Verfügungsrecht über das eigene Leben, Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie
§ 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht
„Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht“. Das ist der zentrale Satz des Urteils, mit dem das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 das in § 217 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben hat (Rn. 277). Mit der Anerkennung des „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ (Rn. 201) und der „Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie“ (Rn. 276) hat der Zweite Senat die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Suizidhilfe von Grund auf neu bestimmt. Der Zweite Senat hat § 217 StGB für nichtig erklärt, die berufsrechtlichen Verbote der Suizidhilfe als „in seiner Gültigkeit ungeklärtes Recht“ angezählt (Rn. 296) und angedeutet, dass „Anpassungen“ im Arzneimittel- und Betäubungsmittelrecht notwendig sein werden (Rn. 341 f.). Dass dieses Urteil grundlegende Bedeutung hat und weitreichende Folgen haben wird, ist offenkundig. Einige wenige Beobachtungen sollen an dieser Stelle genügen:
1. Der Zweite Senat hat sich die Entscheidung alles andere als leicht gemacht. Für die mündliche Verhandlung, drei Jahre nach Eingang der zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden, nahm sich der Senat Mitte April 2019 zwei volle Tage Zeit; für die Abfassung, Beratung und Abstimmung des mit 343 Randnummern sehr umfangreichen Urteils ganze zehn Monate. Die fachkundigen Einschätzungen der Sachverständigen – etwa zur bedingt suizidpräventiven Wirkung des Wissens um die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung (Rn. 283) oder zur Gefahr sozialer Pressionen durch die Normalisierung der Suizidhilfe (Rn. 257) – fanden ebenso Eingang in die Entscheidung wie die Zahlen aus der Schweiz, den Niederlanden und Belgien, die zeigen, das die gemeldeten Fälle von Sterbe- und Suizidhilfe dort stetig zunehmen (Rn. 252 ff.).
2. Nach Auffassung des Zweiten Senats – das Stimmverhältnis wird in der Entscheidung nicht mitgeteilt – verletzt das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung „das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) von zur Selbsttötung entschlossenen Menschen in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ (Rn. 202). Der Senat betont, dass dieses „Verfügungsrecht über das eigene Leben“ (Rn. 210) nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt sei und die „Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, […] im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“ sei (Rn. 210). Sich Suizidierende begäben sich ihrer Würde nicht; die selbstbestimmte Verfügung sei vielmehr, „wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“ (Rn. 211).
3. Die „Freiheit, sich das Leben zu nehmen“, umfasst für den Zweiten Senat auch die Freiheit, bei der Entscheidung, Planung und Umsetzung die fachkundige Hilfe kompetenter und bereitwilliger Dritter in Anspruch zu nehmen (Rn. 212 ff.). In der Tat dürfte es sich hier um einen der von Dieter Suhr vor vielen Jahren beschriebenen Fälle der „Entfaltung der Menschen durch die Menschen“ handeln, da insbesondere Ärzt*innen Suizid Erwägende erst in die Lage versetzen dürften, sich zu entscheiden und ihren Entschluss in für sie zumutbarer Weise umzusetzen (Rn. 213). Zu Recht würdigt der Zweite Senat § 217 StGB in erster Linie als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführenden, die ihr Leben mit geschäftsmäßig angebotener Unterstützung Dritter selbst beenden wollen, obwohl sie gar nicht unmittelbare Adressat*innen der Norm sind, und erst in zweiter Linie und wesentlich knapper als Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführenden, die solche Unterstützung anbieten (Rn. 306 ff.): Ihr Tun ist hier um des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben Anderer willen geschützt.
4. Diesem „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ stellt der Zweite Senat die „Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie“ aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zur Seite (Rn. 276). Mit der in der 2. Schwangerschaftsabbruchsentscheidung formulierten „Schutzpflicht für das menschliche Leben“, die an dieser Stelle gar nicht erst erwähnt wird, hat sie nur die normative Basis gemein. In Abwandlung der dort geprägten Formulierung (BVerfGE 88, 203, 251) könnte man sagen: Die neue „Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie“ hat nicht nur ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG. Auch ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt, der für den Zweiten Senat vor allem eines gewährleistet: Autonomie. Zur Erfüllung dieser Schutzpflicht muss der Staat Selbsttötungen entgegenwirken, die nicht von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen sind. Suizidhilfe verbieten, weil sie im Widerspruch zur Mehrheitsauffassung in der Gesellschaft steht, wie mit dem eigenen Leben insbesondere in Alter und Krankheit umzugehen ist, Suizidhilfe verbieten, um die Anzahl assistierter Suizide gering zu halten, Suizidhilfe verbieten, um die autonome Suizidentscheidung zu missbilligen, zu tabuisieren oder mit einem Makel zu belegen – all das ist nach Auffassung des Zweiten Senats „unzulässig“ (Rn. 234), und das ist in Anbetracht der Prämissen nur konsequent.
5. Hervorzuheben ist aber auch, dass der Zweite Senat anerkennt, dass § 217 StGB der Erfüllung der von ihm formulierten „Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie“ und damit einem legitimen Zweck dient (Rn. 231 ff.). Die diesbezüglichen Ausführungen des Zweiten Senats seien insbesondere denen zur Lektüre empfohlen, die die Prämissen der Entscheidung aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht zu teilen bereit sind. Denn hier wird in aller Ausführlichkeit beschrieben, was es nun – nach Nichtigerklärung des § 217 StGB, unter Zugrundelegung der neuen Maßstäbe – bei der notwendigen Regulierung der Suizidhilfe auf verschiedensten Feldern der Gesetzgebung zu tun gibt. Die Voraussetzungen, unter denen der Zweite Senat einen Suizidentschluss als „frei“ anzuerkennen bereit ist, sind streng (Rn. 240 ff.): „Frei“ ist nur der „auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider“ getroffene Suizidentschluss. Die Umsetzung von Suizidentschlüssen, die auf psychischen Erkrankungen oder vorübergehenden Lebenskrisen beruhen, kann und muss selbstverständlich auch künftig verhindert werden, die „gesellschaftliche Normalisierung“ der Suizidhilfe, die die Gefahr sozialer Pressionen birgt oder jedenfalls bergen könnte, ebenfalls.
6. Nicht überlesen sollte man schließlich, dass der Staat nach Auffassung des Zweiten Senats zur Erfüllung der Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie auch denjenigen Gefahren „für die Autonomie und das Leben“ (Rn. 276) entgegentreten muss, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen begründet liegen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen können. Er muss allgemeine Suizidprävention betreiben „und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch den Ausbau und die Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote“ entgegenwirken. „Defiziten der medizinischen Versorgung und der sozialpolitischen Infrastruktur […], die […] geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und Selbsttötungsentschlüsse zu fördern“, darf er nicht – wie der Gesetzgeber des § 217 StGB – dadurch begegnen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setzt. Er muss sie entschlossen angehen, wenn er seine Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie erfüllen will (Rn. 276 f.). Das sind nur wenige Sätze, aber sie sind nicht zuletzt deshalb wertvoll, weil der Erste Senat 2016 die Verfassungsbeschwerden gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen und den damaligen Beschwerdeführenden die Feststellung versagt hat, dass die staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Grundrechte von Pflegeheimbewohnern nicht genügen und der Staat zur Abhilfe verpflichtet ist.
Ich weiß nicht, ich bin nicht sehr glücklich mit dem Urteil und seiner weiteren Begründung. Gerade auch, weil die Grenzen für den Gesetzgeber sehr eng sind.
Und egal wo wir da Grenzen setzen, am Ende haben wir immer Menschen (wen auch immer), die darüber befinden (müssen), wann das Leben eines anderen Menschen nicht mehr lebenswert genug zum Weiterleben ist.
Das finde ich schon hochproblematisch und eine Kopplung an tödliche Krankheiten wurde ja ausgeschlossen. Auch ein 50jähriger Mann, der zb querschnittsgelähmt ist, könnte da reinzählen. Und so oder so, aber irgendwer müsste diesen Fall dann überhaupt entscheiden. Also alleine, dass diese Entscheidung von anderen getroffen wird, sehe ich problematisch.
Und wenn Voßkuhle da sogar ein Grundrecht auf Suizid ableitet, was er zumindest im Interview getan hat, stellen sich mir auch einige Fragen. Dann ist ein potenzieller Selbstmörder auf der Brücke nicht mehr automatisch eine Person, die Hilfe benötigt. Sondern vielleicht einfach ein Mensch, der selbstbestimmt sein Grundrecht auf Suizid ausübt und ich darf ihn dabei gar nicht stören.
Also in dieser Radikalität bin ich nicht sicher, ob damit wirklich mehr Klarheit herrscht als vorher oder nur andere Klarheit.
Im Urteil heißt es etwa, jeder habe das Recht, sich selbstbestimmt umzubringen und sich dabei die Hilfe bereitwilliger anderer zu nutzen o.ä.
Im Recht scheint sonst anerkannt, dass ein Recht nur im Rahmen des Möglichen bestehen kann, bei Unmöglichkeit dagegen nicht. Unmöglichkeit soll dabei ebenso rechtlich begründet sein können.
Danach kann jemand auf Hilfe grundsätzlich eher kein Recht haben, soweit niemand auffindbar zur Hilfe verpflichtet oder bereit ist.
Nach solchen Grundsätzen könnte in Zweifel zu ziehen sein, inwieweit hier grundsätzlich ein an andere adressiertes Strafverbot zu geschäftsmäßiger Tötung überhaupt in Grundrechte von Selbsttötungswilligen eingreifen kann.
Soweit dagegen ein Eingriff in Grundrechte vorliegen soll, kann weiter noch zweifelhaft scheinen, inwieweit hier eine Beeinträchigung unverhältnismäßig wirken muss.
Dafür sollte die Schwere einer möglichen Beeinträchtigung mit bedeutsam sein.
Eine besonders unverhältnismäßige Schwere einer Beeinträchtigung kann hier undeutlich sein.
Zweifelhaft kann Maß im Umfang und Schwere einer Beeinträchgiung sein.
Im Urteil heißt es, es sollen alle beschränkend beeinträchigt sein können, welche einen Wunsch zur selbsbestimmten Selbststötung hegen, weil ein recht hierauf für jeden grundrechtlich geschützt sei o.ä.
Das kann zweifelhaft scheinen.
Fraglich kann bereits sein, inwieweit hier ein entsprechends Grundrecht jedem zustehen muss.
Wenn jeder ein Recht haben soll, sich selbstbestimmt umzubringen, sollte damit ein Recht auf Tod neben einem Recht auf Leben stehen, vermittelt durch ein Selbstbestimmungsrecht.
Beides danach entsprechend dem Urteil zunächst ansich wohl grundsätzl