06 April 2023

Viel Grau, wenig Grün

Was die Koalitionsbeschlüsse der Ampel für den Biodiversitätsschutz in Deutschland bedeuten könnten

Wer Glück hat, kann im Frühling in Berliner Hinterhöfen oder Parks eine Nachtigall singen hören. Die zierlichen Vögel sind nur 16 cm lang, schaffen es aber mit ihrer Stimmgewalt mitunter, sogar den Großstadtlärm zu übertönen. Nach den schier endlosen Verhandlungen der Koalitionsparteien war am Dienstagabend vergangener Woche ebenfalls viel Lärm zu hören – und vielleicht, bei genauem Hinhören, auch ein bisschen Nachtigall.

Unüberhörbar der klimapolitische Lärm: Die „Weiterentwicklung“ des Klimaschutzgesetzes (KSG), wie sie das Ergebnispapier des Koalitionsausschusses beschreibt, entpuppt sich als empfindliche Schwächung des zentralen Mechanismus der deutschen Klimaschutzarchitektur (dazu hier). Auch die Festschreibung eines „überragenden öffentlichen Interesses“ zur Beschleunigung zahlreicher Autobahnprojekte wird von den Umweltverbänden scharf kritisiert – ein paar PV-Anlagen am Straßenrand und eFuels-Förderung werden diese nicht klimaneutral machen. Beschleunigt werden soll aber auch im Bereich des Naturschutzes. Allerdings ist fragwürdig, ob mit den vorgeschlagenen Maßnahmen nur das Tempo bei der Umsetzung verschiedener Infrastrukturvorhaben auf Kosten der Natur erhöht wird, oder ob damit – wie auf dem Papier angestrebt – auch eine echte Effektivierung des Naturschutzes einhergehen kann. Bislang setzen die Reformvorschläge der Koalition auf möglichst wenig Konfrontation mit konkurrierenden Flächenansprüchen – damit wird sich ein effektiver Schutz der Biodiversität nicht erreichen lassen.

Natürlicher Klimaschutz und biologische Vielfalt

Insgesamt enthalten die geplanten Änderungen des Klimaschutzgesetzes wenig gute Nachrichten für den Naturschutz. Wir erinnern uns an den Text des Koalitionsvertrages: „Wir wollen die Biologische Vielfalt schützen und verbessern, ihre nachhaltige Nutzung sichern und die Potenziale natürlichen Klimaschutzes nutzen“ (S. 36 f.). In den Reformvorschlägen werden unter Punkt 4 immerhin die natürlichen Treibhausgassenken beiläufig erwähnt, in einem Atemzug mit technischen Senken wie Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (BECCS) oder direkte CO2-Abscheidung aus der Luft und anschließende Speicherung (DACCS). Besonders BECCS steht aber in einem Spannungsfeld mit der Idee, Klima- und Biodiversitätsschutz zu verknüpfen. Das Rohmaterial für die Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung muss allerdings irgendwo herkommen. Bislang stammt es allzu oft aus dem intensiven Anbau von Energiepflanzen. Dieser Anbau verschärft eher bestehende Flächenkonkurrenzen und erfordert in vielen Fällen den Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger.

Die Förderung natürlicher Senken, wie im Ergebnispapier beabsichtigt, ist hingegen zu befürworten, weil hier das Potenzial für vielfältige Synergieeffekte besteht. Der Schutz und die Wiederherstellung von Ökosystemen mit hohem Potenzial zur Kohlenstoffspeicherung wie Mooren, Wäldern, Grünland oder Seegraswiesen wirkt sich nicht nur positiv auf die Treibhausbilanz und damit die Erreichung der Ziele aus § 3a KSG aus, sondern kommt auch der Biodiversität zugute. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Ökosysteme bereits schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt sind.

Der Zustand der Wälder in Deutschland ist besorgniserregend. Der überwiegende Teil der ursprünglich vorhandenen Moorflächen ist degradiert und steht unter landwirtschaftlicher oder anderweitiger Nutzung. Selbst wenn es gelänge, großflächig und zeitnah Beeinträchtigungen durch Übernutzung, Zerschneidung, Drainage, Nährstoff- und Pestizideintrag in und um diese wertvollen natürlichen Senken einzudämmen, blieben die eskalierenden Folgen des voranschreitenden Klimawandels: Die seit 2018 herrschende Dürre, Extremwettereignisse, Veränderungen von Temperatur- und Niederschlagsmustern sowie bereits erkennbare und erwartbare Veränderungen der Artenzusammensetzung und ökosystemarer Beziehungen. Das Phänomen des Biodiversitätsverlustes zeichnet sich gerade nicht durch einen monokausalen Ursachen-Wirkungszusammenhang aus, sondern wird durch den kumulativen Effekt einer Vielzahl an Faktoren  verursacht.

Umgekehrt bedeutet das aber: Effektiver Klimaschutz ist auch zwingende Voraussetzung für effektiven Biodiversitätsschutz. Die nun vorgelegten Ergebnisse des Koalitionsausschusses tragen dem Erkenntnisstand nicht Rechnung. Das am 29. März durch das Kabinett verabschiedete Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz (ANK) ist ein erster Schritt, muss aber nun auch rasch und verbindlich umgesetzt werden. Dafür müssen insbesondere auch die rechtlichen Weichen für effektive Renaturierung gestellt werden.

Effektivierung des Naturschutzes durch Stärkung der grünen Infrastruktur?

Bis hierhin warten die Beschlüsse des Koalitionsausschusses also überwiegend mit Lärm auf. Wo bleibt die Nachtigall? Die Beschlüsse sehen unter Punkt III eine „Beschleunigung und Effektivierung des Naturschutzes“ vor. Wir lauschen: Robert Habeck spricht bei Markus Lanz von „Umweltpfützen“, denen er große „Naturnetze“ gegenüberstellt. Umwelt- und Naturschutzvorhaben sollen in Zukunft insbesondere mit Blick auf Ausgleichsflächen vernetzt gedacht werden. Wenn das geschickt umgesetzt wird, könnten damit tatsächlich der Nutzungskonflikt zwischen Naturschutz und dem Ausbau der für die Klimatransformation nötigen Infrastruktur entschärft und großräumig arrondierte Gebiete geschaffen werden. „Grüne Infrastruktur“ als Pendant zur grauen. Die Idee großräumig vernetzten flächenbezogenen Naturschutzes ist nicht neu, sie liegt unter anderem der Schaffung des Netzwerkes „Natura 2000“ durch die FFH-RL und dem Bundeskonzept Grüne Infrastruktur zugrunde und bedeutet, den Naturschutz neu und ganzheitlich zu denken. Bislang hapert es allerdings an der Umsetzung. Ein Blick auf die Karte zeigt, wie kleinräumig zerstückelt und wenig kohärent das Netzwerk Natura 2000 in weiten Teilen Deutschlands ist. Hinzu kommt, dass Schutzgebiete häufig unzureichend erhalten und bewirtschaftet, und in der Sache übernutzt werden. Das liegt sowohl an mangelnder rechtlicher Sicherung und zahlreichen Ausnahmemöglichkeiten als auch an fehlenden finanziellen und personellen Mitteln der Naturschutzverwaltung. Für die Biodiversität in Deutschland hat das negative Folgen. Nachtigallen mögen sich auch in der Großstadt wohlfühlen; aber viele Arten benötigen große, zusammenhängende und möglichst unbeeinträchtigte Rückzugsgebiete und – erst recht unter den Bedingungen der Klimakrise – auch die Möglichkeit zu wandern.

Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass die Koalition sich dieses Problems nun annehmen will. Wir hoffen, dass sie dabei nicht nur die Beschleunigung der grauen Infrastruktur im Blick hat, sondern vor allem die Grünen Netze für die Biodiversität und die Umsetzung der völkerrechtlichen Übereinkommen. Sinnvoll ist, dass durch ein Flächenbedarfsgesetz die Möglichkeit geschaffen werden soll, einen zusammenhängenden, länderübergreifenden Biotopverbund als Vorrangfläche zu definieren. Aber an der Umsetzung darf wieder gezweifelt werden: So soll nur „geprüft werden“, wie das bestehende naturschutzrechtliche Vorkaufsrecht (§ 66 BNatSchG) ausgeweitet werden kann – unter Wahrung der bestehenden Nutzungsinteressen. Möglicherweise kann eine sinnvoll ausgearbeitete Ausweitung einige Verbesserungen bringen; echte Durchsetzungskraft bekäme das Naturschutzrecht allerdings erst durch eine effektive Einschränkung der Nutzungen und klare Enteignungs- bzw. Entschädigungsmöglichkeiten.

Nachbesserungsbedarf bei Realkompensation und Flächensicherung

Statt neuer Instrumente droht dem Naturschutzrecht nach dem Koalitionsgipfel aber sogar der Verlust wichtiger Hebel, denn im allgemeinen Beschleunigungsfieber möchte die Regierungskoalition an der zentralen Stellschraube des Flächenausgleichs drehen. Das Papier stellt korrekt fest, dass das aktuell vorherrschende Prinzip der Realkompensation (Beeinträchtigungen von Funktionen des Naturhaushaltes werden so weit wie möglich gleichartig ausgeglichen oder gleichwertig ersetzt, vgl. § 13 S. 2 BNatSchG) bislang nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat. „Der reale Ausgleich findet derzeit oftmals in kleinteiligen und unzusammenhängenden Flächen mit wenig Wert für den Erhalt der Biodiversität statt. Bei Ersatzgeldzahlungen werden die Mittel häufig spät und unsystematisch verausgabt.“ Zudem, so Robert Habeck im Gespräch mit Markus Lanz, sei es für Vorhabenträger aufwendig, geeignete Flächen suchen zu müssen. Deshalb wird vermehrt auf finanzielle Kompensation und zentral gesteuerte Flächensicherung durch eine neue Organisationseinheit im Geschäftsbereich des BMUV gesetzt. Dies soll auch besseres Monitoring und eine zielgerichtetere Verwendung der Finanzmittel ermöglichen. Die Idee hat zwar Potenzial und ist im Übrigen auch nicht ganz neu. Der Teufel steckt aber auch hier im Detail. Aufgrund der überwiegenden Länderzuständigkeit und weil hier viele Interessen unter einen Hut gebracht werden müssen, wird die praktische Ausgestaltung nicht einfach werden.

Wenn viele Interessen zusammengebracht werden müssen, braucht man normalerweise viel Zeit. Zwar sieht der Vorschlag vor, dass in einem ersten Schritt Qualität und Quantität der bestehenden, benötigten und möglichen Kompensationsflächen erfasst werden sollen. Daraus ergibt sich aber unmittelbar die Frage: Durch wen? Zunächst wäre eine neue Bundesinstitution zu schaffen. Bis sie effektiv ihre Arbeit aufnimmt, würde viel Zeit vergehen. Die Erfassung wäre grundsätzlich auch in Länderzuständigkeit möglich und auch sinnvoll, allerdings erschweren unzureichendes Monitoring und eine daraus resultierende schlechte Datengrundlage für viele Arten und Lebensräume den Naturschutz nicht erst seit gestern. Diese Defizite aufzuholen würde eine konzertierte Anstrengung, Zeit, Geld, zusätzliches Personal (woher nehmen?) und möglicherweise zusätzliche Gesetzesänderungen erfordern. Zugleich aber will sich die Bundesregierung auf EU-Ebene für eine Verlängerung der NotfallVO einsetzen, die für einen begrenzten Zeitraum erhebliche Erleichterungen bei der UVP und artenschutzrechtlichen Prüfung für bestimmte Infrastrukturvorhaben vorsieht. Es droht also folgendes Szenario: Dem Naturschutzrecht wird der Zahn der Realkompensation, die nach Auffassung vieler Naturschutzexpert*innen die am besten geeignete Ausgleichsoption darstellt, durch die vermehrte Ermöglichung finanzieller Kompensationen gezogen, ohne dass bereits eine effektive Flächensicherung gewährleistet ist. Und das Ganze käme nicht nur dem – auch unter dem Aspekt des Biodiversitätsschutzes eminent wichtigen – Klimaschutz, sondern auch dem Ausbau von Autobahnen zugute. Denn das Papier unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Beschleunigung durch finanzielle Kompensation zugunsten des Ausbaus erneuerbarer Energien und zugunsten des Ausbaus sonstiger – auch klimaschädlicher – Infrastruktur. Der Ausbau der grauen Infrastruktur ginge in diesem Fall noch stärker als bisher auf Kosten der grünen.

Auch Biodiversitätsschutz ist Freiheitsschutz

Es ist daher Vorsicht geboten, dass der Koalitionsbeschluss neben dem klimapolitischen nicht auch noch einen naturschutzrechtlichen Rückschritt bewirkt. Dass Biodiversitätsschutz und Klimaschutz gemeinsam gedacht werden müssen, wurde in letzter Zeit immer wieder betont, auch seitens der Politik. Biodiversität in allen drei Dimensionen der Biodiversitätskonvention – Artenvielfalt, genetische Vielfalt und Vielfalt der Ökosysteme – ist existentielle Voraussetzung für menschliches Überleben. Es gilt jetzt, diese Erkenntnis endlich auch rechtlich angemessen umzusetzen, damit der Schutz der Biodiversität nicht weiterhin im Getöse des Streits über Klimaschutz und Beschleunigung untergeht wie der Gesang der Nachtigall im Großstadtlärm. Die im Beschluss skizzierte Neufassung des Naturschutzrechtes kann bei beherzter Umsetzung erste Schritte zu einem effektiven Biodiversitätsschutz markieren. Darüber hinaus braucht es weitere Instrumente.

Vielleicht gibt es Menschen, die der Meinung sind, dass man auf bedrohte Arten wie die Bekassine, den Luchs, die Wasserfalle verzichten kann, solange die Energieversorgung und die freie Fahrt auf deutschen Autobahnen gesichert sind. Das mag am Stammtisch funktionieren, aber läuft grundlegenden Wertungen des Grundgesetzes zuwider. In der Logik des Klimabeschlusses des BVerfG formuliert: Rauben wir den kommenden Generationen nicht auch elementare Freiheit, wenn wir die Vielfalt der Natur weiter zerstören und ihnen damit die Möglichkeit verwehren, in vollem Umfang von den überlebenswichtigen Leistungen intakter Ökosysteme zu profitieren?