30 June 2023

Wagner ist keine Söldnertruppe

Und das ist nicht so gut, wie es auf den ersten Blick klingt

Spätestens seit Wagners Putsch-Versuch von letztem Samstag gerät die Gruppe immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Dabei nimmt das Interesse an Söldnern und die Forderung nach ihrer Kontrolle und Verboten von allen Seiten zu. Die Mitglieder der Gruppe Wagner sind jedoch keine Söldner. Sie sind private military contractors (PMCs) – und damit eine weitaus größere Bedrohung für das Gewaltmonopol, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und den Schutz von Betroffenen. Echte Regulierung von PMCs ist nicht erst seit Wagners brutalem Einsatz bitter nötig. Jetzt könnte sich zuletzt durch den gescheiterten Staatsstreich das erste Mal ein Fenster auftun, indem auch der Westen sich einer echten Kontrolle von PMCs nicht mehr verschließen kann. Wagner könnte damit zum Kipppunkt werden, die Haltung zum Outsourcing von Gewalt zu überdenken.

Altes und neues Interesse an privatisierter Gewalt

Die Meuterei ist vorbei – lang leben die Meuterer, zumindest im Fall von Jewgeni Prigoschin und seiner Wagner-Gruppe. Prigoschins Versuch, Moskau zu erobern, wurde am 24. Juni auf den Straßen Russlands offenbar von vielen begrüßt, endete aber am Abend desselben Tages recht antiklimatisch mit der Ankündigung des Rückzugs der Gruppe nach Zugeständnissen der russischen Regierung. Während Prigoschins Schicksal in Belarus unklar bleibt, haben die Mitglieder der Wagner-Gruppe das Angebot, sich dem russischen Militär anzuschließen und ungestraft davonzukommen (und wahrscheinlich – diesmal unter offizieller Flagge – in die Ukraine zurückzukehren). Wagner wurde bereits 2014 im Kampf um die Eroberung der Krim-Halbinsel eingesetzt und anschließend verstärkt nach Syrien entsandt, wo ein Zwischenfall mit U.S.-Truppen in Khasham im Februar 2018 für Schlagzeilen sorgte. Außerdem hat Wagner in den letzten Jahren seine Präsenz in Afrika, insbesondere in Mali und der Zentralafrikanischen Republik, verstärkt.

Die Anwendung von Gewalt im internationalen bewaffneten Konflikt durch andere als staatliche Truppen ist dabei kein Novum, auch wenn Wagner neue, gräuliche Maßstäbe zu setzen scheint. Organisierte Gruppen, die Gewalt im Krieg anwenden, werden schon immer eingesetzt. Nicht nur Wallensteins Söldner, die Schweizer Garde oder die französische Fremdenlegion passen in diese Kategorie, sondern auch die U.S.-amerikanischen Firmen Blackwater und DynCorp, die im Kampf gegen den Terror ab 2001 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Söldner, so sagt man, streiten sich mit der Prostitution darum, wer das älteste Gewerbe der Welt sei. Was Wagner allerdings so besonders macht, ist ihr Einsatz gegen den Westen und die Interessen der NATO. Bisher wurden „Söldner“ vor allem vom Westen für die eigenen Interessen eingesetzt – und nicht im Konflikt gegen sie. Daher eröffnet der Fall Wagner die Möglichkeit neuer politischer und auch moralischer Bewertungen.

Trotz der Ähnlichkeit: Wagner-Mitglieder sind keine Söldner

Die Wagnerianer sind jedoch keine Söldner. Sie sind PMCs, was ihren Einsatz für die Nutznießer profitabler und risikoärmer, aber gleichzeitig auch unberechenbarer macht.

Söldner sind nach Art. 47 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 weder Kombattanten noch Kriegsgefangene. Daher haben sie im Krieg oder nach ihrer Gefangennahme keine Privilegien und für den Umgang mit ihnen gelten nur die elementarsten (humanitären) Grundsätze (Art. 75 ZP I). Der Einsatz von Söldnern wird international verurteilt, wie aus Art. 47 ZP I (der vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Einsatz von Söldnern in der Zeit der Dekolonialisierung verfasst wurde) und die Anti-Söldner-Konvention der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union deutlich wird. Letztere nutzen fast dieselbe Definition für Söldner, verbieten aber auch Ausbildung, Einsatz und Bezahlung von Söldnern. Allerdings sind die Söldnerkonventionen nicht von vielen Staaten ratifiziert worden, insbesondere nicht von Russland, den USA oder Großbritannien, wohl aber von der Ukraine, die nach der russischen Besetzung der Krim 2014 den Dispositar darüber notifizierte, dass sie die Anwendung und Umsetzung der U.N.-Konvention im Krim-Gebiet nicht garantieren könne, solange die Ukraine nicht ihre volle Souveränität zurückerhalte.

Was nun aber ist ein Söldner? Zunächst einmal ist ein Söldner eine Einzelperson und keine Gruppenkategorie. Als Söldner gilt,

a) wer im Inland oder Ausland zu dem besonderen Zweck angeworben ist, in einem bewaffneten Konflikt zu kämpfen,

b) wer tatsächlich unmittelbar an Feindseligkeiten teilnimmt,

c) wer an Feindseligkeiten vor allem aus Streben nach persönlichem Gewinn teilnimmt und wer von oder im Namen einer am Konflikt beteiligten Partei tatsächlich die Zusage einer materiellen Vergütung erhalten hat, die wesentlich höher ist als die den Kombattanten der Streitkräfte dieser Partei in vergleichbarem Rang und mit ähnlichen Aufgaben zugesagte oder gezahlte Vergütung,

d) wer weder Staatsangehöriger einer am Konflikt beteiligten Partei ist noch in einem von einer am Konflikt beteiligten Partei kontrollierten Gebiet ansässig ist,

e) wer nicht Angehöriger der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei ist und

f) wer nicht von einem nicht am Konflikt beteiligten Staat in amtlichem Auftrag als Angehöriger seiner Streitkräfte entsandt worden ist.

Die Voraussetzungen von lit. (a) und (b) werden von den Mitgliedern der Wagner-Gruppe ohne weiteres erfüllt, ebenso wie (e) und (f), denn Wagnerianer sind (noch) keine Mitglieder der Streitkräfte Russlands. Die Eingliederung in die Streitkräfte ist ein formaler Prozess, dessen Einzelheiten der nationalen Gesetzgebung obliegen. Es besteht aber internationaler Konsens darüber, dass es nicht ausreicht, allein im Namen oder im Interesse eines Staates zu kämpfen (siehe Art. 43 ZP I). Das Angebot von Präsident Putin, einzelne Wagner-Kämpfer in das Militär zu integrieren, würde sie zu Mitgliedern der Streitkräfte machen und damit jede Diskussion über Söldnertum oder private Gewalt beenden, da sie zu Soldaten und damit zu Kombattanten werden würden.

Dennoch sind die Wagnerianer keine Söldner, denn zum einen sind sie – in überwiegender Zahl – russische Staatsbürger. Das widerspricht lit. (d), die den Söldnerstatus für all diejenigen ausschließt, die im Gebiet einer Konfliktpartei ansässig sind oder dessen Staatsangehörigkeit innehaben. Bei jedem internationalen Konflikt mit russischer Beteiligung ist es daher fast ausgeschlossen, dass Wagner-Mitglieder als Söldner gelten. Da Art. 47 ZP I nur für den internationalen bewaffneten Konflikt gilt, können sie erst recht in inner-russischen Konflikten nicht als Söldner gelten.

Erschwerend hinzu tritt lit. (c). Die als völlig misslungen geltende Formulierung lässt fast alle Versuche, Söldner zu überführen, in Beweisprobleme laufen. Der Militärhistoriker Geoffrey Best fasste die Probleme der Norm in folgendem Bonmot zusammen: „any mercenary who cannot exclude himself from this definition deserves to be shot—and his lawyer with him“.

Keine Söldner – trotzdem ein Problem

Das Wagnerianer keine Söldner sind, macht die Sache aber weder weniger gefährlich, noch rechtlich klarer. Das Verhalten von Wagner und die Gefahren privater Gewalt sind nicht kleiner, nur weil sie nicht unter das Label „Söldner“ passen. PMCs können genau die gleichen Leistungen anbieten und durchführen wie Söldner. Der einzige wirkliche Unterschied besteht darin, dass PMCs völlig unreguliert sind. Und das ist – offensichtlich – keine gute Differenz.

Alle internationalen Bemühungen, den Einsatz privatisierter Gewalt einzudämmen, einschließlich der Gefahr mangelnder staatlicher Verantwortung, des Fehlens individueller strafrechtlicher Verantwortung oder der Sorge um die Opfer, kumulieren sich in den Söldnerkonventionen, Art. 47 ZP I und einigen UN-Menschenrechtsmechanismen. Regulierungsbemühungen von PMCs sind mehrfach auf vielen Ebenen gescheitert, z.B. in der „Open-ended intergovernmental working group to consider the possibility of elaborating  (sic) an international regulatory framework on the regulation, monitoring and oversight of the activities of private military and security companies relating to the activities of private military and security companies“ der Vereinten Nationen, in der die USA, Großbritannien, Russland und andere das Mandat zur Ausarbeitung einer verbindlichen Regulierung blockierten. Die neue Working Group hat nunmehr nur noch das Mandat, einen unverbindlichen Vorschlag zu unterbreiten. Auf der letzten Sitzung im April 2023 wurde Wagner zwar erwähnt, aber nicht eingehend erörtert (Russlands Vertreter erklärte: “Die Diskussionen in der Arbeitsgruppe sollten professionell und unpolitisch geführt werden”). Ein weiterer Grund für die fehlende Motivation, ein neues Instrument zu entwickeln, ist die Existenz des ebenso unverbindlichen Montreux-Dokuments, einer Zusammenfassung bestehender (unspezifischer) Verpflichtungen und bewährter Praktiken für Staaten und PMCs, die vom IKRK, der Schweiz und 16 anderen Staaten entwickelt und bis heute von 58 Staaten unterzeichnet wurde.

Die Wirkung des falschen Versprechens und eine Chance zur Regulierung

Doch so gut und edel die Absichten auch sein mögen, das Montreux-Dokument und andere unverbindliche Initiativen lenken von der Tatsache ab, dass es an harten, verbindlichen und durchsetzbaren Regelungen bezüglich PMCs fehlt. Es gibt keine Regeln über Aufsicht, es gibt keine Anweisungen für die Anwendung von Gewalt, es gibt keine Vorgaben für ein Minimum an Verantwortung oder Führung. Die individuelle Verantwortlichkeit von PMCs ist gering bis nicht vorhanden, manchmal aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Rechtsverfolgung durch die Schwächung des Staates durch den Konflikt auf ihrem Gebiet (hier sind die Bemühungen der Ukraine eine bewundernswerte Ausnahme); manchmal weil zwischen dem entsendenden Staat und dem Gaststaat Abkommen geschlossen werden, die eine straf- und zivilrechtliche Haftung für jegliches Fehlverhalten ausschließen. Die prominentesten (und fast einzigen) verurteilten PMCs der vergangenen Jahre wurden von Präsident Trump in seinen letzten Tagen im Amt begnadigt. Kurzum: Gut gemeinte unverbindliche Instrumente sowie die Kumulation wirklicher Regulierung unter dem Söldner-Label führen dazu, dass der falsche Anschein erweckt wird, dass private Gewalt reguliert ist und im Zaum gehalten wird – was nicht der Fall ist. Dies ist ein hausgemachtes Problem des Westens, vor allem der USA und Großbritanniens, die am meisten PMCs einsetzten und beherbergen. Bislang schien es diesen Staaten nicht nötig, etwas zu regulieren, dessen unkontrollierte Verwendung in erster (und zweiter, dritter, vierter…) Linie von Vorteil war.

Das muss sich ändern. Der Einsatz und die Brutalität von PMCs haben schon lange vor Wagner deutlich gemacht, wie dringend ihre Regulierung ist (man denke nur an die Kinderprostitutionsringe in Bosnien, die Folter von Abu Ghraib oder das Massaker am Nisour Square). Aber vielleicht kann der gescheiterte Aufstand Wagners in Russland allen Staaten vor Augen führen, dass private Militärdienstleister reguliert werden müssen – denn sie könnten nach langer Ausbildung, enger Zusammenarbeit mit dem Militär und Staatsschutzapparaten und mit teils hervorragender Ausrüstung in der Lage sein, ihre eigenen Auftraggeber physisch zu überwältigen.

Auch wenn der Aufstand Wagners keinen Regimewechsel (inklusive zu befürchtender Radikalisierung) in Russland herbeiführen konnte, kann er vielleicht das Momentum geben, sich dem falschen Versprechen der Kontrolle anzunehmen und damit zu beginnen, PMCs und ihre Auftraggeber zu regulieren. Der 24. Juni hat gezeigt, dass das Gewaltmonopol nicht nur von Rostow am Don nach Moskau laufen kann, sondern auch durch die Finger rinnt, wenn man es zu sehr aus der Hand gibt.


SUGGESTED CITATION  Stein, Sarah Katharina: Wagner ist keine Söldnertruppe: Und das ist nicht so gut, wie es auf den ersten Blick klingt, VerfBlog, 2023/6/30, https://verfassungsblog.de/wagner-ist-keine-soldnertruppe/, DOI: 10.17176/20230630-231116-0.