13 July 2023

Waffenungleichheit im Verfassungsprozess

Zum unbefriedigenden Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Befangenheitsanträgen

„Gegenstandslos“ – so lautet das Verdikt des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts über den Antrag des Deutschen Bundestags auf Ablehnung von Bundesverfassungsrichter Peter Müller im Verfahren über eine Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen den Umgang des Bundestags mit Wahlfehlern im Land Berlin bei den Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag. Nachvollziehen kann man dieses Ergebnis nur, wenn man weit in die Tiefen des Verfassungsprozessrechts eindringt. Und auch dann ist die Begründung denkbar formal: Einen Ablehnungsantrag können, so der Zweite Senat, nur Verfahrensbeteiligte stellen. Diese Stellung komme dem Bundestag im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nicht zu und er könne sie wegen des objektiven Charakters dieser Verfahrensart auch nicht durch Beitritt erlangen. Er sei lediglich anhörungsberechtigt. Der vom Bundestag erklärte Beitritt sei damit unzulässig und in Ermangelung eines zulässigen Beitritts sei der Antrag auf Ablehnung des Richters Müller „gegenstandslos“.

Diese Begründung klingt nicht nur formalistisch; sie ist es auch. Einen Gegenstand des Ablehnungsgesuchs gab es ja durchaus. Stein des Anstoßes war eine Interviewaussage von Bundesverfassungsrichter Müller über die Berliner Wahlpannen („Sowas hätte man sich vor einigen Jahrzehnten vorstellen können in irgendeinem diktatorischen sogenannten Entwicklungsland, aber doch nicht mitten in Europa, mitten in Deutschland.“). Mit dem beschriebenen prozessualen Argument verweigert das Bundesverfassungsgericht nun eine Antwort auf die Frage, ob diese Äußerung die Besorgnis der Befangenheit in einem Verfahren über die so kritisierten Wahlpannen begründet oder nicht. Das ist nicht nur in der Außenwirkung unglücklich, weil die im Raum stehende materielle Frage der Befangenheit des Berichterstatters offenbleibt. Es überzeugt auch prozessual nicht, denn der Charakter der Wahlprüfungsbeschwerde als rein objektives Beanstandungsverfahren vermag nicht zu begründen, warum dem Bundestag kein Recht auf Richterablehnung zustehen sollte. Mit seiner Entscheidung verstärkt der Zweite Senat eine ohnehin im geltenden Prozessrecht angelegte Unwucht, die sich aus der unterschiedlichen Rechtsstellung von Verfahrensbeteiligten einerseits und lediglich Anhörungsberechtigten andererseits ergibt. Anstatt diese Unwucht im Rahmen der Rechtsanwendung nach Möglichkeit auszugleichen, treibt der Senat sie durch die Anwendung auf das Verfassungsorgan Bundestag sogar auf die Spitze.

Die Unterscheidung zwischen Verfahrensbeteiligten und Anhörungsberechtigten bei der Richterablehnung

Worum geht es prozessual? Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz regelt nicht, wer berechtigt ist, einen Antrag auf Ablehnung einer Richterin oder eines Richters zu stellen (vgl. den Wortlaut von § 19 Abs. 1 BVerfGG). Ganz überwiegend wird aber davon ausgegangen, dass nur Verfahrensbeteiligte einen solchen Antrag stellen können. Dahinter steht die Vorstellung, dass nur die Verfahrensbeteiligten ein entsprechend starkes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits haben. Für kontradiktorische Streitigkeiten leuchtet das ohne Weiteres ein. Dort stehen sich beide Seiten gleichberechtigt gegenüber. Beide Seiten haben dann als Verfahrensbeteiligte auch das Recht zur Richterablehnung. Schwieriger ist die Situation bei Verfahrensarten, bei denen ein eindeutiger Gegner fehlt. Dies ist insbesondere bei der Verfassungsbeschwerde, aber eben auch bei der Wahlprüfungsbeschwerde der Fall. In beiden Verfahrensarten wird die prozessuale Situation so gedeutet, dass der/die Beschwerdeführer/in mit seiner/ihrer Beschwerde lediglich den Anstoß für eine Überprüfung der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung liefert. Deshalb werden sie als „objektive Beanstandungsverfahren“ bezeichnet. In diesen Verfahrensarten ist der/die Beschwerdeführer/in verfahrensbeteiligt und verfügt über alle prozessualen Rechte, also auch die Möglichkeit der Richterablehnung nach § 19 BVerfGG. Allerdings fehlt es auf der anderen Seite an einem/einer Antragsgegner/in. Die im Ausgangsverfahren unterlegene Seite oder die für den angegriffenen Akt verantwortliche staatliche Stelle tritt nicht als „Partei“ in den Prozess ein. Stattdessen wird lediglich ein Anhörungsrecht begründet, das die Möglichkeit eröffnet, eine Position in das Verfahren einzubringen. Weitergehende prozessuale Rechte bestehen nicht.

Bei der Verfassungsbeschwerde besteht für Verfassungsorgane eine ausdrückliche Beitrittsmöglichkeit (§ 94 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG), die dann zur vollen Stellung als Verfahrensbeteiligte führt, also auch ein Recht zur Richterablehnung beinhaltet. Für die Wahlprüfungsbeschwerde fehlt es dagegen an einer entsprechenden Regelung, weshalb das Bundesverfassungsgericht den Beitritt in der vorliegenden Entscheidung für unzulässig erachtet hat (Rn. 16 ff.) und auch eine analoge Anwendung nicht für angebracht hält (Rn. 20 ff.). Die Konsequenz ist, dass der Bundestag dem Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nicht beitreten und daher auch keinen Befangenheitsantrag stellen kann. Lässt man sich auf diese sehr formale Perspektive ein, so ist die Begründung prozessual jedenfalls nachvollziehbar.

Verdeckt kontradiktorische Streitigkeiten – das Beispiel der Verfassungsbeschwerde

Bei genauerem Hinsehen wird die formale Herangehensweise aber der tatsächlich hinter vielen verfassungsrechtlichen Streitigkeiten stehenden Interessenlage nicht gerecht. Nicht selten werden kontradiktorische Streitigkeiten im Gewand eines objektiven Beanstandungsverfahrens geführt. Am Beispiel der Verfassungsbeschwerde lässt sich zeigen, dass die Vorstellung einer rein objektiven Kontrolle ohne „Parteien“ nicht passt. In der Rechtswirklichkeit vieler Urteilsverfassungsbeschwerden wird vor dem Bundesverfassungsgericht der bisherige fachgerichtliche Rechtsstreit mit Argumenten des Verfassungsrechts fortgeführt. Das ist besonders deutlich in den vom Bundesverfassungsgericht als „mehrpolige Grundrechtsverhältnisse“ bezeichneten Konstellationen, in denen sich beide Seiten auf Grundrechte berufen. Bei der Verfassungsbeschwerde gesteht das BVerfGG allein dem Beschwerdeführer oder der Beschwerdeführerin automatisch die Stellung eines Verfahrensbeteiligten zu. Der oder die Begünstigte des Ausgangsverfahrens ist dagegen nur anhörungsberechtigt und hat – anders als Verfassungsorgane – auch keine Möglichkeit, über einen Beitritt den Status als Verfahrensbeteiligte/r zu erlangen (§ 94 Abs. 3 i.V.m. § 94 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG). Dies führt zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass die im fachgerichtlichen Verfahren obsiegende Seite verfassungsprozessual schlechter steht als die dort unterlegene Partei. Hier müsste aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit eine Erstreckung des Ablehnungsrechts auch auf den/die Begünstigte/n des Ausgangsverfahrens erfolgen. Bislang ist das aber nicht der Fall.

Die Wahlprüfungsbeschwerde durch eine Bundestagsfraktion als verdeckt kontradiktorische Streitigkeit

Wie der vorliegende Streit um die Folgen der Berliner Wahlpannen offenlegt, stellen sich auch bei der Wahlprüfungsbeschwerde vergleichbare Probleme. Antragstellerin ist mit der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion eine Oppositionsfraktion im Bundestag. Darin liegt im zweistufigen Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 Abs. 1 und Abs. 2 GG eine wichtige Besonderheit. Das Wahlprüfungsverfahren sieht auf der ersten Stufe eine Kontrolle durch den Bundestag vor (Art. 41 Abs. 1 GG). Diese Kontrolle setzt einen Einspruch gegen die Wahl voraus. Einen solchen Einspruch können jede/r Wahlberechtigte und bestimmte institutionell mit der Organisation von Wahlen befasste Stellen (wie etwa die Wahlleitungen) erheben, nicht aber Fraktionen oder Minderheiten im Bundestag (vgl. § 2 Abs. 2 WahlPrüfungsG). Eine Beteiligung von Fraktionen oder einer Minderheit von mindestens einem Zehntel der Bundestagsabgeordneten kommt vielmehr erst auf der zweiten Stufe der Wahlprüfung in Betracht, der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Entscheidung des Bundestags über den Einspruch (§ 48 Abs. 1 BVerfGG). Hieran zeigt sich, dass § 48 BVerfGG ein spezifisches Element von Oppositions- und Minderheitenschutz gegen die Wahlprüfungsentscheidung des Bundestags vorsieht. In der Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit liegt ein kontradiktorischer Ausgangspunkt, der dann – systemwidrig – in der Wahlprüfungsbeschwerde in ein „objektives Beanstandungsverfahren“ überführt wird. Die ursprünglich einmal materiell vorhandene Frontstellung geht entgegen den Ausführungen des Zweiten Senats (Rn. 28) hierdurch nicht verloren.

Eine solche Frontstellung spielt erkennbar für den konkreten Rechtsstreit um die Korrektur der Fehler bei den Wahlen in Berlin eine zentrale Rolle: Während sich die Regierungsfraktionen für eine eng auf mandatsrelevante Fehler in einzelnen Wahlkreisen beschränkte Korrektur entschieden haben, wollte die Opposition eine weitergehende Korrektur erreichen. Hinter diesen unterschiedlichen Positionen stehen politisch zunächst einmal unterschiedliche Erwartungen an das Ergebnis einer möglichen Wiederholungswahl. Die Auseinandersetzung wurde aber auch mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu Ziel und Mitteln der Korrektur von Fehlern bei der Wahl geführt. Sowohl für die enge Begrenzung auf die alleinige Korrektur von mandatsrelevanten Fehlern in einzelnen Wahlkreisen wie auch für eine vollständige Wahlwiederholung bei einer hinreichend großen Zahl von hinreichend schweren Fehlern lassen sich verfassungsrechtliche Argumente finden. Derartige Argumente sind in der Debatte im Bundestag kontrovers von Abgeordneten der Opposition und von Abgeordneten der Regierungsfraktionen ausgetauscht worden (BT-Plenarprotokoll 20/66 vom 10. November 2022, S. 7656 ff.). Es geht deshalb an der praktischen Realität jedenfalls des konkreten Rechtsstreits vorbei, wenn man ihn als rein objektiv einordnet.

Gerade weil ein verdeckt kontradiktorischer Streit vorliegt, führt die alleinige Qualifikation des Beschwerdeführers/der Beschwerdeführerin als verfahrensbeteiligt zu einer problematischen Unwucht in den prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten. Das zeigt eine hypothetische alternative Befangenheitskonstellation: Nehmen wir einmal an, ein Mitglied des Zweiten Senats hätte in einem Interview die Ansicht geäußert, die Wahlpannen in Berlin seien in ihren Auswirkungen doch gar nicht so schlimm gewesen und die ganze Aufregung sei völlig unverständlich. Wegen einer solchen Äußerung hätte die Beschwerdeführerin als Verfahrensbeteiligte ohne Weiteres einen zulässigen Befangenheitsantrag stellen können. Warum ein solches Recht nur der Antragstellerin als Oppositionsfraktion zustehen soll, nicht aber der Mehrheit des Bundestages, will nicht einleuchten. Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit verlangt vielmehr auch hier die Gleichbehandlung.

Fazit: Selektive Zuerkennung von Ablehnungsrechten als Problem der prozessualen Waffengleichheit

Als Fazit muss man damit festhalten: Mit seiner formalistischen Verknüpfung des Rechts der Richterablehnung mit der Beitrittsmöglichkeit in der Wahlprüfungsbeschwerde verschärft der Zweite Senat ohnehin bestehende Probleme der prozessualen Waffengleichheit in den vermeintlich objektiven Beanstandungsverfahren. Dass er dabei den Deutschen Bundestag in einem Nebensatz vom gleichberechtigten Verfassungsorgan zu einer Art Vorinstanz ohne eigenständige prozessuale Mitwirkungsrechte herabstuft (Rn. 18), macht die Begründung noch zusätzlich angreifbar. Der Bundestag entscheidet doch nicht vergleichbar einer gerichtlichen Vorinstanz, sondern ihm wird wegen seiner besonderen verfassungsrechtlichen Stellung die Möglichkeit der Selbstprüfung eingeräumt. Selbst wenn man mit den hinter der Entscheidung stehenden Erwägungen einen förmlichen Verfahrensbeitritt für unpassend hält, so wäre es angesichts der besonderen prozessualen Situation des vorliegenden Verfahrens und des Wortlauts von § 19 Abs. 1 BVerfGG möglich und richtig gewesen, dem Bundestag auch ohne förmliche Qualifikation als Verfahrensbeteiligter ein Ablehnungsrecht zuzugestehen.

Der Eindruck einer übertrieben formalistischen Herangehensweise wird noch verstärkt, wenn man die vorliegende Entscheidung in den Kontext der Entscheidung über die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes im Verfahren der Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidung des Berliner Landesverfassungsgerichts über die Wiederholung der Senatswahlen stellt. In diesem Verfahren war der gleiche Befangenheitsvorwurf vorgetragen worden. Auch hier hatte der Senat es aus formalen Gründen abgelehnt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Die Beschwerdeführer hätten nur auf den Inhalt des Interviews hingewiesen, aber keinen förmlichen Befangenheitsantrag gestellt (Rn. 101).

Ein Gericht, welches das Prozessrecht mit so wenig Sinn für die hinter ihm stehenden materiellen Konfliktlagen anwendet, darf sich nicht wundern, wenn in der Öffentlichkeit der ungute Eindruck entsteht, es setze sich nur widerwillig mit Fragen seiner eigenen Befangenheit auseinander. Dies gilt umso mehr, als gerade Verfassungsorgane bislang sehr zurückhaltend mit dem Instrument der Richterablehnung umgegangen sind. Wenn es dann aber ausnahmsweise doch einmal zu einem solchen Antrag kommt: Wäre es da nicht – um auch nur den Anschein der Befangenheit beim Umgang mit der eigenen Befangenheit zu vermeiden – wünschenswert, eine Entscheidung in der Sache zu bekommen? Stattdessen wird der Zweite Senat nun in der kommenden Woche über die Wahlprüfungsbeschwerde unter der federführenden Mitwirkung eines Berichterstatters verhandeln, von dem unklar bleibt, ob in Bezug auf seine Person die Besorgnis der Befangenheit besteht. Befriedigend ist das nicht.


SUGGESTED CITATION  Walter, Christian; Tremml, Kathrin: Waffenungleichheit im Verfassungsprozess: Zum unbefriedigenden Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Befangenheitsanträgen, VerfBlog, 2023/7/13, https://verfassungsblog.de/waffenungleichheit-im-verfassungsprozess/, DOI: 10.17176/20230713-111126-0.

2 Comments

  1. mq86mq Thu 13 Jul 2023 at 14:29 - Reply

    Die »andere Seite« hat bei Wahlprüfungsbeschwerden normalerweise nichtmal das Recht, ein Verfahren überhaupt einzuleiten. Ist in Fällen wie diesen ja keineswegs der Bundestag, sondern die, denen bereits dessen Beschluss zu weit geht und die deshalb die Wahl nicht angefochten haben. Bei Bundestagswahlen stünde dieses Recht immerhin jeder Fraktion zu, aber die CDU/CSU gehört halt nicht zu der Seite.

  2. Steffen Wirth Fri 14 Jul 2023 at 08:27 - Reply

    Vielen Dank! Sehr stringente und überzeugende Argumentation.

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