Voller Rechtsschutz! Abschiebungen sind auch nach verweigertem Eilrechtsschutz europarechtswidrig
Am 26. November 2018 fand im Bundestag die Anhörung zum Gesetzentwurf zur Einstufung Georgiens, der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten statt. Die Grundlage hierfür bietet Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG. Ein wichtiges Ziel der Einstufung von bestimmten Ländern als sichere Herkunftsstaaten ist es daher, „im Falle der Ablehnung des Antrags als offensichtlich unbegründet den Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland schneller zu beenden.“ Kommt eine Person aus einem sicheren Herkunftsstaat ist unter anderem der gerichtliche Rechtsschutz nach einer Ablehnung des Asylantrages durch das BAMF schwächer ausgestaltet, da der Antrag gem. § 29a Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist. Hier bildet Art. 16a Abs. 4 GG die verfassungsrechtliche Grundlage. Klage- und Ausreisefrist verkürzen sich nach den Regelungen des AsylG auf eine Woche und die Klage hat keine aufschiebende Wirkung. Der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO muss ebenfalls innerhalb einer Woche beantragt werden und das Gericht soll darüber innerhalb einer Woche entscheiden. Das Gericht ist gehalten („soll“) im schriftlichen Verfahren zu entscheiden und eine mündliche Verhandlung, in der zugleich über die Klage verhandelt wird, ist unzulässig (§ 36 Abs. 3 S. 4 AsylG). Das Gesetz enthält zudem die Anweisung, dass die Abschiebung nur ausgesetzt werden darf, „wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen“ (§ 36 Abs. 4 S. 1 AsylG). Das bedeutet, dass die Gerichte im Wege der im einstweiligen Rechtsschutz einzig möglichen summarischen Prüfung innerhalb einer Woche (§ 36 Abs. 3 S. 5 AsylG) zu entscheiden haben, ob erhebliche Gründe für die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung (vgl. auch Art. 16a Abs. 4 GG) bestehen. Für die Grundlage des Rechtsschutzes im Grundgesetz (Art. 19 Abs. 4 GG) hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1996 (BVerfGE 94, 166) festgehalten, dass der Rechtsschutz auch in den Fällen der offensichtlichen Unbegründetheit ausreichend gewährleistet ist. Das BVerfG betont, dass Art. 16a Abs. 4 GG „das im Asylgrundrecht wurzelnde Recht des Asylbewerbers, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über sein Asylbegehren in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben, ein Stück weit zurück“ nimmt (Rn. 91).
Dieser gerichtliche Rechtschutz genügt allerdings den Vorgaben des Europarechts nicht, wie drei Entscheidungen des EuGH aus diesem Jahr deutlich machen. Die Rechtsschutzmöglichkeiten müssten an die europarechtlichen Vorgaben angepasst werden, mit der Konsequenz, dass ein Vollzug der Abschiebung immer erst nach Abschluss des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens erfolgen darf, unabhängig davon, ob der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde oder nicht.
Den grundsätzlichen Reformbedarf beim asylrechtlichen Rechtsschutz hat Reinhard Marx auf diesem Blog ausführlich dargestellt, daher sollen hier nur auf die Besonderheiten des Eilrechtsschutzverfahrens eingegangen werden.
Europarechtliche Vorgaben für einen wirksamen Rechtsbehelf
Durch die Europäisierung des asylrechtlichen Schutzes im Zuge der Verwirklichung des sog. Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sind nunmehr für die Asylverfahren die europarechtlichen Grundlagen vorrangig zu berücksichtigen. In zwei grundlegenden Entscheidungen hat der EuGH sich in diesem Jahr zur Wirksamkeit des asylrechtlichen Rechtsschutzes und den diesbezüglichen Vorgaben von Art. 47 der Grundrechtecharta der EU (GRC) geäußert. In diesen beiden Verfahren (Gnandi sowie X und Y) ging es im Wesentlichen darum, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, in einem Verfahren, in dem das Recht auf Asyl (Art. 18 AsylG) und das Refoulement-Verbot (Art. 19 Abs. 2 GRC) geprüft werden, nur gewahrt ist, wenn bis zur erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidung alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung ausgesetzt sind. In einer weiteren Entscheidung (C u. a.) betont der Gerichtshof, dass auch bei einer Ablehnung des Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ dieselben Anforderungen an einen wirksamen Rechtsbehelf zu stellen sind.
Trennung zwischen Asylentscheidung und Rückkehrentscheidung
Die Ablehnung des Antrages auf Gewährung von internationalem Schutz und die damit gegebenenfalls verbundene Verpflichtung, das Land zu verlassen, stellen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zwei unterschiedliche Entscheidungen dar, nämlich eine ablehnende Asylentscheidung nach der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU– AsylVerfRL) und eine Rückkehrentscheidung nach der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Dies bedeutet, dass auch das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf separat für beide Verfahrensteile zu beurteilen ist.
Der EuGH hat in sehr klarer Weise ausgeführt, dass ein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung nur dann vorliegt, wenn die Person die Möglichkeit hat, einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung einzulegen und in der Folge bis zur gerichtlichen Entscheidung alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung ausgesetzt sind, sofern ein solcher Rechtsbehelf eingelegt wurde (Gnandi, Rn. 54 ff.; X und Y, Rn. 28 f.).
Der Gerichtshof hält zudem in Gnandi fest (Rn. 61 ff.), dass das Gericht vor der Vollziehbarkeit einer Rückkehrentscheidung umfassend prüfen muss, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 19 Abs. 2 GRC (Refoulement-Verbot) besteht.
Bereits im Jahr 2015 im Urteil Tall hatte der EuGH diesbezüglich entschieden, dass das Fehlen einer aufschiebenden Wirkung in einem asylrechtlichen Verfahren, das nicht zu einer Abschiebung führen kann, rechtlich unproblematisch ist (Rn. 56). Gegen eine Rückkehrentscheidung muss jedoch ein Rechtsbehelf gem. Art. 13 der Rückführungsrichtlinie mit aufschiebender Wirkung gegeben sein (Rn. 57), wenn die Person geltend macht, dass ein Rückschiebungsverbot besteht. Der EuGH stellt für letztere Fallkonstellation keine materiellen oder prozessualen Hürden auf. Der Antragsteller muss das Vorliegen eines Rückschiebungsverbots demnach also nicht glaubhaft vortragen. Vielmehr muss die betroffene Person lediglich „die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung“ geltend machen. Die Prüfung der Frage, ob die materiellen Voraussetzungen der Schutzgewährung vorliegen, ist dann dem gerichtlichen Hauptsacheverfahren vorbehalten. Vor dem Ende dieses erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens darf die Rückkehrentscheidung keine Wirkung entfalten, also insbesondere auch keine Ausreiseverpflichtung begründen. Diese Trennung hat der EuGH in Gnandi bestätigt, indem er die Notwendigkeit eines umfassend zu prüfenden Rechtsbehelfs nur auf eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 6 RückführungsRL bezogen hat (Rn. 67 f.).
Die Vorgaben des § 36 AsylG genügen diesen Anforderungen nicht, da lediglich eine summarische Prüfung vorgesehen ist, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung bestehen, bevor die Abschiebung vollziehbar ist.
Besonderheiten des Eilrechtsschutzverfahrens bei offensichtlicher Unbegründetheit?
Als Begründung, warum die in § 36 AsylG enthaltenen Regelungen, im Falle einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, dennoch ausreichen sollen, um den europarechtlichen Vorgaben für den gerichtlichen Rechtschutz zu genügen, wird zumeist auf Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL verwiesen. Das Argument ist, dass das deutsche Recht – wie durch Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL ermöglicht – vorsieht, dass durch eine Entscheidung, den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, „das Recht auf Verbleib“ beendet wird, so dass in diesem Fall der Eilrechtsschutz ausreicht, um das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten.
Diese Ansicht ist stark von der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (BVerfGE 94, 166 und 67, 43) zu den Gewährleistungen von Art. 19 Abs. 4 GG bei einem „Offensichtlichkeitsurteil“ geprägt. Sie übersieht, neben der strikten Trennung zwischen Asyl- und Rückkehrentscheidung, zwei entscheidende Faktoren der Rechtsprechung des EuGH, nämlich das Recht auf umfassende Prüfung des Rechtsbehelfs vor der Abschiebung und dass es einen Unterscheid zwischen dem Recht auf Verbleib nach der AsylVerfRL und dem Bleiberecht bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung im Falle einer Rückkehrentscheidung nach der RückführungsRL gibt.
Recht auf umfassende Prüfung vor Abschiebung
Der EuGH hat in Gnandi festgehalten (Rn. 61), dass bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind, wenn ein solcher eingelegt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Frist zur freiwilligen Ausreise nicht zu laufen beginnt und dass die Person in dieser Zeit nicht zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung inhaftiert werden darf (Rn. 62). Die gerichtliche Prüfung des eingelegten Rechtsbehelfs muss umfassend sein und den Grundsatz der Waffengleichheit wahren, was bedeutet, dass die Person auch jegliche nach der Entscheidung eingetretenen Umstände vorbringen können muss (Rn. 64). Den Grundsatz der umfassenden Prüfung vor dem Vollzug der Abschiebung betont der Gerichtshof auch in X und Y nochmals. Eine nur summarische Prüfung, ob ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vorliegen, wie sie § 36 Abs. 3 und 4 AsylG vorsieht, stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf i.S.d. Art. 47 GRC dar. Ein wirksamer Rechtsbehelf liegt nur dann vor, wenn, wie in Art. 46 Abs. 3 AsylVerfRL vorgesehen, eine umfassende ex-nunc-Prüfung, „die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt,“ vor einem erstinstanzlichen Gericht stattfindet, bevor die Abschiebung vollzogen wird.
Recht auf Verbleib nach Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL
Das Recht auf Verbleib nach Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL betrifft grundsätzlich nur die Schutzgewährung und begründet keine Ausreisepflicht (vgl. dazu schon Tall, Rn 56 f.). Das fehlende asylrechtliche Recht auf Verbleib hat also nicht den Effekt, dass damit bereits eine Verpflichtung zur Ausreise verbunden ist. Diese entsteht nur in Folge einer Rückkehrentscheidung.
Die Verbindung der beiden Entscheidungen gem. Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL führt nicht zu einem „Durchschlagen“ des Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL auf die Rückkehrentscheidung (vgl. C. u. a., Rn. 50). Der EuGH hat in Gnandi festgehalten, dass auch bei einer Verbindung der ablehnenden Asylentscheidung mit der Rückkehrentscheidung die Wirkungen der Rückkehrentscheidung bis zum Ende des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens ausgesetzt werden müssen (Rn. 64).
Das asylrechtliche Recht auf Verbleib gem. Art. 9 AsylVerfRL kann also entfallen, ohne dass dadurch eine Ausreisepflicht begründet wird. Es ist europarechtlich unproblematisch, einen Asylantrag ohne Rückkehrentscheidung abzulehnen (wie dies bei der Feststellung von Abschiebungsverboten regelmäßig geschieht) oder die beiden Entscheidungen (wie im Vorlagefall in Belgien) voneinander zu trennen. Ein fehlendes asylrechtliches Recht auf Verbleib während des Klageverfahrens hat ausschließlich die Wirkung, dass der Zugang zu Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) ausgeschlossen ist.
Im Beschluss in der Rechtssache C u. a. vom 5. Juli 2018 stellt der EuGH diese Wirkungen nochmals klar (Rn. 50): „[…] die Mitgliedstaaten haben zu gewährleisten […], dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, so dass […] bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind.“ Die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet kann in diesen Fällen nur bewirken, dass die Personen „kein volles Bleiberecht“ mehr haben (Rn. 52 f.), dadurch wird aber noch keine Abschiebung ermöglicht.
Konsequenzen für die asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren
Das deutsche Eilrechtsschutzverfahren in Asylsachen ist damit zwar nicht europarechtswidrig, der Vollzug der Abschiebung in Folge eines Eilrechtsbeschlusses nach § 36 Abs. 3, 4 AsylG indessen schon.
Da die Rückkehrentscheidung (und nicht die asylrechtliche Entscheidung) die Ausreisepflicht begründet und diese nach der Rechtsprechung des EuGH bis zum Ende des Gerichtsverfahrens keine Wirkung haben darf, ist ein vorheriger Vollzug der Abschiebung ausgeschlossen. Eine Teilrücknahme des „Recht des Asylbewerbers, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über sein Asylbegehren in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben,“ wie es das Bundesverfassungsgericht 1996 (BVerfGE 94, 166, Rn. 91 ff.) aufgrund einer Interessenabwägung für verfassungsrechtlich zulässig gehalten hat, kennt das EU-Recht nicht.
Bis der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Umsetzung der europarechtlichen Standards im Bereich des asylrechtlichen Rechtsschutzes nachgekommen ist, ist es angezeigt, in allen Klageverfahren nach § 36 AsylG, in denen ein Grund für eine Schutzgewährung geltend gemacht wird, automatisch die aufschiebende Wirkung bis zum Ende des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens (und nicht (nur) bis zum Ende des Eilverfahrens) herzustellen. Die Behörden sind gehalten, die Asylsuchenden auf diese Möglichkeit hinzuweisen, da eine umfassende Informationspflicht über die Rechte im Klageverfahren besteht (vgl. Gnandi, Rn. 65).
Auch bei der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist somit der Ausgang des erstinstanzlichen Klageverfahrens abzuwarten, bevor die Abschiebung vollzogen werden darf. Diese Lösung ist europarechtlich zwingend. Nicht zwingend ist ein Bleiberecht bis zur Bestandskraft, da das Europarecht nur eine volle Überprüfung mit Bleiberecht fordert, wie der EuGH in X und Y klargestellt hat. Die Gerichte müssen also in Klageverfahren gegen Asylentscheidungen wieder anfangen, schnell und umfassend über die Klage zu entscheiden und den Fokus auf eine umfassende Prüfung des Bescheids zu legen, da erst nach Abschluss der ersten gerichtlichen Instanz eine Abschiebung vollzogen werden darf.
Mir erscheint der EuGH in C & a, Rn. 53 ff. das Gegenteil entschieden zu haben. Der EuGH leitet zwar in Rn. 52 mit “das gleiche gilt” ein, schränkt diese Aussage aber in der Folge massiv ein – insbesondere gilt sein Verbot der Abschiebehaft gerade nicht – wie hier insinuiert – bis zum Abschluss des Klageverfahrens, sondern nur bis zum Abschluss des Eilrechtsschutzverfahrens (soweit dieses nicht erfolgreich ist).
Der EuGH schafft es zwar, diese – normsystematisch alleine sinnvolle – Aussage maximal zu verklausulieren; im Ergebnis scheint mir das aber recht eindeutig zu sein.
An den geneigten Leser,
ich gestatte mir mal die gesamten Ausführungen in ihrem Inhalt und ihren Konsequenzen einfach und sofort eingängig in Drei Worten zusammen zu fassen:
Realitätsfern, Lebensuntauglich, Zukunftslos
Mit besten Grüßen