Versammlungsfreiheit durch Gesetz?
Zum Entwurf eines Versammlungs'freiheits'gesetzes in Hessen
In ihrem Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode vereinbarten CDU und Bündnis 90/Die Grünen, über 15 Jahre nach „Freigabe“ des Versammlungsrechts für die Gesetzgebung der Länder durch die Föderalismusreform II, ein entsprechendes Landesgesetz auf den Weg zu bringen: „Wir werden ein Hessisches Versammlungsfreiheitsgesetz schaffen, in welchem das Verhältnis von Versammlungsrecht und Polizeirecht klar geregelt wird. (…) Den staatlichen Auftrag, das Demonstrationsrecht zu schützen, werden wir ebenso gesetzlich verankern wie das Kooperationsgebot für alle Beteiligten bei der Durchführung von Demonstrationen. Außerdem werden wir ein Militanz- und Einschüchterungsverbot einführen, um auch in Zukunft die Friedlichkeit von Demonstrationen gewährleisten zu können. Wir orientieren uns dabei an dem schleswig-holsteinischen Versammlungsfreiheitsgesetz.“
Was dies für die Versammlungsfreiheit in Hessen in concreto bedeutet, soll hier vorgestellt werden. In der Anhörung im Hessischen Landtag am 6. Februar 2023 zum Gesetzentwurf vom 4. November 2022 machten Sachverständige aus der Rechtswissenschaft1) indes gleichsam vor die Klammer gezogen auf ein gravierendes Problem aufmerksam, welches das gesamte Projekt als unvollendet in die Annalen der 20. Legislaturperiode eingehen lassen könnte: die Hessische Verfassung.
Versammlungsfreiheit und Hessische Verfassung
Die Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 (HessVerf) garantiert in Art. 14 Abs. 1 in inhaltlicher Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 1 GG die Versammlungsfreiheit. Spannend wird es bei Art. 8 Abs. 2 GG, der einen weit ausgreifenden Gesetzesvorbehalt umfasst, was vom Bundesverfassungsgericht angesichts dessen Weite seit der Brokdorf-Entscheidung 1985 und mit Blick auf das VersG Bund von 1953 und die exekutive Praxis immer wieder eingrenzend im Lichte des Art. 8 Abs. 1 GG ausgelegt werden musste.
Deutlicher „enger“ als im Grundgesetz heißt es in Art. 14 Abs. 2 Hessische Verfassung: „Versammlungen unter freiem Himmel können durch Gesetz anmeldepflichtig gemacht werden.“ Diese deutliche Beschränkung des Gesetzesvorbehaltes2) war vielen Sachverständigen nach eigenem Bekunden nicht aufgefallen. Das kann passieren. Aber auch das Erstaunen auf der Regierungsbank wie bei den Regierungsfraktionen war groß. Der Gesetzentwurf geht mit keinem Wort auf das Problem ein. Das sollte nicht passieren. Nach Art. 142 GG bleiben ungeachtet des Artikels 31 GG Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit dem Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten. Dies meint nach wohl herrschender Auffassung nicht, dass damit die Landesverfassungen keinen über das Grundgesetz hinausgehenden Schutz gewährleisten könnten, sondern das Gegenteil.
Da die Versammlungsfreiheit in Hessen somit mit Ausnahme der Beschränkung in Art. 14 Abs. 2 HessVerf „vorbehaltlos gewährleistet ist, können insoweit allenfalls verfassungsimmanente Schranken (…) Einschränkungen rechtfertigen.3) Es bleibt abzuwarten, wie der Gesetzgeber mit diesem Problem umgehen wird. Eine Verfassungsänderung bedarf in Hessen einer Zustimmung durch Volksabstimmung. Vor dem Ende dieser Legislaturperiode wird das kaum zu machen sein.
Nachfolgend kann nur auf einige der inhaltlichen und verfassungsrechtlichen Probleme des Gesetzentwurfs eingegangen werden, die sich in Teilen schon im Koalitionsvertrag (s.o.) ankündigten. Bereits der Titel eines Versammlungs’freiheits’gesetzes ist programmatisch nicht weiterführend, weil es für die Versammlungsfreiheit als elementarem Grundrecht eines modernen, freiheitlichen und rechtsstaatlich sich selbst begrenzenden Staates weniger gesetzlicher Rahmenbedingungen als im Gesetzentwurf bedürfte. Realiter geht es in diesem nicht primär um die Freiheitsgewährleistung, sondern um deren Begrenzungen im Sinne eines gefahrenabwehrrechtlichen Verständnisses. Tradierte Ansprüche der versammlungsbehördlichen und polizeilichen Praxis behalten in weiten Teilen auch des Gesetzentwurfs die Oberhand. Nicht ohne Grund wird in Folge – anders als im Koalitionsvertrag angekündigt – das VersFG SH nicht durchgehend als Folie eines primär freiheitsrechtlichen Ansatzes gewählt, sondern immer wieder hiervon zum Nachteil der Versammlungsfreiheit abgewichen.
Schutzaufgabe, Kooperation und Versammlungsleitung
In § 3 Abs. 3 GE wird die Pflicht zu einem Kooperationsangebot der zuständigen Behörde verankert. Wenn indes aus Sicht der Behörde Anhaltspunkte für Gefährdungen bestehen, die zu Beschränkungen oder einem Verbot führen können, ist Gelegenheit zu geben, „durch ergänzende Angaben oder Veränderungen der beabsichtigten Versammlung Beschränkungen oder ein Verbot entbehrlich zu machen.“. Mit Blick auf die fehlende „Machtbalance“ in einem solchen Gespräch endet dieses Angebot schon im Falle von „Anhaltspunkten für Gefährdungen“ im Zweifelsfall zu Gunsten der Behörde und nicht der Versammlungsfreiheit. Dies unterstreicht der Gesetzentwurf (S. 21), wonach das Angebot eines Kooperationsgesprächs der Versammlungsbehörde „Teil ihrer Schutzaufgabe“ sei. Dahinter steht nicht das Verständnis der Versammlung als staatsfreiem Raum, sondern eine „Umklammerung“ durch eine jederzeit und allseits bestehende „Schutzaufgabe“ in § 3 Abs. 2 Nr. 1 GE. Versammlungsfreiheit braucht Polizei, ist hier die Grundannahme, nicht die Funktion des Art. 8 GG als Freiheits- und Abwehrrecht.
Diese staatliche „Umklammerung“ qua Schutzaufgabe spiegelt sich neben den Regelungen zum polizeilichen Anwesenheitsrecht in § 11 GE (dazu sogleich) auch in den Regelungen des § 5 GE zur Versammlungsleitung wieder, auch wenn die Regelung aus verfassungsrechtlichen Gründen letztendlich eine Versammlung ohne Leitung nicht verhindern kann. Besser wäre indes klarzustellen, dass die polizeiliche Praxis der „Bestellung“ einer Leitung verfassungsrechtlich nicht zulässig ist.
Gegendemonstrationen und Aufrufverbot
Gegendemonstrationen, Störungen und der Versuch der Verhinderung von Versammlungen sind gerade im Kontext rechter Versammlungen ein Dauerthema des Versammlungsrechts und polizeilicher Interventionen. § 7 Abs. 1 GE beschränkt sich zunächst auf ein Verhinderungsverbot, was grundsätzlich zu begrüßen ist. § 7 Abs. 2 GE verbietet sodann unter bestimmten Voraussetzungen den Aufruf zu Versammlungen, deren Durchführung durch ein „vollziehbares Verbot untersagt oder deren vollziehbare Auflösung angeordnet worden ist.“ Problematisch wird diese Regelung im Verbund mit der Strafvorschrift in § 25 II Nr. 2 GE, der die Strafbarkeit nicht begrenzt auf die Fälle eines rechtmäßigen Verbots oder einer rechtmäßigen Auflösung, wie vom Bundesverfassungsgericht 1992 als notwendig angesehen wurde.
Waffen, Schutzausrüstungen und Vermummung
Ein Waffenverbot für Versammlungen ist grundsätzlich unproblematisch aus den verfassungsrechtlichen Schranken abzuleiten. Der Begriff der funktionellen Waffe oder Waffe im nicht-technischen Sinne führt jedoch in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten bei der Konkretisierung und Anwendung durch die Polizei. Dies gilt auch mit Blick auf die tatbestandlich notwendige subjektive Bestimmung eines mitgeführten Gegenstandes zur Nutzung als Waffe.
Verbote sogenannter „Schutzwaffen“ oder Vermummungsgegenstände in § 17a VersG Bund werden in der Literatur mit gutem Grund als nicht mit Art. 8 GG vereinbar angesehen, weil das Mitführen dieser Gegenstände nicht als Gewalt angesehen werden kann und nicht per se gegen das Unfriedlichkeitsverbot verstößt. Schutzausrüstungen können nur dann vom Verbot erfasst sein, wenn eine subjektive Verwendungsabsicht oder tatsächliche Verwendung mit Blick auf hoheitliche Vollstreckungsmaßnahmen nachgewiesen werden kann; eine tatbestandliche Voraussetzung, die in der polizeilichen Praxis gerne „übersehen“ wird, was durch Anordnungen nach § 18 III GE (dazu sogleich) noch befördert werden kann.
Hinsichtlich des „Vermummungsverbots“ gibt es entgegen einer in der Polizei offenbar weit verbreiteten Auffassung kein dem Art. 8 GG innewohnendes Gebot, die eigene Identität bei Versammlungen jederzeit offen zu legen. Dies ist schon mit der Gestaltungs- und Formenfreiheit der Versammlung nicht vereinbar und es gibt unterschiedlichste Gründe, dies nicht zu tun, etwa im Falle einer befürchteten Diskriminierung oder Verfolgung. Anders als der GE verbietet daher bspw. § 17 I Nr. 1 VersFG SH allein das Mitführen von Gegenständen, die zur „Identitätsverschleierung geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet sind, eine zu Zwecken der Verfolgung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit durchgeführte Feststellung der Identität zu verhindern“.
Zudem ist die Strafandrohung bereits für das bloße Mitführen eines an sich ungefährlichen Gegenstandes in § 25 II Nr. 5 und 6 GE unverhältnismäßig hoch. Bestimmtheitsprobleme der Norm stellen die Rechtmäßigkeit der Sanktionsnormen zudem mit Blick auf Art. 20 III, 103 II GG in Frage. Die strafrechtliche Bewehrung eines hinsichtlich der Gegenstände nicht hinreichend bestimmten Verbotes spricht mit Blick auf das Legalitätsprinzip auch dagegen, dass die Verwendungsabsicht im polizeilichen Alltag eng ausgelegt wird. Dies führt zu Maßnahmen der Strafverfolgung bis hin zu Einkesselungen, ohne eine Verwendungsabsicht, die auf die subjektive Willensrichtung des Nutzers abstellt, überhaupt zuvor überprüfen zu können. Im VersFG SH wurden daher Verstöße gegen die zudem enger gefasste Verbotsnorm zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft, was auch ein auf Deeskalation bedachtes einsatztaktisches Konzept der Polizei ermöglicht. Entgegen den Verheißungen im Koalitionsvertrag ist dies in Hessen offenkundig nicht das Ziel der Koalitionspartner.
Eine verwaltungsakzessorische Konkretisierung verbotener Gegenstände in § 8 Abs. 2 GE ist problematisch, weil diese die subjektive Tatbestandsvoraussetzung in § 8 Abs. 1 Nr. 2 nicht erfassen kann; ein Problem das auch beim Verbot von Schutzausrüstungen und so genannten Vermummungsgegenständen in § 18 Abs. 3 GE sowie bei Anordnungen nach § 9 Abs. 2 GE zum Uniformverbot auftaucht. Zudem würde die bisherige Praxis seitenlanger Auflagenbescheide mit der Anordnungskompetenz nunmehr ausdrücklich gesetzlich legitimiert. Durch solche Anordnungen können Versammlungsteilnehmer*innen allein durch das Mitführen von Gegenständen während einer Versammlung nach § 25 Abs. 2 Nr. 5 bis 7 strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, unabhängig von einer eventuellen Nutzung zu unfriedlichen Zwecken oder zur Identitätsverschleierung zum Zwecke der Begehung von Rechtsbrüchen. Dies stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.
Anwesenheit der Polizei in Versammlungen
§ 11 GE soll der Polizei ein Anwesenheitsrecht „bei“ Versammlungen unter freiem Himmel gewähren, wann immer dies „zur polizeilichen Aufgabenerfüllung“ nach dem VersFG erforderlich ist. Zwar geht der Wortlaut (nur) von einer Anwesenheit „bei“ Versammlungen aus, polizeiliche Praxis ist indes schon immer die Anwesenheit auch „in“ Versammlungen, insbesondere durch nicht uniformierte oder gekennzeichnete Zivilkräfte, zum Beispiel sogenannte Tatbeobachter*innen. Die Gesetzesbegründung (S. 29 f.) geht nicht vertieft auf diese Unterscheidung ein oder weist ausdrücklich auf den Wortlaut hin, sondern erwähnt ein „Zutrittsrecht“ auch jenseits des § 11 GE im Falle der Strafverfolgung. Sollte ein Anwesenheitsrecht in der Versammlung hier nicht gewollt sein, wäre dies mit Blick auf eine seit Jahrzehnten geübte gegenteilige Praxis klarzustellen.
Der Entwurf verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen solchen Eingriff in die „Staatsfreiheit“ der Versammlung. Die Tatbestandsschwellen des § 11 Satz 1 Nr. 1 GE sind weder hinreichend bestimmt noch mit Blick auf den erheblichen Grundrechtseingriff ausreichend hoch, denn die Anwesenheit von Polizei in einer Versammlung hat ein hohes Potential der Abschreckungswirkung auf potentielle Teilnehmer*innen und sendet das Signal der „Gefährlichkeit“ in die Sphäre jenseits der Versammlung, was ebenfalls die Grundrechtsausübung negativ beeinflussen kann.
§ 11 legitimiert außerdem verdecktes Handeln von Zivilkräften in der Versammlung, deren Vorhandensein allenfalls abstrakt durch die polizeiliche Einsatzleitung der Versammlungsleitung mitzuteilen ist. Für Versammlungsteilnehmer*innen ist daher zu keinem Zeitpunkt erkennbar, ob Personen in einer Versammlung Versammlungsteilnehmer*innen oder verdeckt arbeitende zivile Polizeikräfte sind. Wer also links oder rechts von Teilnehmer*innen mitläuft und mit der/dem wegen eines vermeintlich gemeinsamen Anliegens auch Meinungen ausgetauscht oder die Ausgestaltung des Protests diskutiert wird, kann sich im nächsten Augenblick als Polizist*in „entpuppen“. Dies berührt den Kern der inneren Versammlungsfreiheit und ist mit Art. 8 GG nicht vereinbar.
Zudem liegt darin die Ermächtigung zu einem erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, ohne das hier oder an anderer Stelle die Verarbeitung personenbezogener Daten einschließlich Speicherung und Übermittlung an andere Stellen und Nachrichtendienste, wie dies der polizeilichen Praxis entspricht, geregelt wäre. Dabei wird auch verkannt, dass es sich im Versammlungskontext um besondere Kategorien personenbezogener Daten im Sinne des § 41 Nr. 15 HDSIG handeln kann, wenn diese einen Bezug zu politischen Meinungen, religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen oder auch die Gewerkschaftszugehörigkeit haben. Besondere Schutzvorkehrungen sind das Gesetz hierfür nicht vor.
Polizeirechtsfestigkeit der Versammlung
§ 10 GE steht in einer Linie mit einigen Landesgesetzen, die entgegen der bisherig üblichen Abgrenzung einerseits versammlungsrechtliche Regelungen in ihre Polizeigesetze aufnehmen und andererseits in ihren Versammlungsgesetzen pauschalierte Verweisungen in das Polizeirecht vornehmen. Mit der rechtsstaatlichen Idee der Polizei(rechts-)festigkeit der Versammlung ist dies nicht kompatibel. Damit wird auch für die Polizei eine klare Abgrenzung von lex specialis (VersFG) und lex generalis (Polizeirecht) erschwert. Dieses Problem setzt sich fort in § 14 Abs. 2 HSOG zur Zulässigkeit polizeilicher Datenerhebungen bei Versammlungen; ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit, die dennoch in § 10 HSOG nicht zitiert wird. Zudem verwischen hierdurch tatbestandliche Unterschiede zum Teil identischer Begriffe in beiden Rechtsnormen.
Ausblick
Weitere Regelungen, die rechtlichen Bedenken begegnen,4) können hier aus Platzgründen keiner Würdigung unterzogen werden. Es soll abschließend nur kurz auf das ins Gesamtbild passende repressive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für die Bannmeile rund um den Hessischen Landtag verwiesen werden. Dieser Ansatz begegnet aus demokratischer wie verfassungsrechtlicher Sicht deutlichen Bedenken und zeugt zudem von „Mutlosigkeit“. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts in der Brokdorf-Entscheidung kann „[d]emonstrativer Protest […] insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen (…).“Allzu laut hören möchte die Regierungskoalition dies offenbar nicht.
References
↑1 | Der Verfasser war als einer der Sachverständigen zur Anhörung zum Gesetzentwurf in Hessen eingeladen. |
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↑2 | Gutmann in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., Art. 14 HessVerf; zur Geschichte des Art. 14 HessVerf ausführlich: Breitbach/Deiseroth, Geschichte der Versammlungsfreiheit, Baden-Baden 2023 (im Erscheinen); s.a. Hong, https://hessischer-landtag.de/sites/default/files/scald/files/INA-AV-20-64-T3.pdf (S. 202 f.). |
↑3 | Hong (Endnote 2), S. 203. |
↑4 | Vgl. die zustimmenden und kritischen Stellungnahmen unter https://hessischer-landtag.de/termine/innenausschuss-anh%C3%B6rung-zum-versammlungsrecht-77-sitzung. |
Die These, dass Art 14 der hessischen Landesverfassung, da von einem zu Art 8 Abs 1 GG vergleichbaren Gesetzesvorbehalt frei, nur der (hessischen) Landesverfassung immanenten Schranken unterliegt, mag ja im Ergebnis zutreffen (und wäre mir nicht unsympathisch). Allerdings muss gesehen werden, dass auch die übrigen Grundrechte der hessischen Landesverfassung fast durchweg ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet sind. Damit fällt jedenfalls das für den Grundrechtsteil des Grundgesetzes tragfähige Argument weg, dass die vorbehaltlosen Grundrechte der hessischen Landesverfassung (das sind nämlich praktisch alle) stärker als die mit Gesetzesvorbehalt ausgestatteten Grundrechte der hessischen Landesverfassung (eigentlich nur die allgemeine Handlungsfreiheit und die Gewährleistung der Freiheit der Person aus Art. 2 ) gewährleistet werden sollten. ZB ist nach Art 3 der hessischen Landesverfassung auch das Grundrecht auf Leben so unantastbar wie die Menschenwürde (viel Freude hingegen bei der Suche nach reproduktiven Freiheiten im Normtext dieses Grundrechtskatalogs….). Ferner: Nichts garaniert, dass die allgemeinen Grundrechtslehren und die Schrankendogmatik der Grundrechte des Grundgesetzes (wie sie im Lehrbuch von Kingreen/Poscher usw didaktisiert worden sind) inklusive derspezifischen Dogmatik der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte des Grundgesetzes als überzeitliches quasi-Naturrecht auf den ganz anders strukturierten (und weitgehend vor dem Grundgesetz) geschaffenen Grundrechtsteil der hessischen Landesverfassung (und anderer Landesverfassungen mit zum GG älterem Grundrechtsteil) 1:1 übertragen werden dürfen. Vielmehr könnten dieselben argumentativen Schlachten wie aus der Frühzeit der noch nicht verfassungsgerichts-poitivistischen Phase der Dogmatik des Grundrechtsteils des Grundgesetzes ( zu besichtigen im Handbuch der Grundrechte von Nipperdey/Scheuner aus den golden Fifties) nochmal geschlagen werden (ZB die These der “Schrankenleihe” – – der fast einzige Gesetzesvorbehalt des Grundrechtsteils der hessischen Landesverfassung findet sich bei ihrer Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit und entspricht ansatzweise der Schrankenklausel aus Art 2 I GG ). Die – nochmal: vom Ergebnis her rein rechtspolitisch vielleicht attraktive – These des Beitrags müsste deshalb an dieser Stelle vielleicht doch 1 – 2 argumentative Schippen drauflegen.
Können Vermummungsverbote 2023 noch so begründet werden, als hätte es “dank” der Pandemie kein jahrelanges Realexperiment mit (FFP2-)maskierten Demonstrierenden gegeben?
Schon vor 2020 wirkte die Annahme, “im Schutz der Anonymität” würden Demonstrierende typischerweise stärker zu Gewalt neigen, ziemlich dubios. Inzwischen dürfte aber selbst für die misstrauischsten Sicherheitspolitiker erkennbar geworden sein: Demonstrationen mit Masken schlagen nicht öfter in Störungen der öffentlichen Sicherheit um als andere Demonstrationen.
Muss das verfassungsrechtlich nicht zumindest die Argumentationslast deutlich erhöhen für Gesetzgeber, die diesen Grundrechtseingriff beibehalten wollen?