23 June 2020

Von Auserwählten und Systemrelevanten

Zur politischen Theologie der Pandemie

Stephan Lessenich hat argumentiert, eine Erkenntnis der „Coronifizierung des Politischen“ sei: „Souverän ist heute, wer über den Verwundbarkeitszustand entscheidet. Und das sind nicht die Verletzlichen selbst“. Anspielungen auf Carl Schmitt sind in diesen Zeiten verständlicherweise groß in Mode. Trotz der massiven und in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen Grundrechtseinschränkungen erleb(t)en wir jedoch höchstens einen Ausnahmezustand nach einer moderaten Definition (vgl. Lemke, Was heißt Ausnahmezustand?, in: Lemke (Hg.), Ausnahmezustand, Wiesbaden 2017, 1 ff.), nicht nach dem radikalen Schmittschen Begriffsverständnis: „Denn nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“ (Schmitt, Politische Theologie, 7. Aufl., München 1996, 18). Das ist glücklicherweise zumindest in Deutschland offensichtlich nicht der Fall gewesen, auch wenn manche Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker das anscheinend anders sehen.

Dieser Beitrag geht von der Annahme aus, dass Schmitts vor knapp 100 Jahren erstmals erschienenes Werk „Politische Theologie“ in Teilen eine fruchtbare analytische Hintergrundfolie bietet, um jenseits des fast schon überstrapazierten Begriffs des Ausnahmezustands zentrale Aspekte und Phänomene der „Corona-Gesellschaft“ aus einer rechtspolitologischen Perspektive besser zu beleuchten (vgl. für einen ähnlich interdisziplinären Ansatz van Ooyen, Entgrenzungen und Theorie-Defizite des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel „rechtspolitologischer“ Literatur, Recht und Politik 2017, 120 ff., 120). Dass man manche von Schmitts Kategorien oder Konzepten durchaus konstruktiv und kritisch-emanzipatorisch nutzen kann, ohne seine antiliberalen, antiparlamentarischen und antipluralistischen Einstellungen und Folgerungen zu teilen, hat beispielsweise Chantal Mouffe gezeigt.

Carl Schmitts „Politischer Theologie“ liegt wohl kein geschlossenes und systematisches Gesamtkonzept zugrunde. Dem Autor ging es aber – und das wird mitunter übersehen – nicht nur um eine dezisionistische Theorie des Ausnahmezustands, sondern maßgeblich (auch) um eine „Soziologie juristischer Begriffe“ (Schmitt 1996, 47), die auf der folgenden Prämisse beruht: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (Ebd., 43). Die folgenden Ausführungen sollen skizzieren, dass eine Anwendung bzw. Übertragung bestimmter Schmittscher Sentenzen einen wichtigen Beitrag zu einer elaborierten politischen Theologie der Pandemie liefern könnte.

Über das Sakrale in der säkularen Corona-Gesellschaft

Nach Carl Schmitt haben Theologie und Jurisprudenz jeweils „ein duplex principium, die ratio […] und die scriptura“ (Ebd., 44). Die Ratio des Coronavirus, das wie eine unsichtbare höhere Gewalt in unsere Alltagswelt und Rechtsordnung eingebrochen ist, könnte man mit Verweis auf die gesellschaftlichen Reaktionen zumindest im März und April 2020 in Anlehnung an das erste biblische Gebot folgendermaßen skizzieren: „Du sollst keine anderen Themen, Probleme oder Sorgen haben neben mir“. Dementsprechend schienen Politik und Medien in den ersten Wochen der Pandemie fast ausschließlich mit SARS-Cov-2 und seinen Folgen beschäftigt. Zur Ratio des Virus gehört damit zusammenhängend auch, andere Krankheiten nicht nur aus dem öffentlichen Bewusstsein, sondern auch real zu verdrängen – mit möglicherweise tödlichen Nebenwirkungen: So wurden etwa zeitweise in etlichen Kliniken auffallend weniger Patientinnen und Patienten mit akuten lebensbedrohlichen Leiden wie Herzinfarkten und Schlaganfällen registriert.

Das Coronavirus, eine für die Menschen mit ihren bloßen Sinnen nicht wahrnehmbare, aber potentiell tödliche Gefahr, erscheint also mitunter wie eine höhere Gewalt, das böse Schicksal oder ein sakralisiertes außerreligiöses Phänomen (vgl. Frick, Sakralisierung des Rechts, in: Anter/Frick (Hg.), Politik, Recht und Religion, Tübingen 2019, 93 ff.), welches die drastischen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung oder Besänftigung mehr oder weniger selbst diktiert. Natürlich ist René Schlott zuzustimmen: „Das Virus schließt nichts und sagt nichts ab. Es sind Entscheidungen von Verantwortungsträgern im Umgang mit dem Virus“.

Aber gerade in der Anfangsphase der Pandemie hatte es oft den Anschein, dass sich die verhängten Maßnahmen im wahrsten Sinne des Wortes aus der Natur der Sache bzw. dem „Primat der epidemiologischen Kurve“ (Schlott) selbst ergaben im Rahmen einer „evidenzbasierten Diskursherrschaft der Virologen“ (Lessenich), die Politik „degradiert zum Verlautbarungsinstrument epidemiologischer Vernunft“ (so Sebastian Huhnholz). Daraus entwickelte sich (bisher) zwar keine „Virolokratie“, aber schon bald erweckten Virologinnen und Virologen als Expertinnen und Experten, welche allein die Zeichen der höheren Gewalt oder Quasi-Gottheit Corona zu deuten wissen, den Eindruck einer neuen elitären Priesterkaste, deren Auslegungen in Zeiten der höchsten Not unbedingt zählen sollten. So wird etwa Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell mitunter so beschrieben, dass er „Tag für Tag um 14 Uhr herabsteigt zur Nation, die ihn erwartet, als sei er […] ,der Gesandte des Herrn‘, um immer dieselbe Botschaft zu überbringen: Fürchtet euch nicht!“.

Vor dem Hintergrund, dass moderne Gesellschaften staatsrechtliche Souveränität in der Regel als nicht mehr von Gott abgeleitet sehen, schrieb Carl Schmitt (1996, 50 f.) einst: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet“. In einer weitgehend säkularisierten, stark technisch und naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft scheint in der Pandemie zumindest phasenweise zu gelten: „Das Virus wird zum Gesetzgeber“ (Heribert Prantl). Mit Virologinnen und Virologen ganz oder teilweise besetzte Pressekonferenzen mutierten zeitweise zu quasi-religiösen Zeremonien, bei denen die expertokratischen Hohepriesterinnen und Hohepriester den mehr oder weniger im Corona-Glauben gefestigten Zuhörerinnen und Zuhörern neue Deutungen und Weisungen des höheren Wesens zuteil werden ließen.

Es wurde eine Fastenzeit mit drastischen Einschränkungen in vielen Lebensbereichen proklamiert bzw. offenbart, die weit über die christliche Passionszeit und den muslimischen Ramadan hinausreicht. Zu den Selbstkasteiungen, die für eine Befreiung von der bösen höheren Gewalt oder zumindest deren Beschwichtigung unabdingbar sind, gehören quasi-religiös anmutende, weitgehend der Sozialkontrolle überantwortete Rituale wie Abstand halten (Berührungsverbot), Husten- und Nies-„Etikette“, häufiges Händewaschen, das in manchen Religionen ohnehin eine wichtige Rolle spielt, sowie in Form von Mund-Nasen-Bedeckung und Handschuhen auch quasi-zeremonielle Kleidung. Das Desinfizieren der Hände beim Betreten von Kirchen kann man als Analogie zum Griff ins Weihwasserbecken deuten. Kritische Stimmen gegenüber Burka und Niqab scheinen leiser geworden zu sein in Zeiten der Pandemie.

Als „scriptura, das heißt ein Buch mit positiven Offenbarungen und Anordnungen“ (Schmitt 1996, 44) einer politischen Theologie der Pandemie, kann das Infektionsschutzgesetz bezeichnet oder interpretiert werden, ein bis Anfang des Jahres kaum beachtetes Gesetzeswerk. Zwar spricht, so Christoph Möllers, „wenig dafür, dass eine Stilllegung des gesamten öffentlichen Lebens, also ein Ende für politische Demonstrationen, Konzerte und Gottesdienste durch das ISG ermöglicht werden sollte“. Aber bereits Kurt Tucholsky (Ein Pyrenäenbuch, Berlin 1927, 167) konstatierte, dass „beide – Kirche und Rechtswissenschaft – […] stets herausinterpretieren, was sie vorher stillschweigend hineininterpretiert haben“. Da in Gestalt von Corona eine todbringende Plage biblischen Ausmaßes drohte, wurde das Infektionsschutzgesetz von der Exekutive auf nahezu allen politisch-administrativen Ebenen im Lichte der Empfehlungen und Prognosen (Weissagungen und Prophezeiungen) der Virologinnen und Virologen exzessiv ausgelegt und überdies im Eiltempo vom Bundestag mit teilweise verfassungsrechtlich fragwürdigen Inhalten wie etwa weitreichenden Ermächtigungsklauseln angereichert.

Das Virus stellt außerdem für sicher geglaubte politische Denkmuster und parteipolitische Grundsätze auf den Kopf („macht alles neu“), wenn etwa eine unionsgeführte Bundesregierung astronomische Summen in die Stützung bedrohter Wirtschaftszweige und in den Wohlfahrtsstaat pumpt. Die neue unsichtbare höhere Gewalt bezwingt zumindest vorübergehend den Mythos von der unsichtbaren Hand des freien Wettbewerbs und macht der Zivilreligion des Kapitalismus wenigstens für eine Weile etliche Gläubige abspenstig. Allerdings findet diese zum Teil fast schon sozialistisch anmutende Krisenpolitik in einem strikt „nationalfixierten Rahmen“ (Lessenich) statt und wurde mit nationalistisch anmutenden Maßnahmen wie Grenzschließungen kombiniert. Die finanziellen Opfer (Kollekte), die (für) Corona dargebracht werden, sollen offenbar möglichst im nationalen Kollektiv bleiben. So zeigte sich in der heftigen Debatte über „Corona-Bonds“ auf EU-Ebene denn auch erneut der spätestens in der europäischen Finanzkrise offenbar gewordene Grundkonflikt zwischen den eher protestantischen Staaten des Nordens und den eher katholischen Ländern Südeuropas.

Die Systemrelevanten als die Auserwählten in der Pandemie

Die wohl wichtigste Analogie in Schmitts „Politischer Theologie“ lautet: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“ (Schmitt 1996, 43). Für Stephan Lessenich ist „Vulnerabilität“ der zentrale Begriff im deutschen Corona-Diskurs. Damit weist er zurecht auf eine überwiegend von Politik und Verwaltung sozial konstruierte Einteilung oder Spaltung der pandemischen Gesellschaft hin, die auch durch „sozialpolitisch klare Hierarchisierungen“ (Lessenich) gekennzeichnet ist.

Allerdings scheint der Begriff der „Systemrelevanz“ – den bis vor kurzem noch „keiner kannte“ – zumindest in Deutschland von noch grundlegenderer Bedeutung sein: „Menschen werden in systemrelevant und nicht systemrelevant unterschieden“ (Schlott). Systemrelevanz ist mit begehrten Privilegien verbunden: Wer als systemrelevant eingestuft wird, darf trotz Corona-Pandemie etwa seinen Beruf weiterhin mehr oder weniger uneingeschränkt ausüben, darf sich freier bewegen und erhält Zugang zu knappen Gütern wie insbesondere Notbetreuungsplätzen für seine Kinder. Er oder sie entscheidet unter Umständen über den Zugang zu wichtigen Ressourcen. Privilegien und Sonderstellung sind aber auch mit möglichen Gefahren in einer vom Virus befallenen Lebenswelt sowie mit einer von der Gemeinschaft erwarteten Dienst- und Opferbereitschaft verbunden.

Die Systemrelevanten können als auch rechtlich kodifizierte Gruppe von Herausgehobenen aus der Perspektive einer Soziologie juristischer Begriffe somit analog betrachtet werden zu den Auserwählten im Religiösen, etwa den Israelitinnen und Israeliten des Alten Testaments oder den Christus-Gläubigen des Neuen Testaments. Ihnen wird besonderes Heil zuteil, allerdings nicht ohne Not und Einsatz. In Zeiten der Pandemie dürfte vor diesem Hintergrund gelten: Souverän ist, wer über Systemrelevanz entscheidet.

Krisendemokratie statt Gesundheitsdiktatur

Für Heinrich Meier (Was ist Politische Theologie?, München 2006, 15) mag politische Theologie je nachdem „für die Obrigkeit oder für die Revolution eintreten, oder sich in einer konkreten geschichtlichen Situation jeder politischen Option im engeren Sinne enthalten“. Carl Schmitt war diesbezüglich anderer Auffassung. Sich einer (radikalen) politischen Option zu enthalten oder darüber ausgiebig zu diskutieren war für ihn insbesondere in Krisenzeiten ein Zeichen der Schwäche und Unentschlossenheit, das er vor allem mit dem Liberalismus verband. Bei existentiellen Bedrohungen müssten seiner Ansicht nach umgehend und unhinterfragbar weitreichende Entscheidungen getroffen werden: „angesichts des radikal Bösen gibt es nur eine Diktatur“ (Schmitt 1996, 69).

Wenn italienische Lastwagen aufgrund überlasteter Krematorien Särge an andere Orte transportieren, Gabelstapler in New York Leichen in Kühlwagen aufschichten und das Grauen fast überall durch den Kontakt mit Menschen droht – denn „die Hölle, das sind die anderen“ (Jean-Paul Sartre) –, dann ist für manche das radikal Böse bereits bedrohlich nahe gekommen. Schmitts Lösungsansatz bei einem solchen Szenario wäre wohl die etwa von Schlott befürchtete „Gesundheitsdiktatur“. So weit ist es glücklicherweise hierzulande nicht gekommen. Nach anfänglicher Schockstarre, einstimmigen debattenlosen Eilbeschlüssen, drastischen Grundrechtsbeschränkungen und strikten Versammlungsverboten hat die deutsche Politik auf Bundes- und Landesebene inzwischen wieder zu einem mehr oder weniger pluralistischen Mit- und Gegeneinander zurückgefunden, die Diskursherrschaft der Virologinnen und Virologen zurückgedrängt und diskutiert „Behandlungsoptionen […], die sich von der Politik nicht ersetzenden Funktionslogik der Notfallmedizin emanzipieren“ (Huhnholz).

Man könnte nach einer Phase der negativen Sakralisierung des Virus von seiner anschließenden Quasi-Säkularisierung sprechen. Trotz manch autoritärer Tendenzen lehnt die mehrheitlich liberale Gesellschaft 75 Jahre nach Kriegsende in einer fundamentalen Krise bloßen Dezisionismus überwiegend ab und zeigt, „daß ihre Religion in der Rede- und Preßfreiheit liegt“ (Schmitt 1996, 66). Carl Schmitt hätte das nicht gefallen – und das ist gut so.