Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft
Es gibt Urteile, deren Tenor ist ein Paukenschlag – und es gibt Entscheidungen, die eher leise daherkommen und dennoch tektonische Machtverschiebungen bewirken. Den Anlass für ein solches Urteil bot die Steuerhinterziehung eines schwedischen Fischers, der in den nördlichen Ausläufern der Ostsee tätig ist. In der Rechtssache Åkerberg Fransson verschiebt der EuGH das Machtgefüge im Verfassungsgerichtsverbund.
Ein Verlierer ist schnell ausgemacht: Das stolze BVerfG wird den Eigenstand der bundesrepublikanischen Grundrechtsordnung nicht mehr lange durchhalten können. Ein Besuch in Bückeburg mag den Karlsruher Richtern einen Vorgeschmack auf die künftige Rolle bieten; der dortige Niedersächsische Staatsgerichtshof sammelt seit Jahrzehnten Erfahrungen mit einer Verfassungsjudikatur im Schatten eines unitarisierten Grundrechtskatalogs. In abgeschwächter Form steht dies auch Karlsruhe bevor. Wie konnte es dazu kommen? Welche Maßstäbe gelten für die Zukunft?
Ende der Ungewissheit
Wirklich überraschend kommt das Urteil nicht. Der Streit um die sachliche Reichweite des europäischen Grundrechtsschutzes schwelt seit Jahren. Früher besaß die Diskussion freilich eine weithin akademische Bedeutung, weil der EuGH die Grundrechte eher stiefmütterlich behandelte und nationale Gerichte die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze nicht wirkungsvoll anwenden konnten. Beides änderte sich freilich mit dem Lissabon-Vertrag. Seither räumt Luxemburg der rechtsverbindlichen Charta immer mehr Raum ein – und ihre Sichtbarkeit erleichtert die innerstaatliche Anwendung. Damit gewinnt die Streitfrage an Brisanz, wo der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte endet.
Klar ist, dass die Charta sich nicht nur an die EU-Organe richtet, sondern auch die Mitgliedstaaten bindet, soweit diese Unionsrecht durchführen. Doch wo genau liegt die Grenze? Die im Deutschen eher restriktive Formulierung des Artikels 51 der Charta wurde schon durch die offiziellen Erläuterungen ausgebremst, die einer restriktiven Lesart durch die Rezeption der früheren Rechtsprechung entgegenwirken. Da diese gleichfalls nicht sonnenklar war, musste Luxemburg früher oder später Position beziehen. Eben dies ist geschah nun. Bereits der Titel der Presseerklärung macht deutlich, dass die Steuerhinterziehung nur der Anlass für ein Grundsatzurteil ist.
Eindrücklich verdeutlicht der Sachverhalt den Kern des Rechtsproblems. Herr Åkerberg Fransson hatte in den Jahren 2004/05 ca. 74.000 EUR an Einkommens- und Mehrwertsteuer hinterzogen (immerhin ein deutlich höherer Betrag als die nichtbezahlte Stromrechnung des Flaminio Costa, die vor 50 Jahren den Anlass für die Entdeckung des europarechtlichen Vorrangs gab). Hierfür belegte ihn das Finanzamt zuerst mit einer Steuersanktion von rund 13.000 EUR; nunmehr sollte ein Strafverfahren wegen Steuerbetrugs folgen. Dies hielt der schwedische Fischer für ungerecht und beruft sich auf das Verbot der Doppelbestrafung nach Artikel 50 der Charta. Der EuGH wendet die Norm an.
Ihre Brisanz gewinnt dies Ergebnis durch die geringe Dichte der unionsrechtlichen Vorgaben. Nur ein Viertel der Steuerhinterziehung betraf die Mehrwertsteuer, für die EU-Vorgaben existieren. Letztere sind zwar detailliert, aber nur hinsichtlich der Berechnungsmethode. Zum Steuerbetrug sagt die Richtlinie 2006/112/EG reichlich wenig. Artikel 250 sowie Artikel 273 verpflichten die Mitgliedstaaten allgemein zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung – mehr nicht. Auch der Verweis auf den Schutz der finanziellen Unionsinteressen, weil die Mehrwertsteuer anteilig in den EU-Haushalt fließt, begründet keine klare Handlungsanweisung. Kurzum: Schweden war nicht verpflichtet, eine bestimmte Strafe vorzusehen; es besaß einen Gestaltungsspielraum als Ausfluss der „nationalen Verfahrensautonomie“.
Dennoch lässt der EuGH keine Zweifel, dass die Charta gilt. Er zitiert nicht nur seine früheren Leitentscheidungen, sondern führt unmissverständlich aus, dass die EU-Grundrechte im gesamten „Geltungsbereich des Unionsrechts“ (scope of EU law/champ d’application) zur Anwendung kommen – und zwar auch dann, wenn „die nationalen Rechtsvorschriften … nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden“. Damit steht fest: Versuche, den Anwendungsbereich der Charta bei den Grundfreiheiten oder den nationalen Gestaltungsspielräumen zurückzudrängen, sind hinfällig. Luxemburg entscheidet sich für eine überaus großzügige Interpretation. Dies stärkt die eigene Position – und schwächt manch anderen Akteur.
Konsequenzen für die innereuropäische Machtbalance
Bei deutschen Juristen mag der Reflex naheliegen, Karlsruhe auf den Plan zu rufen, zumal dieses den EuGH im Honeywell-Beschluss vor einer Kompetenzausweitung unter Rückgriff auf die Charta gewarnt hatte. Karlsruhe wird diesem Ruf jedoch nicht Folge leisten können. Dies liegt bereits daran, dass das Urteil keine grundrechtlich beflügelte Kompetenzusurpation bewirkt, dem Artikel 51 Absatz 2 sowie der Honeywell-Beschluss vorbeugen möchten. Brüssel darf nach dem Urteil nicht mehr Gesetze erlassen als zuvor. Vor allem jedoch ist das Luxemburger Ergebnis methodisch gut vertretbar.
Es liegt im Wesen einer verflochten Rechtsordnung, dass speziell bei Richtlinien nicht immer eine scharfe Trennlinie zwischen EU-Vorgaben und nationalen Gestaltungsspielräumen gezogen werden kann. Wo enden die EU-Grundrechte in Fällen einer Mindestharmonisierung oder bei individuellen Rechtspositionen, über deren Ausgestaltung die nationalen Parlamente entscheiden? Jeder Versuch einer Grenzziehung hätte hier höchst komplexe Abgrenzungsfragen heraufbeschworen (siehe nur das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Generalanwalts). Auf dieses Spiel wollte sich der EuGH nicht einlassen. Er bezieht eine klare Position, deren Reichweite manche Abgrenzungsakrobatik erübrigt.
Ohnehin wäre es verfehlt, das Urteil im Sinn eines Nullsummenspiels als Machtgewinn des EuGH und Einbuße nationaler Gerichte zu deuten. Dies mag für Karlsruhe gelten, aber andernorts ist die Lage vielschichtiger. Speziell in Skandinavien und dem Vereinigten Königreich stärkt das aktuelle Urteil die Gerichte, weil diese erst durch Unionsrecht die Befugnis zur Nichtanwendung von Parlamentsgesetzen erlangen. Hiervon zeugt die Antwort des EuGH auf die erste Vorlagefrage des nordschwedischen Gerichts: erst die Grundrechtecharta gibt diesem die Möglichkeit, das Strafverfahren als Doppelbestrafung auszusetzen. Es ist dies nicht das erste Mal, dass die wirksame Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung auch durch einen Machtgewinn nationaler Gerichte gefördert wird.
Auch in Deutschland gibt es Gewinner. Wenn die Abgrenzung der Grundrechtssphären komplexer wird und häufig eine Doppelung des Grundrechtsschutzes eintritt (hierzu sogleich), dann stärkt dies die Fachgerichtsbarkeit. Dies zeigt das ausländerrechtliche Beispiel der Ausweisung in einer polyzentrischen Grundrechtsordnung, bei der einzig das BVerwG in Leipzig eine hinreichend breite Zuständigkeit besitzt, um an der Kreuzung der Grundrechtsordnungen den Verkehr zu lenken. Während das BVerfG auf das GG beschränkt bleibt, können die Fachgerichte die EuGH-Vorgaben umfassend verarbeiten. Dies stärkt ihre Position, zumal sich Luxemburg – wie vorliegend – auf allgemeine Vorgaben zurückzieht und Einzelheiten an das nationale Gericht zurückverweist.
Es bleibt ein weiterer Verlierer: Die Proliferation (deutschsprachiger) Kommentare zu Charta und EMRK darf nicht verdecken, dass die europäische Grundrechtsjudikatur der hergebrachten Methodik nur begrenzt folgt. Dogmatische Systembildung begründet in Europa zumeist keinen produktiven Prozess wechselseitiger Befruchtung, sondern bleibt häufig ein einseitiger Rezeptionsvorgang, der Richterrecht zu deuten sucht. Wenn die deutsche Rechtswissenschaft ihren Glanz behalten möchte, muss sie umdenken. Dies gilt für national ausgerichtete Forscher nicht anders als für Europa- und Völkerrechtler, die das überstaatliche Recht mit der tradierten Methodik bearbeiten.
Grundrechte im Doppelpack
Viele der prognostizierten Folgewirkungen werden nur schleichend sichtbar werden, dafür das innereuropäische Machtgefüge jedoch umso nachhaltiger verändern. Ein Grund für den verzögerten Wandel ist ein Kompromissangebt des EuGH: nationales Recht, dessen Inhalt nicht vollumfänglich durch EU-Recht determiniert ist, aber dennoch der Grundrechtscharta unterfällt (wie im Fall des schwedischen Fischers), kann „ergänzend“ an nationalen Grundrechten gemessen werden. Es kommt mithin zu einer Doppelung des Grundrechtsschutzes, den auch zwei prominente Bundesverfassungsrichter für das Nebeneinander von Charta und Grundgesetz empfehlen.
Dass diese Doppelung kein Freibrief ist, zeigt das parallele EuGH-Urteil in der lang erwarteten Rechtssache Melloni. Das spanische Verfassungsgericht wollte die Vollziehung eines EU-Haftbefehls nach einer Verurteilung in absentia unter Verweis auf spanische Grundrechte aussetzen, obwohl der EU-Gesetzgeber im Jahr 2009 klare Vorgaben getätigt hatte. Der EuGH sah jedoch keinen Gestaltungsspielraum, der die parallele Anwendung nationaler Grundrechte neben der Charta rechtfertigte – und auch Artikel 53 der Charta ändere hieran nichts. So prominent hatte Luxemburg lange nicht mehr ausgesprochen, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts unter Einschluss der Grundrechte auch die nationalen Verfassungen erfasst. Im Konfliktfall würde Karlsruhe ebenso zu Recht gewiesen werden wie das spanische Tribunal Constitucional im Fall Melloni.
In Deutschland hätte der Sachverhalt wohl keine Probleme bereitet, weil eindeutige EU-Vorgaben nach der Solange-II-Rechtsprechung nicht am Grundgesetz zu messen sind (auch im Fall der Richtlinien-Umsetzung). Allerdings wird Karlsruhe bei nationalen Gestaltungsspielräumen zukünftig immer fragen müssen, ob sein Ergebnis den Grenzziehungen des EuGH für die Doppelgeltung gerecht wird. Diese gilt nach dem Urteil Melloni nämlich nur, sofern durch die nationalen Grundrechte „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“ Karlsruhe wird regelmäßig prüfen müssen, ob diese Vorgaben beachtet wurden.
Probleme bereiten diese Grenzen der Doppelgeltung vor allem denjenigen Mitgliedstaaten, die einen eigenen Grundrechtskatalog mit ausgefeilter Dogmatik besitzen. Hier können diffizile Anpassungsprobleme auftreten, für die die Caroline-Kontroverse mit dem EGMR sowie die Scharmützel um die Sicherungsverwahrung einen Vorgeschmack boten (wobei sich der EuGH, anders als der EGMR, im Konfliktfall durchsetzt). Bei Mitgliedstaaten, deren Grundrechtsprechung weitgehend dem EGMR folgt, werden derartige Konflikte regelmäßig ausbleiben, zumal Luxemburg keine Motivation für ein Mikromanagement in Grundrechtsfragen an den Tag legt und nationalen Gerichten speziell bei der Verhältnismäßigkeit regelmäßig einen weiten Spielraum zubilligt.
Dagegen stellen sich in Deutschland all die Abgrenzungsprobleme in modifizierter Form, die die extensive Deutung des Artikels 51 hinfällig werden lässt. Wo enden in Fällen der Mindestharmonisierung zwingende EU-Vorgaben, die die Anwendung des Grundgesetzes neben der Charta ermöglichen? Gelten die nationalen Grundrechte, soweit Gestaltungsspielräume im Lichte der Charta grundrechtskonform eingeengt werden? Und was ist mit Dreieckskonstellationen, wenn etwa der Datenschutz von Arbeitnehmern ungeachtet nationaler Gestaltungsspielräume bei der künftigen EU-Datenschutzverordnung letztlich einen Ausgleich zwischen Unternehmerfreiheit und Datenschutz nach der Charta verlangt? All diese Fragen sind umso wichtiger, weil für die EU-Grundrechte vorrangig die Fachgerichte verantwortlich zeichnen.
Fazit: Ende der Karlsruher Hegemonie
Es gab eine Zeit, als das BVerfG als richterlicher Hegemon die Geschicke der gesamteuropäischen Rechtsordnung entscheidend mitbestimmte. Die Mahnungen als Karlsruhe waren ein wichtiger Grund für die richterrechtliche Entwicklung der ungeschriebenen EU-Grundrechte durch den EuGH. Die Krönung dieses Erfolgs ist die Grundrechtecharta, die nach deutschem Vorbild unter dem Vorsitz des ehemaligen BVerfG-Präsidenten Roman Herzog ausgearbeitet wurde.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eben diese Charta nunmehr das Ende der Karlsruher Hegemonie offenbar werden lässt. Nachdem bereits die Karlsruher Mahnungen in Kompetenzfragen weitgehend verhallten, werden zukünftig zahlreiche Grundrechtsurteile ausführen müssen, dass die Grenzen des Unionsrechts für eine Doppelgeltung beachtet wurden. Karlsruhe sollte diese Einsicht zur Umkehr nutzen und die Verschmelzung der Grundrechtssphären aktiv vorantreiben. Dass hierbei so manche dogmatische Verästelung auf der Strecke bleibt, ist unvermeidlich. Nur so kann Karlsruhe jedoch die Zukunft aktiv mitgestalten. Das liegt in unser aller Interesse.