04 December 2018

Vertagt, verdrängt – verfassungswidrig: Wie der Bundestag sich um eine überfällige Reform des Wahlrechts drückt

Das Meinungsforschungsinstitut INSA prognostizierte vor kurzem einen Bundestag mit 815 Abgeordneten. Gesetzlich vorgesehen sind lediglich 598 (§ 1 Bundeswahlgesetz). Schon mit der letzten Bundestagswahl wuchs die Zahl auf 709 (von zuvor 631). Man möchte meinen, dass vor diesem Hintergrund die Reform des Wahlrechts ganz oben auf der politischen Agenda steht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wo liegt das Problem?

Wie so oft führt der Weg nach Karlsruhe. Mit seinem Urteil im Jahr 2008 hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgetragen, das Problem des „negativen Stimmgewichts“ zu beseitigen, und ihn aufgefordert, „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung […] auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“ (BVerfGE 121, 266, 316).

Was folgte, war – bei allem Respekt vor dem deutschen Parlament – ein Trauerspiel. Der erste Reparaturversuch, den (letztlich) die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung zu verantworten hatte, verschlimmerte noch das Problem des negativen Stimmgewichts und unternahm nichts gegen das Phänomen der Überhangmandate (… und dabei hatte doch niemand die Absicht, nur Dank Überhang zu regieren …). Erwartungsgemäß kassierte das BVerfG diese Reform und stellte zudem klar, dass die Überhangsregelung den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufheben dürfe (BVerfGE 131, 316). Der Kompromiss, auf den sich anschließend (fast alle) Fraktionen verständigen konnten, brachte die gegenwärtige Lage hervor: Seitdem ist das negative Stimmgewicht durch eine Änderung des Berechnungsverfahrens beseitigt; und die Überhangmandate werden voll ausgeglichen. Allerdings kann die Zahl an Ausgleichsmandaten, wie nun geschehen, in die Höhe schießen. Im Ranking der Größe nationaler Parlamente rangiert der Bundestag aktuell auf Platz zwei – hinter der Volksrepublik China. Und das Wahlrecht selbst ist vollends unverständlich geworden. Der einschlägige § 6 BWahlG hat mit seinen gut zwei Dutzend Querverweisen, die sich auf sieben Absätze verteilen, eine Gestalt monstro simile erhalten.

„Verständlich“, wie es die Verfassungsrichter anmahnen, muss keineswegs „einfach“ bedeuten. Bereits die Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahl, die vom Gericht zu keiner Zeit in Frage gestellt worden ist, bringt unvermeidbar eine gewisse Komplexität mit sich. Entscheidend ist jedoch, ob der Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe sowie die Zusammensetzung des Ergebnisses nachvollziehen kann. Das negative Stimmgewicht widersprach dieser Anforderung offensichtlich (neben den anderen gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen). Aber Gleiches gilt für die gegenwärtige Konstruktion von Überhang und Ausgleich, ist diese doch in ihrer Wirkungslogik inkonsistent (Grotz, in: Oppelland (Hg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015). Schließlich kann eine Partei, die Stimmen verliert, über die Ausgleichsmandate, die sie für die Überhangmandate einer anderen Partei bekommt, per Saldo ein Plus an Sitzen erlangen. Ob die Wählerinnen und Wähler diese Wirkungsweise verstehen können, ist die eine Frage. Ob sie es auch wollen, die zweite. Dagegen spricht, dass auf diese Weise der Sanktionscharakter einer Wahl ausgehöhlt zu werden droht, worauf bereits zurecht hingewiesen wurde.

Aber ist Gelassenheit nicht eine politische Tugend, zumal im Wahlrecht? Grundsätzlich ja, in der vorliegenden Frage jedoch nicht, denn das Problem dürfte sich weiter verschärfen. Einen Ansatzpunkt dafür liefert der (viel zu früh verstorbene) Parteienforscher Peter Mair. Er hat u.a. auf zwei grundsätzliche Strategien innerhalb der Wählerschaft aufmerksam gemacht: Die einen verfolgen das (instrumentelle) Ziel, die Regierung zu bestimmen, die anderen das (expressive) Ziel, die in ihren Augen programmatisch richtig aufgestellte Partei zu unterstützen (Mair, On Party, Party Systems and Democracy, 2014, 584). In Deutschland wird vor allem seit den neunziger Jahren verstärkt expressiv gewählt, wofür die Verhältniswahl einen Anreiz bietet. Eine Folge davon ist, dass der Grad an Fragmentierung des Parteiensystems zunimmt: Kleine Parteien wachsen, neue Parteien etablieren sich, Volksparteien schrumpfen. Gleichwohl sind es immer noch die (vormaligen) Volksparteien, die nahezu ausnahmslos alle Direktmandate gewinnen, und zwar auch deswegen, weil unter den Bedingungen der relativen Mehrheitswahl ein hoher Anreiz für instrumentelle Wahlmotive besteht. Diese Asymmetrie zwischen Erst- und Zweitstimme wird sich in absehbarer Zeit nicht grundlegend ändern. Vielmehr steht zu befürchten, dass der Bundestag seinen zweiten Platz im Größen-Ranking der nationalen Parlamente nicht nur verteidigen, sondern mehr noch seinen Vorsprung ausbauen wird.

Schaut man nun auf die Akteure, so kommt man nicht umhin zu sehen, dass der Deutsche Bundestag eine überfällige Reform seit mittlerweile zehn Jahren verschleppt. Seine Unwilligkeit zeugt von einem ausgeprägten Strukturkonservatismus an der Spree, für dessen Erklärung sich leider Gründe aufdrängen, mit denen sich Politik- und Parteienverdrossenheit leicht nähren lässt. Es geht um Ressourcenbeschränkung, die zweifellos auch die „eigenen Leute“ treffen würde. Wen wundert’s, dass die von Wolfgang Schäuble im Frühjahr eingerichtete und vertraulich tagende Arbeitsgruppe auf der Stelle zu treten scheint. Der Bundestagspräsident stellt schon in Aussicht, die Reform könne auch erst bei der übernächsten Wahl in Kraft treten, um den Parlamentariern eine für sie schmerzliche Reform abzuringen. Vor dem Hintergrund der anfangs präsentierten Zahlen verbieten sich derartige Überlegungen eigentlich. Sie werden den Abgeordneten als das ausgelegt werden, was sie sind: Ausflüchte und Tricksereien. Eine öffentliche Diskussion darüber kann schnell eine verheerende Wirkung für die Parteien zur Folge haben (etwa unter dem Stichwort „Selbstbedienungsmentalität“) – auszunehmen wären davon vermutlich nur (Rechts-)Populisten, die sich von der Politik- und Parteienunzufriedenheit nähren, auch wenn sie vom gegenwärtigen Zustand genauso profitieren.

Und wenn wir schon beim notorischen Populismus-Thema sind: Auch das Wahlrecht hat hier etwas als Gegenmittel anzubieten. Die gegenwärtig vorrangig diskutierten Reformkonzepte, darunter etwa die Verringerung der Zahl der Wahlkreise (Behnke, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Reform des Bundestagswahlsystems, 2017, 162) oder die Zusammenlegung von Erst- und Zweitstimme (Morlok, in: Oppelland (Hg.), a.a.O., 102f.), sind ungeeignet, die Bindung zwischen Wählern und Gewählten zu stärken. Denn eine Verringerung der Wahlkreiszahl hat nicht nur eine Reduzierung der Kandidatenzahl zur Folge, sondern auch eine Vergrößerung des Wahlkreisgebiets; dadurch erhöht sich jedoch zugleich die Zahl an Repräsentierten pro Repräsentanten. Und der Wegfall der Erststimme würde bedeuten, dass nur noch das ‚Gewicht der Parteien’ im Bundestag eine Rolle spielen soll, nicht aber mehr das ‚Gesicht der Wahlkreisabgeordneten’. In beiden Fällen würde das personale Element geschwächt werden – und mit ihm sowohl die Responsivität der Abgeordneten gegenüber den Interessen der Wähler im jeweiligen Wahlkreis als auch das Vertrauen der Bürger in „ihre“ Abgeordneten vor Ort. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung der Bindung zwischen Wählern und Gewählten eine besondere Bedeutung zukommt. Daher abschließend ein paar kurze Vorschläge, die in diesem Sinne geeignet sind, den Überhang abzubauen.

Was wäre, wenn die Wahl in den Wahlkreisen auf Grundlage der Erststimme nach absoluter statt relativer Mehrheitswahl erfolgte? Bekanntlich wählen die Franzosen ihre Abgeordneten der Nationalversammlung nach dieser Regel. Typischerweise wird dabei ein zweiter Wahlgang erforderlich, in dem sich die Absprachen zwischen den Parteien offenbaren, mit denen die hohe Mehrheitshürde überwunden werden soll. Kleinere Parteien erhalten dadurch eine Chance, ebenfalls Wahlkreise zu gewinnen, weil sie von den größeren Parteien, mit denen sie zuvor zusammen Wahlallianzen geschmiedet haben, als Mehrheitsbeschaffer benötigt und daher gemäß ihrem Anteil kompensiert werden. Auf diese Weise relativiert sich die Konzentration der Direktmandate auf wenige Parteien, der Umfang des Überhangs würde erheblich reduziert.

Alternativ könnte auch ein Wahlgang mit Präferenzstimmgebung zur Anwendung gelangen, d.h. ein System, bei dem die Wahlkreiskandidaten in ein persönliches Ranking durch den Wähler gebracht werden. Um die Sieger pro Wahlkreis zu bestimmen, würden die Stimmen der jeweils „schwächsten“ Kandidaten auf die jeweils nächste Präferenz übertragen werden, bis eine absolute Mehrheit erreicht ist. Ein solches Verfahren begünstigt erfahrungsgemäß „moderate“ Kandidaten innerhalb der verschiedenen Parteien gegenüber all jenen, die mit dem Hammer Politik machen wollen. Gleichzeitig würde das personale Element der Erststimme gestärkt werden und damit auch der Anreiz für die Kandidaten, auf die Interessen des Wahlvolks einzugehen.

Zu guter Letzt: Wenn der Bundestag es erst einmal mit einem kleinen Schritt versuchen möchte, die Bedeutung der Wahlkreise und damit die Bindung zwischen Wähler und Abgeordneten zu stärken und dadurch zugleich auch zur Verständlichkeit des Wahlsystems insgesamt beizutragen, dann empfiehlt sich ein Blick in das baden-württembergische Landeswahlrecht: Hier findet sich die Regel, dass die Wahlkreisergebnisse die Reihenfolge der Bewerber auf den Parteilisten bestimmen. Eine alte Idee, die auf einen österreichischen Studenten zurückgeht (Geyerhahn, Wiener Staatswissenschaftliche Studien, 1902).

Beim Wahlrecht treffen Mathe und Macht zusammen. Es ist an der Zeit, dass der Bundestag die stiefmütterliche Behandlung des Wahlrechts einstellt und stattdessen mit Leidenschaft und Augenmaß um eine kreative und belastbare Lösung ringt. Der Missstand muss vor der nächsten Bundestagswahl beendet werden – je schneller desto besser.


SUGGESTED CITATION  Lembcke, Oliver W.; Heber, Frank: Vertagt, verdrängt – verfassungswidrig: Wie der Bundestag sich um eine überfällige Reform des Wahlrechts drückt, VerfBlog, 2018/12/04, https://verfassungsblog.de/vertagt-verdraengt-verfassungswidrig-wie-der-bundestag-sich-um-eine-ueberfaellige-reform-des-wahlrechts-drueckt/, DOI: 10.17176/20181209-202752-0.

6 Comments

  1. mq86mq Wed 5 Dec 2018 at 01:46 - Reply

    Das negative Stimmengewicht ist auch im aktuellen Bundestagswahlrecht nicht beseitigt, sondern nur von den überhängenden zu den nicht überhängenden Listen verschoben worden. Wenn bei der Bundestagswahl 2017 die AfD in Niedersachsen z.B. 10’000 Stimmen weniger bekomen hätte, hätte sie 1 Sitz mehr (und auch einen höheren Sitzanteil). 2013 war die SPD in Bayern betroffen (in beide Richtungen: mehr Sitze bei weniger Stimmen und weniger Sitze bei mehr Stimmen).

  2. Aeneas Marxen Thu 6 Dec 2018 at 09:45 - Reply

    Die Verfassungswidrigkeit des aktuellen Wahlrechts ist hier schwach argumentiert. Wenn das entscheidende Kriterium ist, dass der Wähler die Wirkung seiner Stimmen nachvollziehen können muss, dann gilt aktuell für die Erststimme: der Kandidat mit den meisten Erststimmen im Kreis kommt ins Parlament. Und für die Zweitstimme, die Stimme des Verhältniswahlrecht: die abgegebenen Stimmen bestimmen das Verhältnis der im Bundestag vertretenen Parteien, jede Partei bekommt (abzüglich der verfassungsrechtlich tatsächlich interessanten 5 %-Hürde) die Anzahl von Sitzen, die den erreichten Prozenten entspricht. Dass dabei möglicherweise mehr Sitze erlangt werden, weil das Parlament im Gesamten größer wird, ist für das Verhältnis irrelevant.

    Will man die Erststimme beibehalten und die Wahlkreise nicht vergrößern, ist das vorhandene System das einzig mögliche und führt in der Konsequenz zum großen Parlament. Umgekehrt liegt auch die einzige Möglichkeit das Parlament verfassungsgemäß zu verkleinern in einem dieser beiden Schritte, die der Beitrag aus politiktheoretischen, nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnt. Die genannten Lösungsvorschläge des Beitrags sind allerdings noch “verfassungswidriger” als das aktuelle System. Es ist bereits zweifelhaft, dass sie den Überhang verkleinern. Bei der absoluten Mehrheitswahl soll, wenn ich den Beitrag richtig verstehe, die Verkleinerung durch eine Art Kuhhandel zustande kommen, in denen Parteien sich in manchen Wahlkreisen keine Konkurrenz machen um in anderen Wahlempfehlungen zu bekommen. Das entspricht sicherlich nicht der Nachvollziehbarkeit der Wirkung der eigenen Stimme. Das Präferenzwahlsystem würde wohl die jeweils größte Partei des rechten bzw. linken Blocks bevorzugen; es war auch schon vor 10 Jahren meist die CDU die Partei mit den meisten Überhangmandaten. Wie das Überhangmandate reduzieren soll, wird aus dem Beitrag nicht klar.

    Verfassungsgemäß ist wohl jedoch nur ein Wahlsystem ohne Überhangmandate. Sie sind entscheidend. Nach altem Wahlrecht hätte Merkel von 2013 an ohne Koalition regieren können.

    • Frank Heber Sun 9 Dec 2018 at 15:42 - Reply

      Die Argumentation für die Verfassungswidrigkeit steht in der Tat nicht im Mittelpunkt des Artikels. Verbindlich darüber entscheiden könnte ohnehin nur das BVerfG, was es jedoch aus rechtspolitischen Gründen nicht tut.
      Zur absoluten Mehrheit: die Variante mit zwei Wahlgängen würde es wohl tatsächlich zu Absprachen, zumindest aber zu Wahlempfehlungen durch unterlegene Kandidaten kommen. Dies ist, wie schon ausgeführt, etwa in Frankreich bereits Usus. Die Variante mit Präferenzstimmen würde solche expliziten Absprachen dagegen vermeiden.
      Der Überhang würde reduziert, da die “jeweils größte Partei des rechten bzw. linken Blocks” eben so groß nicht mehr sind (weshalb das Problem des Überhangs ja überhaupt erst aufkommt). Je nach Bundesland und Wahlkreis liegen andere Parteien vorn, es würden in der Folge auch Linkspartei, Grüne, FDP und AfD mehr Direktmandate erringen, insebesondere, wenn Kandidaten als Personen überzeugen können.

      Zu ihrem letzten Punkt: ich nehme an, Sie meinen Ausgleichsmandate? Ohne die hätte die Kanzlerin in der Tat ohne Koalition regieren können. Das Urteil des BVerfG war jedoch eindeutig, unausgeglichener Überhang ist nur in sehr engen Grenzen nicht verfassungswidrig (ganz zu schweigen von fehlenden politischen Mehrheiten, da nur die Union profitieren würde).

      • mq86mq Sun 9 Dec 2018 at 21:46 - Reply

        Ein zweiter Wahlgang würd wahrscheinlich das Verhalten aller Beteiligten schon dadurch ändern, dass dann sichtbar wird, dass es in den Wahlkreisen weniger um eine Entscheidung zwischen den nominellen Kandidaten geht, sondern eher darum, ob der jeweilige Kandidat wen von der zugehörigen Liste rausschmeißt. Vorallem in den kleineren Ländern ist dann schon bekannt, um wen es konkret geht und auch, was es für Auswirkungen auf die Bundestagsgröße hat.

        In Bayern hat 2017 in allen Wahlkreisen das rechte Lager eine klare Mehrheit gehabt, außer in Nürnberg-Nord, wo es auf die Bewertung der Kleinparteien (insbesondere der ÖDP) ankommt. Und das würd sicher alles an die CSU gehn (die FDP ist eh bundesweit nirgends auch nur in der Nähe von Direktmandaten). Die CSU war aber allein schon für 700 der 709 Bundestagssitze verantwortlich, und derzeit besteht kein Zweifel, dass sie die am stärksten überhängende Partei wär, die letztlich allein die Bundestagsgröße bestimmt.

        • Frank Heber Wed 12 Dec 2018 at 14:44 - Reply

          Eine kurze Vorbemerkung: ich persönlich präferiere die Variante mit Präferenzstimmen.

          Es ginge in den Wahlkreisen sowohl um die Entscheidung, welche/r Kandidat/in den Wahlkreis direkt vertreten soll, als auch darum, wie (die unterlegenen) Kandidaten auf den Parteilisten platziert werden sollen. Für letzteres dürfte selbstverständlich nur der erste Wahlgang massgeblich sein, um taktisches Wählen zu verhindern. Die Grundidee ist ja eben die, dass (positiv) jene Kandidaten, die “vor Ort” in den Wahlkreisen überzeugen können, eine höhere Chance auf Einzug durch Direktmandat oder Liste erhalten. Ein mittelbares (negatives) Verhindern bestimmter Listenkandidaten erscheint mir eher als Spekulation denn als Kalkulation.

          Mit diesem “Schwenk” zur Betonung der Personenwahl wird eben intendiert, dass die Parteipräferenz bei der Personenwahl in den Hintergrund tritt. Nach geltendem Wahlrecht wird etwa selbst ein “schwacher” CSU-Kandidat dank der Vormacht seiner Partei problemlos das Direktmandat erringen. Müsste er jedoch eine absolute Mehrheit erreichen und wäre er mit einem überzeugenden (SPD-/Grünen-/…) Gegenkandidaten konfrontiert, hätte dieser eine realistische Chance, sich das Direktmandat zu sichern, wenn es gelingt, die Wählerschaft von der persönlichen Eignung zu überzeugen.

          • mq86mq Wed 12 Dec 2018 at 19:07

            Meine Ausführungen haben die Existenz von Landeslisten unterstellt. Bei einem listenlosen System wie in Baden-Württemberg, das Sie erst am Ende des Artikels als Möglichkeit erwähnen, schaut das natürlich ganz anders aus. In dem Fall stellt sich aber (auch rechtlich) die Frage nach der Berechtigung einer Trennung von Erst- und Zweitstimme, die Sie ja offenbar unbedingt beibehalten wollen. Nicht umsonst gibt es in Baden-Württemberg nur 1 Stimme.

            Die praktische Bedeutung der Personenwahl für die Wähler scheinen Sie zu überschätzen. Tatsächlich ist das Wahlverhalten fast allein aus den Parteipräferenzen vorhersagbar, auch bei Wahlsystemen, wo die Personenstimme keine Bedeutung für die Stärke der Parteien hat. In Baden-Württemberg und Bayern, wo sie eine solche Bedeutung hat, ist das nochmal stärker. Bei absoluter Mehrheitswahl wird sich das Ergebnis vereinzelt ändern, aber kaum der Mechanismus an sich. Wenn man Wähler in größerem Umfang zu echter Personenwahl bringen will, muss man sie dazu zwingen, sich zwischen verschiedenen Kandidaten der selben Partei zu entscheiden. Entscheidungskriterien sind aber auch da in der Regel nur vordergründige Einzelaspekte, etwa der Wohnort der Kanddidaten. Ein echtes Bedürfnis nach Personenwahl besteht nur bei höherrangigen Einzelposten wie etwa einer Direktwahl der Bundeskanzlerin, wo die Präferenzen ähnlich stark die Parteipräferenzen treiben, wie sie von diesen bestimmt werden.

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