08 November 2024

Ende ohne Ende?

Wie es nach dem Bruch der Koalition aus verfassungsrechtlicher Sicht weitergeht

What a week, huh? Captain, it’s Wednesday” – ein bekanntes Meme, das selten so gut gepasst haben dürfte, wie in dieser Woche: Zunächst wurde im Laufe des Tages klar, dass sich die USA tatsächlich mit großer Mehrheit für eine zweite Amtszeit des mehrfach vorbestraften Donald Trump entschieden haben – mit noch kaum absehbaren Konsequenzen für die Ukraine, Europa und den Rest der Welt –, bevor wenige Stunden später der Bundeskanzler in einer bemerkenswerten Rede ankündigte, den Finanzminister Christian Lindner zu entlassen und damit das formale Ende der Ampelkoalition zu besiegeln. Nun wird die Wahl Trumps mittel- bis langfristig zweifellos die gravierenderen Folgen nach sich ziehen. Gleichwohl stellen sich mit dem sich zwar lange anbahnenden, nun aber doch sehr plötzlichen Ende der Koalition einige auch verfassungsrechtliche Fragen, die im Folgenden ein wenig näher und in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge beleuchtet werden sollen.

Die Verantwortung des Kanzlers

Fangen wir also vorne an und damit beim öffentlich verkündeten Entschluss des Bundeskanzlers, den Finanzminister zu entlassen bzw. genauer: beim Bundespräsidenten um dessen Entlassung zu bitten. Art. 64 GG ist insoweit eindeutig: Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Weitere Voraussetzungen kennt die Regelung nicht und das ist auch richtig: Es ist der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin, der oder die nach Art 65 GG die Richtlinien der Politik bestimmt und die Verantwortung für das gesamte Regierungshandeln trägt. Mit einer solchen Verantwortung wäre es aber schlicht nicht vereinbar, ihn oder sie dazu zu zwingen, mit einer Person zusammenzuarbeiten, zu der kein Vertrauensverhältnis (mehr) besteht. Das wäre aber die Folge, wenn man einen irgendwie gearteten materiellen Grund für eine solche Entlassung verlangen würde, dessen Vorliegen dann – im Wege des Organstreits – vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden könnte. Wir sind hier schlicht im hochpolitischen Maschinenraum der Bundesregierung, wo solche normativen Vorgaben deplatziert wären und zu Funktionsstörungen führen würden – man stelle sich vor, das Bundesverfassungsgericht ordnet im Wege der einstweiligen Anordnung an, dass Lindner vorerst nicht entlassen werden darf. Verfassungsrechtlich spielt es (wie in der Ehe) daher auch keine Rolle, wer für das Ende des Vertrauensverhältnisses verantwortlich ist – es ist der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin, die hier am längeren Hebel sitzt. Insofern ist es auch richtig, dass der Bundespräsident einem solchen Vorschlag nicht nur nachkommen kann, sondern auch nachkommen muss. Ein irgendwie geartetes politisches Prüfungsrecht steht dem Bundespräsidenten in diesem Fall also nicht zu, seine Aufgabe ist es allein, in seiner Funktion als Staatsnotar den politischen Willen des Bundeskanzlers zu vollziehen (wie wir sehen werden, kommt ihm im weiteren Ablauf aber durchaus eine politische Reservefunktion zu).

Gleiches gilt im Übrigen für die Ernennung der neuen Ministerinnen und Minister. Auch hier ist der Bundeskanzler frei, der Bundespräsident vollzieht. Etwas anderes ergäbe sich nur dann, wenn und soweit der Bundeskanzler Vorschläge machen sollte, die aus rechtlicher Sicht als unzulässig angesehen werden müssten. Auch wenn es klare Regelungen dazu nicht gibt, könnte das etwa der Fall sein, wenn er einzelnen Ministerinnen und Ministern beispielsweise zu viele Ministerien zuweist. Dass u.a. Volker Wissing nunmehr zwei Ministerien vorsteht, kann sich nicht nur auf historische Vorbilder stützen (Adenauer selbst hat zeitweise zugleich als Außenminister fungiert), sondern erscheint auch verfassungsrechtlich nicht bedenklich – gerade bei einer Regierung, die erkennbar eher für den Übergang zusammentritt.

Die anderen FDP-MinisterInnen

Für die Regierung an sich hat all das zunächst ohnehin keine unmittelbaren rechtlichen Folgen – die Regierung ist und bleibt im Amt und ist weiterhin voll handlungsfähig. Allerdings war insoweit abzusehen, dass mit der Entlassung des Finanzministers auch die anderen von der FDP gestellten Ministerinnen und Minister ihr Amt im Wege des Rücktritts niederlegen würden (eine Ausnahme ist Volker Wissing, der jedoch auch aus der FDP ausgetreten ist). Auch das ist unproblematisch möglich, jeder Minister und jede Ministerin kann jederzeit und ohne die Angabe von Gründen beim Bundeskanzler den Rücktritt einreichen. Insoweit ist es allerdings etwas schwerer zu beantworten, ob den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin dann ebenfalls eine Pflicht trifft, diesen Rücktritt gewissermaßen anzunehmen und im direkten Anschluss um die förmliche Entlassung beim Bundespräsidenten zu bitten. Zwar wird er oder sie das in der Regel tun. In diesem Fall erwies sich das für Scholz zudem schon deshalb als „alternativlos“, weil das Vertrauensverhältnis zu diesen Ministerinnen und Minister angesichts ihrer deutlich gemachten Loyalität zu Christian Lindner offenkundig nicht mehr bestand. Gleichwohl erscheint es nicht ausgeschlossen, in diesen Fällen anzunehmen, dass der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin ein solches Rücktrittsgesuch eines Ministers oder einer Ministerin zumindest temporär (also nicht dauerhaft) zurückweisen kann – etwa weil die politische Lage die damit einhergehende Unsicherheit nicht verkraften würde. Diese Begrenzung des ministeriellen Rücktrittsrechts wäre insofern eine Konsequenz, der man bereits mit dem Eintritt in eine Bundesregierung gewissermaßen konkludent zustimmt.

Der Bundestag – (no) business as usual?

Auch für den Bundestag haben solche Vorgänge in der Bundesregierung keine unmittelbaren Konsequenzen – es handelt sich um ein anderes Verfassungsorgan. Allerdings ist dieses Verfassungsorgan in einem parlamentarischen Regierungssystem natürlich eng mit der Bundesregierung (auch personell) verflochten: Die Bundesregierung ist in ihrem Bestand vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig, die jederzeit die Möglichkeit hat, diese über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen. Solange das nicht geschieht, führt die Aufkündigung des rechtlich ohnehin unverbindlichen Koalitionsvertrages allein dazu, dass die Bundesregierung sich auf keine verstetigte Mehrheit im Parlament in Form der die Regierung tragenden Fraktionen stützen kann. Allerdings: Eine automatische Mehrheit für alle angedachten Maßnahmen der Bundesregierung stellt auch eine solchermaßen formalisierte Koalitionsmehrheit nicht dar. Die Abgeordneten sind weiterhin frei im Sinne des Art. 38 GG und allein ihrem Gewissen unterworfen – selbstbewusste Abgeordnete würden das richtigerweise auch stets betonen.

Der Sache nach kann sich die Bundesregierung nun also lediglich nicht mehr auf die (begründete) Erwartung stützen, jedenfalls für den Großteil ihrer Maßnahmen eine Mehrheit im Parlament zu finden. Sie ist vielmehr darauf angewiesen, sich in jedem Einzelfall mit allen Fraktionen zu verständigen, ob bzw. inwieweit und unter welchen Bedingungen diese bereit wären, eine bestimmte Maßnahme zu unterstützen. Eine solche Minderheitsregierung muss mithin mit einer erheblich größeren Unsicherheit umgehen und ist unter Umständen nicht mehr in der Lage, ihre zentralen Gesetzesvorlagen im Parlament durchzubringen. Allein: Ein Automatismus, dass dies überhaupt nicht mehr gelingen wird, lässt sich in solchen Konstellationen nicht annehmen. Das hängt zwangsläufig auch davon ab, wie groß die fortbestehende relative Mehrheit der verbleibenden Regierungsfraktionen noch ist. Je mehr Abgeordnete die Regierung weiterhin stützen, umso leichter ist es, in Einzelfällen konkrete Mehrheiten zu organisieren. SPD und Grüne haben aktuell weiterhin 324 Abgeordnete, die Kanzlermehrheit liegt aktuell bei 369 Abgeordneten. Völlig unrealistisch erscheint es insofern nicht, dass es hier und da gelingen könnte, eine solche Mehrheit zu erreichen – wenngleich es zweifellos schwierig bleibt. Etwas ketzerisch könnte man allerdings formulieren: Schon vor Mittwoch hatte die Bundesregierung immer wieder enorme Schwierigkeiten, eine an sich doch bestehende Parlamentsmehrheit zu realisieren. Wirklich viel hätte sich damit also gar nicht geändert (darauf wird gleich bei der Möglichkeit einer Vertrauensfrage noch einmal zurückzukommen sein).

Vorläufige Haushaltsführung

Mit der prinzipiell fehlenden Mehrheit wird es allerdings doch sehr unwahrscheinlich, dass der Bundestag noch rechtzeitig einen Bundeshaushalt für das Jahr 2025 wird beschließen können. An sich war vorgesehen, dass die letzten Feinheiten hier Mitte November in der legendären Bereinigungssitzung zwischen den Koalitionären vereinbart werden. Dazu wird es nunmehr nicht mehr kommen. Und dass die Union bereit sein wird, einen Haushalt gemeinsam mit SPD und Grüne aufzustellen wird man doch als eher unrealistisches Szenario ansehen müssen. Auch für einen solchen (seltenen) Fall hat das Grundgesetz allerdings vorgesorgt: Art. 111 GG ermöglicht die sog. vorläufige Haushaltsführung, wonach die Bundesregierung insbesondere ermächtigt bleibt, auch im Jahr 2025 die rechtlich begründeten Verpflichtungen zu erfüllen. Dass es ab Januar also zu größeren Eruptionen etwa im Sozialbereich kommt, ist dadurch ausgeschlossen. Neue Projekte können dann zwar nicht realisiert werden, immerhin erhält Art. 111 Abs. 2 GG aber eine besondere Kreditermächtigung, falls die vorhandenen Mittel für diesen Zeitraum nicht ausreichen sollten. Anders als in den USA folgt ohne rechtzeitigen Haushalt also kein Government-Shutdown.

Kein Selbstauflösungsrecht

Gleichwohl stellt sich damit die Frage: Könnte der Bundestag diese jedenfalls unsichere Lage nicht einfach beenden, indem er sich selbst auflöst? Tatsächlich besteht ein solches Selbstauflösungsrecht in vielen anderen demokratischen Verfassungsstaaten, man könnte es nachgerade als Ausdruck der Autonomie des Parlaments ansehen. Im Grundgesetz findet sich zwar keine explizite Norm, die dem Bundestag ein solches Recht zuweist. Zwingend erforderlich wäre eine solche jedoch nicht – man könnte eine solche Selbstauflösungsmöglichkeit durchaus als ein dem Parlament immanentes Recht interpretieren. Allerdings müsste ein solches Recht dann auch zum restlichen Grundgesetz passen – es dürfte also nicht in einem Widerspruch zu der expliziten Regelungsstruktur des Grundgesetzes stehen. Und genau einen solchen Widerspruch nimmt die ganz überwiegende Literaturansicht in diesem Fall richtigerweise an. Das Grundgesetz enthält nämlich zwei Normen, die als Rechtsfolge eine Auflösung des Bundestages vorsehen:

Einmal Art. 63 Abs. 4 GG, sofern die Wahl eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin mit einer absoluten Mitgliedermehrheit nicht zustande kommt, und einmal Art. 68 GG nach einer gescheiterten Vertrauensfrage. In beiden Fällen steht die Auflösung aber erst am Ende eines längeren Prozesses, an dem der Bundestag zwar mit beteiligt ist, die letztliche Entscheidung aber in die Hände des Bundespräsidenten gelegt wird. Ein solch komplexes Verfahren wäre schlicht unnötig, wenn der Bundestag ohnehin jederzeit die Möglichkeit hätte, sich einfach aufzulösen. Denn diese Option stünde dann ja auch zur Verfügung, wenn der Bundespräsident sich gegen eine Auflösung entscheiden sollte, und würde diese Entscheidung fundamental unterlaufen.

Die Vertrauensfrage

Tatsächlich bleibt in der hier vorliegenden Konstellation damit allein der Weg über die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, um Neuwahlen zu ermöglichen. Dabei wird man allerdings gleich festhalten können: Eine Verpflichtung des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin eine solche zu stellen, sobald eine Koalition zerbricht, besteht nicht. Er oder sie kann sich vielmehr auch dafür entscheiden, es vorerst mit einer Minderheitsregierung zu versuchen. Etwas anderes ließe sich allenfalls annehmen, wenn und soweit es von vornherein völlig aussichtlos schiene, eine Parlamentsmehrheit im Einzelfall zu organisieren. Auch das wäre aber hochproblematisch und ist zumindest angesichts der oben genannten Zahlen nicht der Fall. Insofern kann der Oppositionsführer zwar politisch an den Bundeskanzler appellieren, die Vertrauensfrage umgehend zu stellen. Dazu zwingen kann er ihn rechtlich nicht.

Allerdings hat er natürlich die Möglichkeit, politischen Druck auszuüben und etwa die Bereitschaft zur Mehrheitsbeschaffung beizutragen, an eine vorherige Vertrauensfrage zu binden. Genau das hat Friedrich Merz mittlerweile getan und verfassungsrechtlich ist dagegen nichts einzuwenden. Genau das ist Politik. Ob es der CDU gerade vor dem Hintergrund der voraussichtlichen Regierungsübernahme in einer Koalition mit der SPD nicht mehr nützen würde, an dieser Stelle bereits staatspolitisch und souverän zu kooperieren ist eine andere Frage. Gerade im Hinblick auf die anvisierte Stärkung des Bundesverfassungsgerichts, die eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzt, sollte man dabei auch beachten, dass es die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit demokratischer Parteien im nächsten Bundestag möglicherweise nicht gibt.

Der Bundeskanzler hat in seiner Rede allerdings auch angekündigt, die Vertrauensfrage später tatsächlich stellen zu wollen – allerdings erst Mitte Januar. Damit stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen mit der Verfassung vereinbar ist, oder ob jedenfalls in einer solchen Konstellation nicht die Verpflichtung besteht, die bereits angekündigte Vertrauensfrage umgehend oder jedenfalls in einem engeren zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Auch das wird man aber angesichts des hochpolitischen Charakters dieser Vorgänge ablehnen müssen. Der Bundeskanzler kann also eine Vertrauensfrage auch erst für einen späteren Zeitpunkt ankündigen und versuchen, zuvor noch einzelne Maßnahmen gemeinsam mit dem Parlament zu realisieren – die Annahme, dass das Bundesverfassungsgericht zum Stellen einer Vertrauensfrage verpflichten könnte, erweist sich als schlicht verfehlt. Ohnehin handelt es sich dabei allein um eine politische und nicht um eine rechtlich verbindliche Ankündigung. Der Bundeskanzler könnte also davon gänzlich absehen oder die Vertrauensfrage letztlich doch früher stellen. Wie ein solches Verhalten wirkt, ist dabei sein politisches Risiko, das aber verfassungsrechtlich keine Bedenken aufwirft.

Jedenfalls in dem Moment, in dem er die Vertrauensfrage tatsächlich stellt, müssen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für diese vorliegen. Art. 68 GG setzt dabei allerdings allein voraus, dass der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin eine Vertrauensfrage stellt und das Parlament dieses Vertrauen verweigert; materielle Voraussetzungen kennt Art. 68 GG nicht. Die Vertrauensfrage kann dabei auch mit einer konkreten Sachfrage verbunden werden – das Vertrauen in die Regierung zeigt sich ja gerade in der Bereitschaft, die Maßnahmen der Bundesregierung zu unterstützen. Das Fehlen weiterer materieller Voraussetzungen gilt allerdings allein für die sog. echte Vertrauensfrage, bei der der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin darauf abzielt, das Vertrauen zu erhalten und damit gegen seinen Willen scheitert. Anders ist die Lage zu beurteilen, wenn es dem Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin vorrangig darum geht, mit einer Vertrauensfrage zu scheitern, um im Anschluss den Weg zu Neuwahlen zu ebnen (sog. negative Vertrauensfrage). In einem solchen Fall – den es in der Geschichte der Bundesrepublik bereits zweimal gegeben hat – verlangt das Bundesverfassungsgericht zusätzlich eine sog. materielle Auflösungslage, eine Situation also, aufgrund derer der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin annehmen durfte, dass eine vernünftige Regierungstätigkeit in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein wird. Richtigerweise hat das Bundesverfassungsgericht dem Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin bei der Frage, ob eine solche Lage besteht, dann aber einen überaus weiten Beurteilungsspielraum zugewiesen und sich in den beiden bisherigen Fällen dem klar artikulierten Willen des Bundeskanzlers, des Parlaments und letztlich auch des Bundespräsidenten nicht in den Weg gestellt.

Da es dem Bundeskanzler hier letztlich um die Auflösung des Bundestages geht, wird man wohl auch in diesem Fall eine materielle Auflösungslage verlangen müssen, wenngleich angesichts des Ausstiegs der FDP aus der Koalition eigentlich klar ist, dass der Bundeskanzler tatsächlich kein Vertrauen in Form einer Kanzlermehrheit mehr genießt. Es ist daher auch nicht völlig klar, ob die beiden verbliebenen Regierungsfraktion sich bei der Vertrauensfrage vollständig enthalten, wie das bei den beiden historischen Beispielen der Fall war, in denen eine Kanzlermehrheit jeweils formal bestand. Wie dem auch sei: Es erscheint angesichts der bisherigen Ereignisse nachgerade ausgeschlossen, dass eine materielle Auflösungslage Mitte Januar nicht (mehr) besteht. Etwas anderes wäre nur denkbar, wenn es bis dahin gelänge, eine neue Koalitionsregierung – etwa eine Große Koalition – zu bilden. Dann aber würde der Bundeskanzler schon gar keine Vertrauensfrage mehr stellen (ohnehin handelt es sich allein um eine sehr theoretische Option). Jedenfalls erscheint es vor dem Hintergrund der bisherigen Fälle – im Jahr 2005 führte bereits eine verlorene Landtagswahl in NRW zu einer negativen Vertrauensfrage, die das Bundesverfassungsgericht akzeptierte –, als sehr unwahrscheinlich, dass Karlsruhe sich hier gegen den Willen der drei genannten Verfassungsorgane stellen würde.

Die politische Reservefunktion des Bundespräsidenten

Nach der damit absehbar verlorenen Vertrauensfrage müsste der Bundeskanzler sodann den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. In dieser Situation wachsen dem Bundespräsidenten damit tatsächlich echte politische Reservekompetenzen zu. Anders als beim Antrag auf Entlassung der Bundesminister und -ministerinnen muss der Bundespräsident dieser Bitte des Bundeskanzlers also nicht nachkommen, sondern kann innerhalb der in Art. 68 GG genannten 21 Tage frei entscheiden, welche Option aus seiner Sicht die für das Land bessere darstellt. Der Bundespräsident ist auch nicht gehalten, die Frist von 21 Tagen auszuschöpfen, er könnte vielmehr auch unmittelbar nach Erhalt der Bitte des Bundeskanzlers umgehend eine Auflösungsentsch