17 February 2025

Vielfalt am Rande

Vorwahlberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk dürfen wir ein Programm erwarten, das die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit achtet und Themen- und Meinungsvielfalt möglichst breit und ausgewogen darstellt – so zumindest verlangt es § 26 Abs. 2 S. 2 MStV. Doch kann ein Sendungsformat, das als „Wahlarena“ gebrandet und kurz vor der Bundestagswahl 2025 ausgestrahlt wird, jedoch nur bestimmte Parteien berücksichtigt, diesem Vielfaltsgedanken Rechnung tragen? Ja, sagt das OVG NRW – nein, sagt der VGH Baden-Württemberg.

Diskussionsformate in der Vorwahlberichterstattung

Zur Sache: In beiden Fällen hatte das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) dagegen geklagt, dass die „Wahlarenen“, einmal des WDR und zweimal des SWR, sie nicht berücksichtigten. Trotz bestehender Programmfreiheit der Anstalten aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG ergibt sich ein Anspruch der Parteien auf Berücksichtigung im Vorwahlprogramm der Sender aus ihrem Recht auf Chancengleichheit gem. Art. 3 Abs. 1, 3 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG. Danach können alle zur Wahl zugelassenen Parteien von den Anstalten verlangen, nach Maßgabe ihrer Bedeutung im Gesamtprogramm berücksichtigt zu werden (abgestufte Chancengleichheit, grundlegend BVerfGE 14, 121 [136 f.], bestätigend BVerfGE 34, 160 [163 f.]; 48, 271 [277]). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat demnach allen Parteien ein faires Podium zu bieten, von dem aus sie mit den Wählerinnen und Wählern in den Austausch kommen und für ihre Positionen werben können. Aufgrund ihrer Reichweite sind es insbesondere die Diskussionsformate, die für die Parteien von besonderem Interesse sind. Zur Einordnung: Das Kanzlerduell zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz in ARD und ZDF am 09.02.2025 verfolgten allein 12 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer live im TV. Wer in den Diskussionssendungen dabei ist, hat einen entscheidenden Vorteil an der Wahlurne. Hiervon geht offenkundig auch der VGH Baden-Württemberg in seiner Entscheidung v. 06.02.2025 aus. Aufgrund der Bedeutung der Diskussionsformate kann einer Partei ein Anspruch zustehen, zu einem dieser Formate eingeladen zu werden.

Ob eine Klage auf Einladung Erfolg hat, hängt entscheidend vom konkreten Sendekonzept ab, das die Anstalten im Wege ihrer Programmfreiheit ihrem Format zugrunde legen dürfen. Das Gericht prüft, ob das einzelne Konzept das Recht der Chancengleichheit der klagenden Partei nach Maßgabe ihrer Bedeutung wahrt. Die Bedeutung der Partei wird anhand eines Kriterienkatalogs bestimmt, den das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat. Als Kriterien, die grundsätzlich kumulativ anzuwenden sind, werden neben den Umfrageergebnissen (so erstmalig in BVerfG, NJW 2002, 2939 [2939 f.]) auch die vorhergehenden Wahlergebnisse der Partei, die Zeitdauer ihres Bestehens, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahl, der Umfang und Ausbau ihres Organisationsnetzes, ihre Vertretung in Landesparlamenten und im Bundestag und ihre Beteiligung an Regierungen in Bund oder Ländern (vgl. BVerfGE 14, 121 [137]) berücksichtigt. Im vergangenen Jahr hat sich zudem eine Rechtsprechungslinie herausgebildet, die Umfrageergebnisse bei der Bewertung besonders hervorhebt bzw. als alleinige Grundlage akzeptiert (zur Kritik an dieser Rechtsprechungslinie bereits Trappmann).

Eine neue Rechtsprechungslinie setzt sich fort

Im Fall vor dem OVG NRW trug der WDR vor, zu seiner Wahlarena nur die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten der Parteien eingeladen zu haben, die deutlich zweistellige Umfragewerte aufweisen. Die aufgrund dieses Kriteriums eingeladenen Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne und AfD) hätten dadurch aus Sicht des Senders eine reale zahlenbasierte Chance, aus der Wahl zwar nicht zwingend als stärkste Kraft hervorzugehen, wohl aber zumindest stärkste Kraft in einer Regierung zu werden und den nächsten Kanzler zu stellen. Das BSW erfülle dieses Kriterium nicht. Das OVG NRW verneinte mit Entscheidung vom 14.02.2025, dass dieses Konzept gegen das Recht auf Chancengleichheit des BSW verstoße und führt zur Begründung im Wesentlichen aus, dass dem BSW gegenwärtig keine den eingeladenen Parteien vergleichbare Bedeutung zukomme. Seiner Bedeutung entsprechend sei das Bündnis im Gesamtprogramm der Anstalt ferner hinreichend berücksichtigt. In der Vorinstanz merkte das VG Köln zusätzlich an, dass allein die eingeladenen Parteien Umfragewerte aufwiesen, die es rechtfertigen, von einer „Chance“ auf eine künftige Kanzlerschaft auszugehen. Kleinere Parteien mit einem deutlich niedrigeren Ausgangsniveau kämpften hingegen primär darum, überhaupt in den Bundestag einzuziehen.

Anders entschied der VGH Baden-Württemberg über die ausgebliebene Einladung des BSW zur „Wahlarena Baden-Württemberg“ bzw. „Wahlarena Rheinland-Pfalz“ durch den SWR – Formate, in denen gleichzeitig aus Mainz und Stuttgart im dritten Fernsehprogramm der Anstalt die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten der Landeslisten für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz von CDU, SPD, AfD, Grünen und FDP miteinander ins Gespräch kommen sollen. Die Entscheidung stützt das Gericht in erster Linie auf die divergente Behandlung von BSW und FDP, die in den Vorwahlumfragen in den vergangenen Monaten in etwa gleichauf lagen. „Würde das BSW nicht beteiligt, bestehe die Gefahr einer nachhaltigen Verschlechterung seiner Wahlchancen, welche auch nicht durch die Berücksichtigung des BSW in der sonstigen Vorwahlberichterstattung des SWR ausgeglichen werde“, so der VGH.

Betrachtet man die beiden Entscheidungen einzeln, so wird vor allem deutlich, dass sie die Rechtsprechungslinie aus dem vergangenen Jahr fortsetzen. Beide Gerichte bemessen die Bedeutung der Partei lediglich anhand ihrer Umfrageergebnisse. Ob der Kriterienkatalog des Bundesverfassungsgerichts damit schrittweise dauerhaft zusammengestrichen wird, lässt sich – auch mit Blick auf den heutigen Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts – bisweilen noch nicht beurteilen. Denn einerseits begründet das Bundesverfassungsgericht die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde des BSW gegen Nichteinladung und Urteile bzgl. des WDR allein mit dem unzureichenden Sachvortrag der Beschwerdeführerin und lässt sich mithin nicht zur gerichtlichen Bedeutungsbewertung der Partei ein. Andererseits wurde die klagende Partei, das BSW, erst 2024 gegründet, sodass zumindest vorherige Wahlergebnisse auf Bundesebene schlichtweg noch nicht verfügbar sind. Es ist mithin mangels Sachbezugs nach wie vor nicht entschieden, ob die Umfrageergebnisse der neugegründeten Partei allein ein „gleichauf“ mit der vormaligen Regierungspartei, der FDP, tatsächlich zu rechtfertigen vermögen. Auch lässt sich das Gericht nicht zu der Frage ein, inwiefern die vom WDR dargelegte Korrelation – über 10% in den Umfragen und der Chance, als stärkste Kraft die nächste Regierung anzuführen – tatsächlich besteht.

Eine in sich chancengerechte Sendung ergibt noch kein chancengleiches Programm

Insgesamt führt die uneinheitliche Rechtsprechung dazu, dass ein Gesamtprogramm bestehen bleibt, in dem die Vielfalt der Parteienlandschaft vorrangig in Diskussionsformaten des Randprogramms abgebildet wird. So treffen die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten der umfragestarken Parteien in den öffentlich-rechtlichen Programmen in den letzten zwei Wochen vor der Wahl insgesamt zwei- (Merz, Scholz, Habeck und Weidel) bis dreimal (Merz und Scholz) im Hauptprogramm aufeinander. Einen gesonderten „Vierkampf der kleinen Parteien“ veranstaltet die ARD jedoch nur einmal und das zu einem wenig populären Sendezeitpunkt. Denn die ARD präsentierte die Runde ausgerechnet am Abend nach dem „Kanzlerduell“, einem Montagabend um 21.15 Uhr. Selbst für ein politisch interessiertes Publikum dürfte dieses „Schlag auf Schlag“ der Diskussionsveranstaltungen schwere Kost darstellen, weshalb – unabhängig von den eingeladenen Gästen – insbesondere außerhalb der Primetime von vorherein mit geringeren Einschaltquoten zu rechnen war. Die diesbezüglichen Zahlen wurden bislang noch nicht veröffentlicht. Eine vollständige Runde aller Parteien, die in den neuen Bundestag einziehen könnten, zeigen ARD und ZDF drei Tage vor der Wahl in der „Schlussrunde“, die in beiden Sendern um 22 Uhr ausgestrahlt wird. Ein weiteres Aufeinandertreffen dieser großen Runde bleibt dem regionalen Publikum vorbehalten. Durch dieses Gesamtprogramm sind folglich diejenigen Parteien, die – wie das VG Köln formuliert – primär darum kämpfen, überhaupt in den Bundestag einzuziehen, auf Randprogramm und Regionalfenster verwiesen.

Dieses Ergebnis bietet Anlass, darüber nachzudenken, ob eine allein sendungszentrierte Entscheidung über die Wahrung des Rechts auf Chancengleichheit der Parteien tatsächlich sachgerecht ist oder ob die Gerichte neben dem einzelnen Sendekonzept auch einen Blick auf das Gesamtkonzept werfen müssten. Diese Idee ist nicht völlig neu. Bereits im vergangenen Jahr ging das OVG Berlin-Brandenburg ausführlich auf das Gesamtprogramm zur Vorwahlberichterstattung des damaligen Beschwerdegegners, des RBB, ein (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2024 – OVG 3 S 103/24, GRUR-RS 2024, 23971 Rn. 12 ff.). Auch das OVG NRW und der VGH Baden-Württemberg deuten diese erweiterte Perspektive an (s.o.). Das OVG Berlin-Brandenburg zieht als Gesamtprogramm jedoch alle Formate der Vorwahlberichterstattung heran und differenziert beispielsweise nicht zwischen Interview- und Diskussionsformaten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2024 – OVG 3 S 103/24, GRUR-RS 2024, 23971 Rn. 13). Da die Diskussionsformate für die Wahlentscheidung eine besondere Bedeutung haben, ist dieser Prüfungsmodus jedoch zu pauschal.

Reicht ein Blick auf das Gesamtprogramm in der Regel aus, um dem Gebot der Vielfaltsicherung gerecht zu werden, an dem sich das Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks generell zu orientieren hat (den Bezug zum Gesamtprogramm stellt bereits BVerfGE 12, 205 [262 f.] her), so gilt dies für die Vorwahlberichterstattung nicht. Denn das Recht auf Chancengleichheit der Parteien verengt dieses Vielfaltsbedürfnis von genereller Ausgewogenheit auf Chancengerechtigkeit. Wird also allgemein lediglich verlangt, dass die Anstalten ein Programm anbieten, in dem alle in Betracht kommenden gesellschaftlichen Kräfte zu Wort kommen und ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleistet wird (vgl. BVerfGE 12, 205 [262 f.]), so ist es mit einem „Zu-Wort-Kommen“ aller Parteien in der Vorwahlberichterstattung nicht getan. Vielmehr muss das Sendekonzept zur Vorwahlberichterstattung darauf ausgelegt sein, dass keine zur Wahl zugelassene Partei durch die Berichterstattung eine „Verschlechterung ihrer Wahlchancen“ zu befürchten hat (vgl. einmal mehr VGH Baden-Württemberg). Ein Programm, das einer Partei zwar ihrer Bedeutung entsprechend Sendezeit gewährt, diese jedoch nur außerhalb von Diskussionsformaten berücksichtigt oder lediglich auf das Randprogramm verweist, wahrt diesen Standard jedoch auch dann nicht, wenn das einzelne Sendekonzept in sich das Recht auf Chancengleichheit eben jener Partei achtet. Dementsprechend müsste sich auch ein Sendekonzept, das aus sich heraus zwar plausibel ist, hinterfragen lassen, wenn es zu einem Gesamtprogramm führt, in dem Perspektivenvielfalt nicht Leitgedanke, sondern Randerscheinung ist (für eine Erweiterung der Perspektiven plädiert in Bezug auf Duellformate bereits Mahmalat).

Mit Blick auf das Recht der Chancengleichheit der Parteien wäre den Gerichten anzuraten, zu prüfen, ob die Diskussionsformate als solche ausgewogen sind. Eine in sich chancengleiche Sendung allein ergibt jedenfalls noch kein die Chancengleichheit wahrendes Programm. In der Sache ist mithin grundsätzlich dem VGH Baden-Württemberg zuzustimmen – selbst wenn diesem lediglich die Entscheidungsbefugnis über ein Regionalfenster zukam.


SUGGESTED CITATION  Trappmann, Madeline: Vielfalt am Rande: Vorwahlberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, VerfBlog, 2025/2/17, https://verfassungsblog.de/vielfalt-am-rande/, DOI: 10.59704/aba750445f94b5b3.

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