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05 July 2024

Versteckte Gewalt

Zur Polizei, Schmerzgriffen und moderner Empfindsamkeit

Schmerzgriffe verringern die Sichtbarkeit polizeilicher Gewalt. Diese ist dadurch schwerer in ihrer gesamten Tragweite zu erkennen. Für eine zunehmend gewaltsensible Gesellschaft ist das leichter zu ertragen – eine Tendenz, die sich nicht nur bei Schmerzgriffen beobachten lässt, sondern insgesamt bei staatlichem Gewalthandeln.

Dabei sind Schmerzgriffe nicht unbedingt harmloser als andere Formen der Gewalt: Die Hebel- und Nervendrucktechniken können Nervenschäden, Gelenkschädigungen, Brüche und Zerrungen zur Folge haben. Vor allem aber verursachen sie ein intensives Schmerzgefühl und psychische Folgen, wie sie jede intensive Gewalterfahrung mit sich bringen kann. Wie jede Form der Gewalt können auch Schmerzgriffe also physische und psychische Folgen haben (s. hier).

Die psychische Wirkung macht sie besonders attraktiv: Statt Sitzblockierende von der Straße tragen zu müssen, genügt eine gut regulierbare Schmerzzufügung, um Kooperation zu erzwingen. Weder hat man Mühe mit (fehlender) Körperspannung beim Wegtragen, noch braucht es brachiale Gewaltszenen, um Folgsamkeit zu erzwingen. Viel eleganter und maßvoller scheint es da, den Widerstand des „polizeilichen Gegenübers“ unter Zuhilfenahme eines Schmerzgriffs zu brechen und ihn zu einem gefügigen Verhalten zu zwingen.

Der Befund jedoch, dass es sich bei Schmerzgriffen um eine eingriffsintensive Praxis handelt, scheint sich nicht mit der Einschätzung von Polizeibeamt:innen zu decken. Folgt man Singelnstein und Espín Grau, liegt das auch daran, dass Schmerzgriffe „selten sichtbare physische Verletzungen“ hinterlassen. Sie unterscheiden sich von sonstigem polizeilichem Gewalthandeln nicht zuletzt in ihrer Form und Ästhetik. Zwar zeigen Schreie, Krümmungen und schmerzverzerrte Gesichter ihre Gewaltsamkeit. Die davon ausgehende Wirkung ist dennoch eine andere, als wenn die Polizei eine Sitzblockade unter Schlagstockeinsatz räumen würde. Schmerzgriffe scheinen als eine maßvollere Reaktion wahrgenommen zu werden als „klassische“ Gewalt.

Einen besonders drastischen Fall des Verkennens der Gewaltintensität von Schmerzgriffen schildert Amnesty International Österreich. Die Ansetzung eines Schmerzgriffs (in diesem Fall wohl einer Hebeltechnik) hatte den davon Betroffenen dazu gebracht, laut zu schreien. Einer der beteiligten Polizisten soll das damit kommentiert haben, er solle sich „nicht so anstellen“ und keine „Show für die Presse“ veranstalten. Später wurde ein Bruch des Mittelhandknochens festgestellt. Ist schon für fachkundige Gewaltexperten eine adäquate Einschätzung der tatsächlichen Wirkungen eines Schmerzgriffs schwer feststellbar, gilt das erst recht für nicht Fachkundige, wie ein Blick in die einschlägigen Kommentarspalten schnell deutlich macht (vgl. etwa hier oder hier).

Rekonfigurationen der Macht

Doch nicht nur Schmerzgriffe zeigen eine Tendenz auf, die ihnen innewohnende staatliche Gewalt ästhetisch zu glätten. Deutlich wird das beim Blick auf sich verändernde Strafpraktiken im Verlauf der Neuzeit. Exemplarisch hierfür kann Foucaults Beschreibung der Hinrichtung Robert Francois Damiens am 2. März 1757 gelten. Damien, der versucht hatte, den König zu ermorden, wird zu Tode gefoltert, sein Körper langsam verstümmelt, zerteilt und zuletzt verbrannt.

Der Hinrichtung Damiens stellt Foucault eine 1838 verfasste Beschreibung des Alltags in einem Pariser Gefängnis gegenüber. Der Haftalltag der Gefangenen besteht aus einer minutiösen Kontrolle aller Aktivitäten. Foucault konstatiert „eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufügens von Leid, ein Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen […].“ Die Strafpraktiken werden milder: Die Körperstrafen verschwinden und werden abgelöst von Gefängnis- und Geldstrafen. Auch die Todesstrafe verschwindet in immer mehr Ländern. Wo sie nicht verschwindet, wird versucht, sie zu „humanisieren“. Statt zu hängen, köpfen oder zu vierteilen, greift man zur Giftspritze.

Foucault erklärt diese Änderung machttheoretisch. Die Änderung der Strafpraktiken geht demnach einher mit einer Änderung der Machtverhältnisse. Foucault konstatiert vier historische Straftypen, unter die sich nach seiner Auffassung alle Strafpraktiken fassen lassen: den Ausschluss, die Entschädigung oder den Freikauf, die (symbolische und physische) Brandmarkung und die Einschließung. Die konkreten Strafen nehmen, je nachdem welcher dieser Straftypen vorherrschend ist, unterschiedliche Formen an.

So erfüllt die Todesstrafe im oben geschilderten Fall der Hinrichtung Damiens eher eine Funktion, die dem Typus der Brandmarkung zuzuordnen wäre: Sie wirkt als symbolischer Akt und markiert den Gestraften als Verbrecher. Damit bestätigt sie die Macht des Souveräns, die der Verbrecher mit seiner Tat beschädigt hatte. Ganz anders in einem System der Einschließung, das Foucault seinerzeit paradigmatisch für die Gegenwart hielt: In diesem stellt sie – bildhaft gesprochen – die ultimative Einschließung dar, „die absolute Sicherheit.“

Es ist zwar Foucault zufolge wahr, dass sich von einer Tendenz zu milderen Strafen sprechen lässt. Er erklärt dies jedoch nicht durch eine Veränderung hin zu mehr Milde, Humanismus und Empfindsamkeit, sondern legt die sich verändernden Funktionsweisen der Macht offen, die mit einer anderen Art des Strafens einhergehen. Diese neue Form der Macht wirkt sowohl auf die individuellen Körper der Subjekte ein als auch auf den „Körper“ der Bevölkerung als Ganzes; sie beobachtet, überwacht und kontrolliert. Statt exzessiv zu strafen und die Gewalt des Souveräns zu inszenieren und auszustellen, diszipliniert, normiert und lenkt sie die Individuen, um sie produktiv zu machen – insbesondere vor dem Hintergrund sich ändernder Produktionsverhältnisse. Diese „Biomacht“ definiert sich nicht mehr durch die Fähigkeit töten zu können, sondern das Leben mittels einer „Mikrophysik der Macht“ zu regieren und unterscheidet sich darin von der souveränen Macht der frühen Neuzeit. Foucault hat das sinnfällig auf die Formel gebracht, dass sie es vermag „leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ statt wie früher „sterben zu machen oder leben zu lassen“.

Diese Veränderung betrifft nicht nur die im engeren, juristischen Sinne repressiven Strafpraktiken, sondern auch das übrige staatliche Machthandeln. Eine Institution wie die Polizei in ihrem modernen Sinn ist charakteristisch für diese neue Form der Macht und entsteht mit ihr gemeinsam. Sie durchdringt Alltag und Leben der Individuen, kontrolliert und interveniert kleinteilig. Der unspektakuläre Vollzug und nicht die ausstellende Inszenierung der Gewalt stehen dabei im Vordergrund. Gewalt ist nicht mehr Symbol, sondern ist eingespannt in eine Ökonomie der Macht, in der Gewalt wohl tariert eingesetzt wird, um unter dem Einsatz möglichst geringer Machtmittel ein möglichst effizientes Ergebnis zu erzielen (vgl. dazu auch hier, p. 156 f.). Aus dieser Perspektive ergibt es Sinn, Schmerzgriffe der brachialen Gewalt des Schlagstocks oder Faustschlags vorzuziehen. Sie ermöglichen eine subtilere Zufügung von Schmerzen, da sie weniger sichtbare Gewalteffekte hervorbringen und durch ihre technisch-kalkulierte Ausführung einen emotionsärmeren Einsatz von Gewalt versprechen.

Moderne Empfindsamkeit

Foucaults Erklärung zeigt jedoch nur einen Teil der Gründe für eine Abmilderung staatlicher Gewalt. Seine Darstellung verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Humanisierung des Strafens und den sich verändernden Erscheinungsweisen der Macht und der gesellschaftlichen Bedingungen von Herrschaft. Dabei läuft er jedoch Gefahr, die humanistischen und strafreformerischen Ansätze, die diesen Wandel vorantreiben als bloße Finte einer entpersonalisierten Machtdynamik zu verkennen. Die Bedürfnisse der Zeitgenoss:innen nach einem humaneren Strafrecht werden dadurch zu einem bloßen Epiphänomen dieser Entwicklung. Wie jedoch konnte sich die breite Akzeptanz ausgesprochen brutaler Strafpraktiken zu einem versachlichten Blick auf das Strafen entwickeln, der die Leidzufügung begrenzen will?

David Garland hat unter Rückgriff auf Norbert Elias‘ Zivilisierungsthese und deren Verarbeitung durch Pieter Spierenburg beschrieben, inwiefern die Entbrutalisierung des Strafens mit der Herausbildung einer zunehmenden Empfindsamkeit gegenüber jeglicher – auch staatlicher – Gewaltanwendung zusammenhängt.

Demnach wird im Verlauf der Neuzeit zunehmend differenziert zwischen abstoßend und „barbarisch“ empfundenen, besonders brutalen Strafen auf der einen sowie humanen und „zivilisierten“ auf der anderen Seite. Darin liegt zum einen ein ethnozentrisches Othering, bei dem sich westliche Gesellschaften über die Abwertung von anderen angeblich rückständigen Gesellschaften definieren (vgl. hierzu allgemein Edward Said). Zum anderen jedoch beschreibt Zivilisation auch die Abgrenzung von früheren Entwicklungsschritten der eigenen Gesellschaft, lässt sich also auch als nicht-ethnozentrische Beschreibung eines historischen Prozesses verstehen.

Garland beschreibt Zivilisierung im Anschluss an Norbert Elias als einen Kulturwandel innerhalb westlicher Gesellschaften, bei dem sich Umgangsformen, soziale Interaktion und auch psychische Strukturen ändern. Der Grund dafür ist die zunehmende wechselseitige Abhängigkeit zunächst in der höfischen und dann der bürgerlichen und marktförmigen Gesellschaft. Der andere wird zunehmend als Person eigenen Rechts und als Gleicher mitgedacht und sich mit ihm identifiziert. Das verlangt den Subjekten ab, die eigene Aggressivität zu hemmen und spontane Emotionen stärker zu regulieren. Die neuen Verhaltensweisen werden zunächst noch bewusst erlernt, dann jedoch immer mehr internalisiert und zu einem Teil der zweiten Natur.

Versteckte Gewalt

Doch nicht nur die Subjekte verdrängen nach Garland aggressive und triebhafte Anteile ihres Innenlebens; auch auf gesellschaftlicher Ebene werden beunruhigend empfundene Verhaltensweisen – Gewalt, Sex, Leiden, Tod – dem öffentlichen Blick entzogen, privatisiert und individualisiert, ohne dass sie sich vollständig beseitigen ließen. Am Strafen zeigt sich das für Garland exemplarisch: Statt als normalisierter Bestandteil gesellschaftlichen Lebens ausgestellt zu werden, wird Gewalt nunmehr hinter die Mauern von Gefängnissen und Lagern verlegt und die Strafe so der Sichtbarkeit entzogen. Für sie zuständig erklärt werden institutionalisierte Experten, insbesondere die Polizei. Deren unpersönliches und professionalisiertes Handeln soll den unkontrollierten emotionalen Anteil der ausgeübten Gewalt möglichst weitgehend reduzieren. Zugleich werden die Wirkungen der Gewalt verinnerlicht: Zwar wird im Gefängnis der physische Körper eingesperrt, doch dessen gewaltsame Wirkung ergibt sich vor allem aus emotionalen und psychischen Effekten der Haft.

Folgt man Garland, haben wir es also mit einem Widerspruch zu tun: Auf der einen Seite werden die Individuen zunehmend sensibler gegenüber Gewalt, auf der anderen Seite ist Gewalt ein irreduzibler Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens. Das gilt auch und gerade für bürgerliche Herrschaftsordnungen, die sich durch das Versprechen legitimieren, die Gewalt weitgehend aus dem Alltag zu verbannen und doch selbst auf die Nutzung von Gewalt angewiesen sind. Wo Gewalt nicht tatsächlich reduziert werden kann, muss sie immerhin gerechtfertigt werden, aus dem Blick verdrängt und in einer Form präsentiert werden, die ihre rohen Anteile verleugnet. Die Strafpraktiken der Gegenwart sind darauf ausgerichtet, dass diese Verdrängung gelingt. Denn, so schreibt Garland, „routine violence and suffering can be tolerated on condition that it is discreet, disguised, or somehow removed from view.” (p. 243).

Zivilisierte Ästhetik

Es ist deshalb folgerichtig, dass sich auch die Gewaltanwendung durch die Polizei der veränderten Empfindsamkeit der Individuen anpassen muss. Zur Professionalisierung polizeilichen Handelns gehört es auch, dass die Anwendung von Gewalt möglichst wenig grobschlächtig und frei von unkontrollierten Emotionen erscheinen muss. Kommt es zu Bildern überbordender Brutalität, sichtbaren Frakturen, Wunden oder fließendem Blut, hat das Auswirkungen auf die moralische Rechtfertigbarkeit des Gewalthandelns.

Auch wenn die Auswirkungen von Schmerzgriffen in den Gesichtern oder Schreien der Betroffenen abzulesen sind, ist die ästhetische Wirkung des polizeilichen Schmerzgriffs eine andere als die der stumpfen Gewaltanwendung durch Fäuste oder Schlagstöcke. Zum einen signalisiert sie, dass es sich hier nicht um einen Exzess und das Ausleben aggressiver Impulse handelt, sondern um eine erlernte Technik. Zum anderen verlegt sie den Schmerz ins Innenleben. Beides erlaubt sowohl dem Anwender als auch den Zuschauern, sich emotional zu distanzieren. Schmerzgriffe ändern das ästhetische Register, in dem sich die Schmerzzufügung abspielt.

Insofern sind sie auch Ausdruck einer zunehmenden Empfindsamkeit gegenüber Gewalt. Diese vordergründige Zivilisierung ist jedoch ambivalent. Entscheidend ist dann nicht mehr allein, ob Gewalt tatsächlich reduziert wird, sondern vor allem, ob sie weniger gewaltsam wirkt und die erzeugten Schmerzen erfolgreich verdeckt. Schmerzgriffe bedienen diese Logik des Verbergens von Gewalt, die Foucault als das „Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen“ beschreibt. Zugleich entsprechen sie in dieser Subtilität, aber auch in ihrer zweckmäßigen Effizienz einer Erscheinungsweise der Macht, die für die Gegenwart typisch ist. Dass sie gerade Konjunktur haben, ist deshalb wenig überraschend.