Von Karlsruher Erbhöfen, parlamentarischer Fragmentierung und der Gefahr schwindenden Institutionenvertrauens
Dass das Wahlverfahren zum Bundesverfassungsgericht wegen seiner Intransparenz, seiner vermeintlichen Verfassungswidrigkeit oder seiner faktischen Monopolisierung durch CDU/CSU und SPD von Zeit zu Zeit Kritik hervorruft, daran hat man sich längst gewöhnt. Dass das Gericht selbst und Teile der Öffentlichkeit nun aber offen vor seiner Politisierung warnen, ist in dieser Form neu, erklärungsbedürftig – und richtig.
Empirisch betrachtet ist das bundesdeutsche Richterwahlverfahren auch im internationalen Vergleich eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Das für die Wahl der Verfassungsrichterinnen und -richter notwendige Zweidrittelquorum in Bundestag und Bundesrat (in den Anfangszeiten der Bundesrepublik war sogar ein Dreiviertelquorum vonnöten) hat von Beginn an dafür gesorgt, dass die Karlsruher Richter in der Regel weder partei- noch rechtspolitisch extremen Positionen zuneigen. Zwar haben Union und SPD in der Vergangenheit durch ihre zentrale Stellung in Parlamenten und Regierungen den Zugang zur Karlsruher Richterbank faktisch monopolisieren können – und sich damit das etwas böse Wort von den „Erbhöfen“ durchaus redlich verdient. Durch die gleichzeitige Möglichkeit, Personalvorschläge der jeweils anderen Seite durch Veto zu verhindern, waren beide Volksparteien aber stets dazu gezwungen, handwerklich angesehene, politisch unverdächtige und rechtspolitisch moderate Kandidatinnen und Kandidaten für das höchste Richteramt vorzuschlagen. Was auch immer man am Richterwahlverfahren legitimerweise kritisieren kann: Es hat zweifellos – zusammen mit der Karlsruhe-typischen Emanzipation einmal gewählter Richter von den sie vorschlagenden Parteien und der Unmöglichkeit einer Wiederwahl – maßgeblich dazu beigetragen, dass das Gericht nicht nur als überaus unabhängig wahrgenommen wurde, sondern es auch tatsächlich war.
Allerdings: Die Zeiten, in denen die beiden ehemals großen Volksparteien alleine über die Richterbestellung bestimmen konnten, sind erst einmal vorbei. Die Pluralisierung und Fragmentierung des bundesdeutschen Parteiensystems, die Erosion der Volksparteien Union und SPD und der damit einhergehende Stimmen- und Mandatsschwund auf Bundes- und Länderebene stellen nicht nur die Parteien selbst und das Funktionieren des parlamentarischen Systems vor Herausforderungen, sondern haben auch direkte Auswirkungen auf das Richterwahlverfahren selbst. Während Union und SPD im Bundesrat schon in den letzten Jahrzehnten mangels eigener Mehrheiten meist auf die Mitwirkung der Opposition bei der Richterbestellung angewiesen waren, verfügten beide Volksparteien – mit Ausnahme der 17. Wahlperiode (2009-2013) – zumindest im Bundestag immer über die für die Richterwahl notwendige Zweidrittelmehrheit. Die hegemoniale Stellung der beiden Volksparteien im Wahlverfahren blieb auch deswegen weitgehend unangetastet, weil beide ihren jeweiligen Koalitionspartnern im Bund – der FDP in den 80er und 90er Jahren und wieder 2010, den Grünen 2001 und 2011– die Möglichkeit eigener Kandidatenvorschläge einräumten. Diese im Grunde komfortable und übersichtliche Konstellation hat sich jedoch grundlegend verändert. Stand heute reicht weder im Bundestag noch im Bundesrat die Mitwirkung einer anderen Partei für die notwendige Mehrheit, sondern es müssen schon gleich zwei sein. In beiden Parlamentskammern erreichen Union und SPD das erforderliche Quorum nur noch zusammen mit den Grünen und der FDP oder zusammen mit den Grünen und der Linken (mit der AfD würde es im Bundestag ebenfalls für eine Zweidrittelmehrheit reichen, was realpolitisch aber – trotz aller Überraschungen, die der Politikbetrieb in diesen Tagen zu bieten hat – doch ausgeschlossen sein dürfte). Mit anderen Worten: Grüne, FDP und eventuell auch die Linke werden in Zukunft ein deutlich gewichtigeres Wort dabei mitreden dürfen (und müssen), welche Personen nach Karlsruhe entsandt – oder auch verhindert – werden.
Demokratietheoretisch ist hiergegen zunächst nur wenig einzuwenden. Formal hängt die Legitimität der Richterwahl ja vor allem davon ab, ob sie in einem inklusiven demokratischen Verfahren erfolgt und die für eine Mehrheit erforderlichen Akteure daran beteiligt werden; an beiden Bedingungen hat sich – bei aller Kritik, die man an der konkreten Ausgestaltung des Wahlverfahrens üben kann – grundsätzlich nichts geändert. Auch, dass sich eine pluraler und heterogener gewordene gesellschaftliche Interessenstruktur in die Parlamente übersetzt und sich dort indirekt auch auf die Bestellung der Richter des Bundesverfassungsgerichts auswirkt, ist nicht per se problematisch, sondern zeugt von funktionierender Repräsentation. Warum dann aber die Aufregung, von der nun die Süddeutsche Zeitung aus Karlsruhe über das Bestreben der Grünen berichtet, das Vorschlagsrecht für den demnächst freiwerdenden „Unionssitz“ im Ersten Senat für sich beanspruchen zu wollen? Warum die Warnung aus dem Gericht selbst, dass sein Ansehen und seine Unabhängigkeit auf dem Spiel stehe? Sind diese Bedenken nicht ein wenig übertrieben, nur weil sich die Grünen ins Spiel der Richtermacher einzumischen wagen und eine Beteiligung beanspruchen, die ihnen faktisch ohnehin nicht verwehrt werden kann?
Tatsächlich sind die Bedenken keineswegs übertrieben. Man sollte sich nämlich vor Augen führen, dass die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts und seiner Richter zwei Seiten hat: eine faktische und eine perzipierte – und dass beide Seiten gleich wichtig sind für die Stellung des Verfassungsgerichts im politischen Prozess und für das Vertrauen, das Bürgerinnen und Bürger diesem Gericht entgegenbringen. Für die faktische Unabhängigkeit neu zu wählender Verfassungsrichter stellen die derzeitigen politischen Fragmentierungsprozesse kein Problem dar, ja, sie sind möglicherweise sogar eher förderlich. Als Faustformel kann gelten: Je mehr Akteure unterschiedlicher politisch-ideologischer Provenienz einer Richterbestellung zustimmen müssen, umso eher ist gewährleistet, dass die ausgewählte Person eher die Mitte des (rechts)politisch-ideologischen Spektrums abbildet als die Ränder. Selbst wenn man davon ausgeht, dass politische Ideologien ohnehin keine praktische Bedeutung bei der Ausübung des Richteramtes in Karlsruhe entfalten, ist dies doch eine beruhigende Nachricht. Gefährlich für die faktische Unabhängigkeit eines Gerichts wäre es hingegen eher, wenn aufgrund parteipolitischer Konzentrationsprozesse plötzlich eine Partei alleine in der Lage wäre, das Zweidrittelquorum zu erfüllen und Richterinnen und Richter ohne Rücksprache mit anderen Akteuren nach Karlsruhe zu entsenden.
Paradoxerweise, und hier kommt die aktuelle Karlsruher Aufgeregtheit wieder ins Spiel, ist aber das, was für die faktische Unabhängigkeit eines Gerichtes förderlich ist, nicht unbedingt vorteilhaft für seine perzipierte Unabhängigkeit. Tatsächlich würde die für den Ersten Senat geplante Besetzung eines bisherigen „Unionssitzes“ durch einen von den Grünen vorgeschlagenen Kandidaten bedeuten, dass dort dann zwei von den Unionsparteien nominierten Richtern drei von der SPD und zwei von den Grünen nominierte und ein von der FDP nominierter Richter gegenüberstehen. Würde dies die faktische Unabhängigkeit des Senats beeinträchtigen, und würde dieser fortan „linksliberale“ Rechtspolitik zu betreiben versuchen? Natürlich nicht. Und doch würde die perzipierte (partei-)politische Unabhängigkeit des Senats und des gesamten Gerichts darunter leiden. Dass das Bundesverfassungsgericht der 1970er Jahre bis heute in weiten Teilen der Öffentlichkeit als ‚Vetospieler‘ gegen die damalige sozialliberale Regierung gilt, hat vermutlich sehr viel mehr mit der personellen Zusammensetzung der Senate und einer vermeintlich konservativen Dominanz des Gericht als mit seinem tatsächlichen Urteilsoutput zu tun. Die gleiche Fehlperzeption droht heute unter umgekehrten parteipolitischen Vorzeichen: Schon in den vergangenen beiden Legislaturperioden war insbesondere in den Unionsparteien eine deutliche Unzufriedenheit mit einem vermeintlich zu liberalen Kurs des Ersten Senats – insbesondere in Fragen der Gleichstellung sexueller Minderheiten, aber auch etwa hinsichtlich der ein oder anderen Entscheidung im Bereich der Inneren Sicherheit – zu vernehmen. Dass diese Kritik im Falle eines als ‚linksliberal‘ perzipierten Senates bei gleichzeitigem Parteienwettbewerb mit der AfD um die Deutungshoheit über konservative Werte und das rechte Maß an Innerer Sicherheit abnehmen würde, darf getrost bezweifelt werden. Zu befürchten wäre eher, dass der Senat eine Angriffsfläche für gezielte Delegitimierungsversuche bieten würde und aus einer bisher nur punktuell und zaghaft vorgetragenen Kritik an der Rechtsprechung eine Infragestellung der Legitimität des gesamten Gerichts würde. Dies wiederum hätte unweigerlich auch Auswirkungen auf das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in der breiteren Öffentlichkeit. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Verfassungsgericht ist die wichtigste Machtressource des höchsten deutschen Gerichts. Würde es dauerhaft und systematisch beschädigt, hätte dies erhebliche negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Gerichts selbst und die Qualität des demokratischen Rechtsstaats insgesamt – ein Blick in die mittelosteuropäischen Nachbarländer zeigt, dass dies keine bloß theoretische Gefahr ist.
Was dann aber tun in der derzeitigen Situation? Da sich die institutionelle Ausgestaltung des Richterwahlverfahrens prinzipiell bewährt hat und sich an der Fragmentierung der Parlamente in naher Zukunft nichts ändern wird, liegt es nahe, einerseits an die Vernunft der beteiligten Akteure zu appellieren und andererseits den Zwang des institutionellen Erfordernisses als Chance zu begreifen. Die unter den gegebenen Umständen notwendige systematische Einbeziehung der kleineren Parteien in den Kandidatenfindungsprozess bietet die Gelegenheit, den Konsenscharakter der Richterwahl und damit die Akzeptanz des Gerichts noch stärker als bisher zu akzentuieren und vom Vorwurf der intransparenten Kandidatenkür durch zwei Monopolakteure zu befreien. Zugleich aber sollten die Parteien jeden Anschein strukturell progressiver oder konservativer Mehrheiten in den Senaten vermeiden helfen. Dies setzt grundsätzlich voraus, dass CDU/CSU und SPD ihre tradierten informellen „Erbhöfe“ in den Senaten für Vorschläge der anderen Parteien öffnen, ohne dabei eine sorgfältige Balance der Senate aus den Augen zu verlieren. Für die Grünen bedeutet dies ganz konkret, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt auf das Vorschlagsrecht für den Ersten Senat verzichten sollten.
Lieber Herr Kneip,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Mich stört an der auch in de SZ geführten Debatte allerdings, dass quasi in vorauseilendem Gehorsam, weil das Gericht von konservativer Seite angegriffen werden könnte, gefordert wird, dass die Grünen nun auf ihr Ernennungsrecht verzichten, zumal der gehandelte Kandidat mir nicht explizit „links“ erscheint, jedenfalls deutlich weniger politisch profiliert ist als der eine oder andere Kandidat, der zuletzt von Unionsseite entsandt wurde. Die Kritik richtet sich ja auch nicht gegen den Kandidaten, sondern dagegen, dass die Grünen zu diesem Zeitpunkt überhaupt jemanden benennen. Mir erschiene es in der jetzigen Situation jedenfalls schlüssiger, an „die Konservativen“ zu appellieren, nicht wegen der Ernennung eines respektablen Kandidaten durch die Grünen die Legitimität des Gerichts oder seiner Entscheidungen infrage zu stellen.
Liebe Frau von Notz, inhaltlich stimme ich Ihnen zu – natürlich wäre es Aufgabe von CDU/CSU, auf Delegitimierungsversuche des Gerichts zu verzichten, auch wenn man mit spezifischen Entscheidungen nicht zufrieden ist. Empirisch zeigt sich allerdings seit den 1990er Jahren (Soldaten sind Mörder/Sitzblockade/Kruzifix) und noch einmal verstärkt in den letzten zehn Jahren, dass dies bei missliebigen Urteilen gerade nicht der Fall ist – im Gegenteil. Mitunter wird sogar öffentlich mit einer Änderung des BVerfGG gedroht, falls das Gericht seine “zu liberale” Rechtsprechung nicht ändert. Verfassungspolitische Vernunft muss man daher eher auf Seiten der Grünen vermuten als auf jener der Union, fürchte ich…
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kneip, möchte jedoch die Gelegenheit auch nutzen, um auf ein bereits im Beitrag selbst schief dargestelltes Problem hinzuweisen.
Es sollte nicht so sein, dass nun die Rechtsprechung des BVerfG zu stark unter parteipolitischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Denn eigentlich gilt das GG als parteipolitiscch neutral. Gerade der Minderheitenschutz ist (bzw. sollte) ein zentrales Element der BVerfGEs sein. Und hier wird das Misstrauen gegenüber dem BVerfG auch nicht ganz korrekt reflektiert.
Es geht hier um die Rolle des höchsten Gerichts innerhalb sich zuspitzender gesellschaftlicher Kongfliktfälle. So sollte die parteipolitische Überzeugung gerade NICHT alles andere überrschatten. Entsteht erst einmal dieser Eindruck, dann sieht es düster aus. Leider ist dies in meinen Augen allerdings immer mehr der Fall (spätestens ab dem Ausscheiden von Papier, dem man gerade nicht seine Parteizugehörigkeit anmerkte). Aber jetzt sogar einen Verzicht der Grünen zu fordern, wie es der Autor tut, halte ich für falsch, ja, sogar für verfassungswidrig. Bitte keine Groko im BVerfG!
1. Das Ganze ist keine Frage der Unabhängigkeit. Wenn es un Unabhängigkeit ginge, wäre das Problem, dass die aktuelle (und vielleicht kommende) Regierung ihre 3/4-Mehrheit im Senat verteidigen will. Die 100% im Zweiten Senat wären dann eine Katastrophe.
2. Es geht um die Ausgewogenheit politischer Anschauungen. Aber:
a) Was verrät uns das in einem Senat, den einst ein von der CSU berufener Vorsitzender gegen rot-grüne Sicherheitsgesetze zum Bürgerrechtssenat geschmiedet hat?
b) Ist da der status quo mit 4:4 überhaupt gut beschrieben? Andernorts war sinngemäß zu lesen, dass bereits Richter Paulus eigentlich in Bürgerrechtsfragen zu einer linken Mehrheit zu zählen sei. Ernsthaft? Dass das „bürgerliche Lager“ in Bürgerrechtsfragen keine Einheit bildet, dürfte doch niemanden überraschen. Und auch SPD und Grüne unterscheiden sich da fundamental. Ob man also wirklich von zwei Lagern entlang dieser Linken sprechen kann, ist mehr als zweifelhaft.
Schreibfehler: …entlang dieser LINIEN…
Lieber Schorsch, es ging mir ja nicht um die faktische Unabhängigkeit (die ist in beiden Senaten zweifellos gegeben, Mehrheiten hin oder her), sondern um die wahrgenommene. Es wäre ein Leichtes für die Union, Urteile des Ersten Senats auch wider besseres Wissen unter Verweis auf dessen Zusammensetzung in Frage zu stellen.
Zum Ersten Senat konkret: Ich glaube schon, dass der klare liberale Record AUCH mit der faktischen liberalen 5:3-Mehrheit dort zu tun hat. Zumindest wäre ich mir nicht so sicher, dass ein 4:4-Senat unter Führung von Papier nicht doch zumindest leicht andere Akzente gesetzt hätte (siehe auch die Entscheidung des 2. Senats bzw. die Plenarentscheidung zum Luftsicherheitsgesetz…). Insofern: Die Entscheidungsmechanismen ist Karlsruhe sorgen schon dafür, dass ideologische Positionen der Richter in der Praxis kaum eine Rolle spielen; dass sie völlig irrelevant wären, glaube ich allerdings auch nicht.
Ich würde gar nicht bestreiten, dass wahrgenommene (Un-)Abhängigkeit für sich ein Problem sein kann. Im Gegenteil: Als Jurist denke ich bei Unabhängigkeit gerade an den zu wahrenden Anschein derselben. Schon bei der ganz normalen Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit ist das der Maßstab.
Ich fand auch Ihren Artikel sehr interessant, Ihre Erwägungen sehr bedenkenswert. Allein: Es geht auch in diesen nicht um Unabhängigkeit. Niemand glaubt, dass Herr Masing in der Beratung auch nur eine Sekunde in Dankbarkeit für seine Nominierung verharrt und zögert, gegen Projekte eines SPD-Justizministers zu votieren. Das heißt nicht, dass Herr Masing und die SPD nicht weltanschaulich ein paar Überschneidungen haben, die auch für seine verfassungsrechtlichen Positionen eine gewisse Rolle spielen. (Sorge um die Unabhängigkeit macht man sich freilich, wenn der Vizepräsident des Gerichts gemeinsam mit dem amtierenden bayerischen Justizminister Interviews gibt.)
Zum Luftsicherheitsgesetz: Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht auch nicht. Das ist alles Spekulation. Nicht zuletzt ist zwischen den verschiedenen Entscheidungen ja auch viel Zeit vergangen. Vor allem aber wird das Selbstverständnis jedes Senats natürlich auch von den jeweiligen Aufgaben geprägt. Ein Richter des Grundrechtssenats, der über ein wenig Gestaltungswillen verfügt, kann diesem nur genügen, wenn er liberale Urteile fällt. Ein ehrgeiziger Richter im Zweiten Senat kann die Republik unter Lösung von allen prozessrechtlichen Bindungen mit eigener Europapolitik unterhalten.
Zudem: Der Erste Senat hatte, wenn ich richtig sehe, zwischen 2006 und 2010 gar keinen “FDP-Richter”. In diese Zeit fallen, um bei der Sicherheitsgesetzgebung zu bleiben, die Urteile zur Vorratsdatenspeicherung, Kennzeichenerfassung und Online-Durchsuchung. Vielleicht vergesse ich weitere.
Kritik entzündet sich am Gericht zuletzt von konservativer Seite ja vor allem wegen der Entscheidungen zur Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften. Aber zum Ehegattensplitting und zum beamtenrechtlichen Familienzuschlag hat der Zweite Senat entschieden. Die Entscheidung zum Erbschafts- und Schenkungssteuergesetz fällt zwar nominell nicht in die Zeit ohne “FDP-Richter”, allerdings so knapp, dass man bezweifeln darf, dass der damalige Neuling, Richter Paulus, sie maßgeblich beeinflusst hat.
Kurz um: Es ist alles kompliziert. Mehr wollte ich auch gar nicht gesagt haben. Und kompliziert ist sowohl für den Einfluss der parteipolitischen Zahlenspiele auf die Senate überhaupt als auch für die Zuordnung der vier Parteien zu zwei Lagern. (Mein Punkt war hier ja, dass FDP und Union ideologisch in Grundrechtsfragen gerade keine Einheit bilden. Insoweit gibt zwischen uns wohl keinen Widerspruch.)
Lieber Schorsch, ich stimme vollumfänglich zu.
Lieber Herr Kneip, ich danke Ihnen für die Geduld.
Endlich wird zugegeben, dass die Besetzung des Verfassungsgerichtshofes nach politischen Gesichtspunkten geschieht. Wie in Polen….
Say what?!
Um darauf mal ganz ernsthaft zu antworten: Ähm … nein! Wie erläutert, sorgt das 2/3-Quorum ja gerade dafür, dass keine Parteigänger einer bestimmten Partei nach Karlsruhe kommen. Selbst bei Besetzungen wie jenen von Peter Müller oder Ernst Gottfried Mahrenholz galten die Personen – obwohl ehemalige Politiker – als hinreichend unabhängig von den sie vorschlagenden Parteien, sonst wären sie für die jeweils andere Partei nicht vermittelbar gewesen (bitte bei Frau Däubler-Gmelin nachfragen, die zweifellos eine hervorragende Verfassungsrichterin geworden wäre). Das ist in Polen nun leider gänzlich anders. Die dortige faktische Abschaffung einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit ist leider einmalig in der demokratischen Welt. Ob man ausgerechnet in dieser Disziplin weltweit führend sein muss, darf sicherlich bezweifelt werden…
“(bitte bei Frau Däubler-Gmelin nachfragen, die zweifellos eine hervorragende Verfassungsrichterin geworden wäre).”
Bezüglich des Relativsatzes: Wie kommen Sie darauf?
Lieber Zweifler, Sie haben insofern Recht, als man das natürlich nicht wissen kann. Die Qualifikation von Frau Däubler steht allerdings, glaube ich, außer Frage. Und dass sie als Politikerin – und heute als Kämpferin für den Rechtsstaat – ein unabhängiger Kopf war und geblieben ist, lässt mich vermuten, dass sie das auch im Gericht gewesen wäre. Ich ändere das “zweifellos” aber gerne in “vermutlich”…
Fangen wir mal hinten an: CDU/CSU und SPD sollen nach Auffassung des Verfassers “grundsätzlich” ihre Erbhöfe aufgeben, und “konkret” bedeute das, dass die Grünen auf ihr “Vorschlagsrecht” verzichten sollen. An die (ehem.) Volksparteien, die die Bundesrichterwahlen seit Jahrzehnten im kleinen Kreis vorfestlegen, wird also ein höflicher Wunsch gerichtet, an die Grünen, die bisher in wenigen Einzelfällen “ihren” Kandidaten im BVerfG platzieren konnten, eine konkrete, jetzt greifende Aufforderung. Das wirkt ein wenig ungleichgewichtig und stützt den veränderungsbedürftigen Status quo.
Ein Vorschlagsrecht (Kneip) bzw. sogar ein Ernennungsrecht (v. Notz) gibt es de constitutione lata nicht und kann es sub specie Art. 33 Abs. 2 GG auch nicht geben. Was es zweifellos gibt, ist eine seit langem eingespielte Handhabung und Absprachen zwischen der Handvoll Beteiligter, die im Verfahren der Kandidatenauswahl maßgeblich sind.
Die Praxis, wonach die Repräsentanten von drei Parteien (CDU, CSU, SPD), die gegenwärtig noch etwas mehr als die Hälfte der bei der BT-Wahl abgegebenen Stimmen auf sich vereinen, (fast) alle Bundesrichter bestimmen, fand ich schon bisher kaum zu legitimieren. Insofern ist es erfreulich, dass sie auch praktisch so nicht mehr fortgeführt werden kann.
Freilich ist zu befürchten, dass die vorbereitenden informellen Kungelrunden, bei denen die Besetzung der Bundesgerichte incl. BVerfG entschieden wird, lediglich personell etwas erweitert werden, es am Ende kaum mehr Transparenz gibt und speziell bei der Besetzung des BVerfG weiterhin die parteipolitische Ausgewogenheit eine wesentliche Rolle spielt.
Trotzdem wohl weitaus besser als die Regelung in Österreich, wo die Regierung de jure die Hälfte und de facto alle Richterposten am VfGH im Alleingang bestimmt.
Lieber Herr Kneip!
Unser Handbuch BVerfG im politischen System (zuletzt 2. Aufl. 2015) ist in den letzten Jahren in den Politik- (und !) Rechtswissenschaften sehr gut aufgenommen worden, sodass wir im Januar 2022 in die konkrete Planung der 3. Aufl. gehen werden. Das ist auch schon mit dem Verlag Springer VS vereinbart worden.
Wir fragen daher an, ob Sie wieder mitmachen und Ihren Beitrag der 2. Aufl. aktualisieren/ergänzen möchten. Da es sich um ein HB handelt, können alle Autoren/innen auch weitere Themenvorschläge machen, die sie zusätzlich bearbeiten wollen. Wir tragen alles zusammen und stimmen das dann mit der Themenliste der Neu-Autoren/innen ab, die wir für die 3. Auflage gewinnen konnten, sodass es nicht zu “Dopplungen” kommt.
Zeitliche Planung: Die Abgabe des Beitrag würde spätestens zum 31.12. 2022 erfolgen.
Wir würden und freuen, wenn Sie wieder mitmachten.
Mit der Bitte um kurze Rückmeldung und vielen Grüßen
Prof. Dr. Robert van Ooyen Prof. Dr. Martin Möllers