in ihren Haushalt aufnehmen, sowie religiöse Organisationen (im Einzelnen aufgeführt in marg. no. 8 des Urteils).

Einmal abgesehen von der offenen Frage, was diese britische Entscheidung für die deutsche Rechtslage besagt, hat Hillgruber anscheinend Zweifel am Ergebnis des Supreme Court (auch wenn er das nicht mit rechtlichen Argumenten begründet). Das höchste britische Gericht hat in einem Abwägungsvorgang nach ausführlicher Analyse der Entscheidungen verschiedenster Menschenrechtsgerichte, auch des Straßburger EGMR, insoweit einstimmig entschieden. Für das Gericht führt Richterin Lady Hale aus (marg. no. 53):

Homosexuals can enjoy the same freedom and the same relationships as any others. But we should not underestimate the continuing legacy of those centuries of discrimination, persecution even, which is still going on in many parts of the world. It is no doubt for that reason that Strasbourg requires “very weighty reasons” to justify discrimination on grounds of sexual orientation. It is for that reason that we should be slow to accept that prohibiting hotel keepers from discriminating against homosexuals is a disproportionate limitation on their right to manifest their religion.

Es folgt eine „Kontrollüberlegung durch Rollentausch“ (marg. no. 54):

There is no question of […] replacing ‘legal oppression of one community (homosexual couples) with legal oppression of another (those sharing the defendants’ beliefs)’. If [the gay couple] ran a hotel which denied a double room to [the Christian hoteliers], whether on the ground of their Christian beliefs or on the ground of their sexual orientation, they would find themselves in the same situation that [the hoteliers] find themselves today.

Die Entscheidung des britischen Parlaments, dass Dienstleistungen, auch Hotelzimmer, nur diskriminierungsfrei angeboten werden dürfen, hält der Supreme Court auch im Lichte der Glaubensfreiheit nicht für verfassungsrechtlich unzulässig. Wie jedem Abwägungsvorgang, so wohnt auch diesem ein Rest von Dezisionismus inne, der ihn anfällig macht für Kritik im Einzelfall.

Die genauere Analyse der parlamentarischen wie höchstgerichtlichen Entscheidungen offenbart aber durchaus einen differenzierten Umgang, zumindest aber ein Ernstnehmen der Glaubensfreiheit, auch im Antidiskriminierungsrecht. Und es sollte festgehalten werden, dass die Entscheidung des Supreme Court ein parlamentarisches Gesetz anwendet, anstatt dieses für verfassungswidrig zu erklären.

Gefährdung der Meinungsfreiheit?

Gefährdet sieht Hillgruber auch seine (oder die) Meinungsfreiheit, weil „all diejenigen, die Homosexualität noch immer negativ bewerten, sämtlich als ‚homophob‘ bezeichnet“ würden, „womit ihnen eine schlechthin irrationale ‚gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ aus Angst attestiert werden soll[e]“. Nach Hillgruber gelte es nun, „genau diese Freiheit, auch in Sachen Homosexualität eine von der überwiegenden Meinung abweichende Ansicht äußern zu dürfen“, „entschieden zu verteidigen“: „Denn Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

Dass Hillgruber hier ausgerechnet Rosa Luxemburg zitiert, zeugt von einem feinen Sinn für Ironie. Hillgruber stellt die Gegner der Homosexuellen auf eine Stufe mit wegen ihrer Meinung Verfolgten: „Wenn sich solche Beschränkungen der gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit wie die des Hoteliers im Westen durchsetzen sollten, dann dürfte hier bald auch die Meinungsfreiheit derjenigen, die homosexuelle Praxis für unsittlich halten und dies, horribile dictu, auch noch auszusprechen wagen, in Gefahr sein.“

Die Meinungsfreiheit, so heißt es allenthalben, schützt vor staatlichen Eingriffen. Wer die Debatte der letzten Wochen verfolgt hat, dürfte nicht gerade den Eindruck gewonnen haben, als ob „die“ Gegner „der“ Homosexuellen staatlicherseits Repressionen ausgesetzt gewesen seien: Sie traten zu den besten Sendezeiten in Talkshows des (öffentlich-rechtlichen) Fernsehens auf, durften ungestraft und ohne Repressionen in Tageszeitungen veröffentlichen und im (öffentlich-rechtlichen) Radio sprechen. Keinesfalls waren diese Personen solchen Repressionen ausgesetzt, wie sie Propagandisten homosexueller Orientierung derzeit in Russland von Seiten des Staates erleiden müssen (Reisen nach Russland sind wirklich gefährlich). Es zeugt nachgerade von Realitätsverlust, hier eine Parallele zu insinuieren.

Ein ganz besonderes Demokratieverständnis

Hillgruber scheint eine im Übrigen sehr interessante Vorstellung von Demokratie zu haben. Sehr zurückhaltend ließe sie sich idiosynkratisch nennen. Offenbar fürchtet Hillgruber – ähnlich wie neulich ein Journalist – Verfolgung wegen (s)einer homophoben Meinung. Und zwar, weil die Homosexuellen nachtreten: „Es kommt nicht selten vor, dass Sieger sich nicht mit ihrem Sieg allein zufriedengeben, sondern die Besiegten auch noch demütigen wollen.“ Hillgruber sieht sich anscheinend als Besiegten. Müssen wir uns einen (Wett)kampf vorstellen, in dem zwei Teams gegeneinander antreten, hier die Homosexuellen, dort jene, die („das wird man wohl noch sagen dürfen!“) gegen Homosexualität sind? Und jetzt, es geschehen Zeichen und Wunder, hat die kleine Minderheit der Homosexuellen weiland David nachgeeifert und den großen Goliath der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft überrumpelt. FC „Lobby der Homosexuellen“ gegen – ja, wenn eigentlich?

Hillgruber versucht, eine Frontstellung zwischen der „Lobby der Homosexuellen“ und ihren Gegnern aufzubauen. Den Homosexuellen ist es laut Hillgruber gelungen, „ihre Agenda voller Gleichberechtigung und Gleichstellung mit der heterosexuellen Mehrheit zu einer Agenda der Mehrheitsgesellschaft zu machen“ – und zwar durch einen „relativ rasche[n] Umschwung in der öffentlichen Meinung“. Ein heimtückischer Angriff, unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht?

Verwundert meint Hillgruber, die Minderheit der Homosexuellen müsste doch „in einer Demokratie eigentlich durchsetzungsschwach sein“. Dass sie es nicht ist und Antidiskriminierungsgesetzgebung im parlamentarischen Mehrheitsverfahren auf den Weg bringen kann, liegt daran, dass die „Lobby“ nicht nur die Homosexuellen selbst sind, sondern eine durchsetzungsstarke Mehrheit der an Gleichberechtigung Interessierten in der gesamten Bevölkerung. Es gibt viele Menschen, die nicht in einer diskriminierenden Gesellschaft, sondern in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen leben wollen. Diese Menschen bilden die Mehrheit.

Nur aufgrund solcher Mehrheitsverhältnisse erklärt sich, dass inzwischen auf allen Ebenen des Rechts, im Völkerrecht, im EU-Recht und im nationalen Recht Antidiskriminierungsgesetzgebung erlassen worden ist. In den USA gehört zu dieser Gruppe auch ein weißer texanischer Sportreporter: Dale Hansen sprach sich couragiert für den ersten offen schwulen American Football-Spielers Michael Sam aus und klagte dabei die Bigotterie an, woraufhin er gefeiert wurde. So können Vorurteile auch gegenüber der Mehrheitsgesellschaft täuschen.

Warum gerade jetzt?

Der Diskriminierungsgrund sexuelle Orientierung ist erst später hinzugekommen als die klassischen „race, class, gender“, weil sich die Lesben- und Schwulenbewegung historisch erst später entwickelte als der Kampf gegen Sklaverei und Rassismus, proletarische Mobilisierung oder die Frauenbewegung. Doch das Muster ist in allen Fällen emanzipatorischer Bewegungen dasselbe: Rechte werden verwehrt, Rechte werden gewährt, tatsächlich gleiche Rechte müssen schließlich noch durchgesetzt werden. Drei Phasen des Antidiskriminierungsrechts, und in jeder Phase gibt es Auseinandersetzungen. Inzwischen sind wir auch beim Merkmal der sexuellen Orientierung in der dritten Phase angelangt.

Warum aber kulminiert die Debatte gerade jetzt? In Funk und Fernsehen, Presse und Fachschrifttum, überall schlagen die Wellen hoch, auch in der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer. Konkrete Auslöser dürften – nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts aus dem letzten Jahr – vor allem das Hitzlsperger-Coming Out in der ZEIT sein: ein Fußball-Nationalspieler schwul? Und dann ist da noch die Sache mit dem Baden-Württembergischen Bildungsplan „Akzeptanz sexueller Vielfalt“, gegen den sich vor allem Evangelikale mittels einer Online-Petition wandten (es gibt auch eine Gegenpetition). Während einerseits muslimische Eltern ihre Kinder dem gewöhnlichen Schulunterricht nicht sollen entziehen dürfen, weil der staatliche Erziehungsauftrag auch umfasst, mit in der eigenen Familie nicht gelebten Werten oder Ideen konfrontiert zu werden, sollen die (fundamental-)christlichen Kinder im Schulunterricht nicht „sexueller Vielfalt“ ausgesetzt sein, wenn es nach deren Eltern geht.

In diesen Fällen wird deutlich, was den Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz ausmacht, wie Stefan Niggemeier in einem hervorragenden Artikel mit Verweis auf Rainer Forsts Untersuchungen zum Toleranzbegriff ausführt. In diesem Unterschied spiegelt sich die altbekannte Unterscheidung von öffentlich und privat: Privat sollen die Homosexuellen machen dürfen, was sie wollen, das ist inzwischen wohl oder übel angekommen. Aber jetzt geht es um Öffentlichkeit, an Schulen und im Fußballstadion. Nicht nur im Privaten, sondern auch im Öffentlichen Rechte zu haben, das bedeutet erst Gleichberechtigung, wie unlängst Nora Markard rechtsvergleichend und sehr klar analysiert hat: Private but Equal? Why the Right to Privacy Will Not Bring Full Equality for Same-sex Couples. Auch Homosexuelle haben das Recht auf ein forum externum.

Dieses Recht, Homosexualität nun auch in der Öffentlichkeit einer Schulklasse oder des Fußballstadions als solche zu thematisieren und sichtbar zu machen, das ist das Neue, auf das die gegenwärtige Debatte reagiert. Hillgruber befürchtet: „Aus einem berechtigten Freiheitsanliegen droht der Versuch einer Umerziehung mit staatlichem Befehl und Zwang zu werden.“ Die Mehrheit in der Gesellschaft glaubt eher nicht an „Umerziehung“, wenn Homosexualität in der Schule oder im Stadion thematisiert und so sichtbar wird. Die meisten Menschen haben auch keine Angst vor Ansteckung mit Homosexualität durch Reden über Homosexualität. Und weil die Mehrheitsverhältnisse so sind, ist die Ungeduld von Carolin Emcke überaus verständlich.

Verständlich ist zugleich, dass es Bedarf an sachlicher öffentlicher Diskussion gibt. Wandel braucht Zeit. Und die dritte Phase des Antidiskriminierungsrechts hat gerade erst begonnen.