Wahlen in Zeiten von Corona
Zur „Infektionsschutzfestigkeit“ des Wahlrechts
15. März 2020 – Kommunalwahlen in Bayern im Zeichen der Corona-Krise
Die Ausbreitung des Coronavirus, die mittlerweile als Pandemie eingestuft wird, schränkt das öffentliche Leben weltweit und auch in Deutschland immer weiter ein. Auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), das früher einmal „Bundesseuchengesetz“ hieß, wurden und werden zum Teil tief in Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifende Maßnahmen getroffen, insbesondere die Quarantäne angeordnet (§ 30 IfSG). Das infektionsschutzrechtliche Handlungsinstrumentarium, das den Landesbehörden, nicht indes dem Bund zur Verfügung steht, ist denkbar weit gefächert und letztlich nur durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkt. Im zugespitzten Ernstfall könnten die Landesregierungen auch eine allgemeine Ausgangssperre per Rechtsverordnung anordnen (§ 32 IfSG), um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Nun finden am kommenden Sonntag, den 15.3.2020, im Freistaat Bayern Wahlen statt, genauer die Kommunalwahlen. In nahezu allen Gemeinden und Landkreisen werden – gleichzeitig – die Bürgermeister, Landräte, Gemeinderäte und Kreisräte neu gewählt. Mehr als 10 Millionen stimmberechtigte Personen sind zur Wahl aufgerufen. Viele von ihnen kommen gleichzeitig in den Wahllokalen zusammen, warten gemeinsam auf freiwerdende Wahlkabinen, machen ihre Kreuze in den denselben Wahlkabinen und benutzen dieselben Stifte. Wahlhelferinnen und Wahlhelfer verbringen einen ganzen Tag in den Wahlräumen und kommen in Kontakt mit Tausenden von Menschen. Auch Wahlen sind daher Großveranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen, die nach einem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung zu untersagen sind und auch reihenweise abgesagt werden.
Also auch die Kommunalwahlen am kommenden Sonntag? Und wenn die Wahl stattfindet, dürfen oder können auch unter Quarantäne stehende Menschen wählen? Wie gestaltet man den Wahlakt, um dabei das Infektionsrisiko zu minimieren? Eine Fülle von rechtlichen und praktischen Fragen, die man sich in Deutschland bisher nicht gestellt hat, türmt sich auf: von der Zuständigkeit für die Absage bzw. Verschiebung einer Wahl bis hin zur Zulässigkeit der Verwendung eines eigenen, selbst mitgebrachten Stifts in der Wahlkabine.
Das Wahlrecht gibt dazu nur beschränkt ausdrücklich Auskunft. Dies gilt nicht nur für das bayerische Kommunalwahlrecht, sondern auch für die Wahlrechtsgesetze auf Landes- und Bundesebene. Und auch das Infektionsschutzrecht sagt nichts zur Durchführung von Wahlen im „Seuchenfall“. Erfahrungen damit und „Blaupausen“ gibt es in Deutschland auch nicht, weder auf Bundes- oder Landes- noch auf kommunaler Ebene. Es bleibt daher gar nichts anderes übrig als die Fragen nach Maßgabe des geltenden Wahlrechts zu beantworten. Dabei hilft als verfassungsrechtliche Auslegungsdirektive das Gebot praktischer Konkordanz, des schonenden Ausgleichs von Krankheitsbekämpfung (Art. 2 Abs. 2 GG) und Wahlrecht (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG).
Absage und Verschiebung der Kommunalwahlen?
Die Kommunalwahlen finden in Bayern für alle Kommunen am selben Tag statt. Nach Art. 9 des Bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes finden die „allgemeinen Gemeinde- und Landkreiswahlen“ an einem Sonntag im März statt (alle sechs Jahre). Den genauen Wahltag legt die bayerische Staatsregierung sechs Monate vorher fest (diesmal der 15.3.). Zwar könnte die Staatsregierung den Wahltag noch ändern, nicht jedoch über den März hinaus verschieben, da die Wahlen eben an „einem Sonntag im März“ stattfinden müssen.
Eine generelle Absage der Wahlen kommt als nach dem bayerischen Kommunalwahlrecht also nicht in Betracht, eine Verschiebung auf maximal den 29.3.2020 wäre möglich. Eine generelle Verschiebung der Wahlen auf März 2021 würde an der gesetzlich festgesetzten Amtsdauer von sechs Jahren scheitern, die 2020 endet.
Es stellt sich aber die nicht leicht zu beantwortende Frage, ob eine Verschiebung der Kommunalwahlen auf das Infektionsschutzgesetz gestützt werden könnte. In der Tat gibt § 32 IfSG den Landesregierungen die Möglichkeit, durch Rechtsverordnung weitere Maßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen, wozu auch die Verschiebung einer Kommunalwahl gehören könnte. Doch wie verhalten sich Wahl- und Infektionsschutzrecht zu einander? Ist ersteres nicht lex specialis und abschließend? Ist das Wahlrecht nicht auch – so wie es „polizeirechtsfest“ ist – auch „infektionsschutzrechtsfest“? Eine offene Frage. Allerdings hat man auch ein ungutes Gefühl dabei, Wahlen durchzuführen, bei denen ein erhebliches Infektionsrisiko oder eine verschwindend geringe Wahlbeteiligung zu erwarten wäre.
Verschiebung der Wahl in einzelnen Kommunen?
Da Kommunalwahlen für jede Gemeinde und für jeden Landkreis gesondert stattfinden (nur eben am selben Tag) könnte eine Wahlverschiebung auch für einzelne Kommunen im Betracht kommen, wenn dies dort infektionsschutzrechtlich angezeigt wäre. Hierfür hält das Wahlrecht mit dem Institut der Nachwahl sogar eine Anknüpfungsmöglichkeit bereit.
Dieses könnte auf den Fall erstreckt werden, dass eine Wahl aus Gründen eines epidemischen oder pandemischen Infektionsgeschehens nicht stattfindet. Die Rechtsgrundlage für die Verschiebung selbst wäre – wiederum – im Infektionsschutzgesetz zu suchen (§ 28 oder § 32 IfSG).
Ausübung des Wahlrechts trotz Quarantäne
Finden die Wahlen – wovon nach der gegenwärtigen Informationslage auszugehen ist – am kommenden Sonntag statt, so ist es allen Wahlberechtigten zu ermöglichen, an der Wahl teilzunehmen. Wie liegt es aber bei Wahlberechtigten, die sich in Quarantäne befinden (§ 30 IfSG)?
Klar ist, dass infizierte Personen durch ihre Erkrankung vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen sind. Klar ist auch, dass die Quarantäne als solche nicht zum Ausschluss vom Wahlvorgang führen darf. Vielmehr ist im Sinne praktischer Konkordanz von Infektionsschutz und Wahlrecht zu unterscheiden: Ist die Quarantäne eine häusliche, so ist – wenn dies im Hinblick auf die Ansteckungslage fachlich vertretbar ist – für den Wahlvorgang Befreiung von der Quarantäne zu gewähren.
Daneben besteht die Möglichkeit der Briefwahl. Diese ist, wenn die Quarantäne kurzfristig angeordnet wird, auch noch bis kurz vor dem Wahlvorgang realisierbar. Das Wahlverfahren kann praktisch so gestaltet werden, dass der sich in Quarantäne befindliche Wahlberechtigte durch einen Bevollmächtigten oder Boten die Wahlunterlagen vom Wahllokal bringen und wieder zurückbringen lässt.
Befindet sich der Wahlberechtigte gemeinsam mit mehreren Personen in einer stationären Quarantäne (z.B. in einem Krankenhaus oder in einer sonstigen Einrichtung), so hält das Wahlrecht auch dafür Wege zur Ermöglichung der Stimmabgabe bereit: So sind in den Wahlordnungen sog. „bewegliche Wahlvorstände“ zur Stimmabgabe vor allem in Krankenhäusern vorgesehen (§ 4 der bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlordnung; eine ähnliche Vorschrift findet sich für die Bundestagswahlen in § 8 der Bundeswahlordnung).
Bei einem flexiblen Einsatz solcher Instrumente dürfte es sich realisieren lassen, jedem in Quarantäne befindlichen Wahlberechtigten die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dadurch lässt sich die gebotene praktische Konkordanz zwischen Wahlrecht und Infektionsschutz herstellen.
Beseitigung faktischer Wahlhindernisse
Wer eine Infektion fürchtet, wird sich vielleicht nicht ins Wahllokal begeben, sondern im Schutzbereich der eigenen „vier Wände“ verbleiben. Die Wahlbeteiligung droht aus Infektionsangst abzusacken.
Zwar ist eine bestimmte Wahlbeteiligung nicht Voraussetzung für die Gültigkeit der Wahl, jedoch für die politische Legitimation der gewählten Personen bedeutsam. Insofern haben Wahlbehörden und Wahlleiter im Rahmen der wahlordnungsrechtlichen Vorschriften für ein hohes Maß an Infektionsschutz zu sorgen: So kann es ermöglicht werden, für den Wahlvorgang einen eigenen Stift mitzubringen, oder im Wahllokal steht für jeden Wahlberechtigten auf dessen Wunsch hin ein eigenes Schreibgerät bereit.
Die Wahlurnen können in kurzen Abständen desinfiziert werden. Die räumliche Situation kann so gestaltet werden, dass bei hohem Andrang im Wahllokal die Wartenden so „geschleust“ werden, dass sie in hinreichendem Abstand zu einander warten können. Entsprechende Sicherungsmaßnahmen sind auch für die Wahlhelfer im Wahllokal vorzusehen.
Wahl in der Krise als Chance
Die Kommunalwahlen in Bayern am 15.3. sind die ersten Wahlen nach dem epidemischen Corona-Ausbruch in Deutschland. Sie bieten die Chance zu zeigen, dass auch in der Krisensituation demokratische Wahlen sicher und zuverlässig durchgeführt werden. Das Wahlrecht hält Möglichkeiten bereit, auch unter Quarantäne stehenden Menschen die Stimmabgabe zu ermöglichen. Die Wahl am kommenden Sonntag kann eine „Blaupause“ sein für künftige Wahlen in Krisenfällen auch auf Bundes- oder Landesebene.
Deshalb bedarf es einer entsprechenden Evaluation der bayerischen Kommunalwahlen in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht: Welche Änderungen sind im Wahlrecht erforderlich, um eine Wahl auch unter dem Regime einer Epi- oder Pandemie mit vertretbaren Risiken praktisch durchführen zu können. Helfen da Online-Wahlen?
Wünschenswert (und eine Aufgabe für die Staatsrechtslehre) wäre es auch, das nicht zweifelsfreie Verhältnis von Wahlrecht und Infektionsschutzrecht theoretisch wie praktisch zu klären. Alles in allem ist die bayerische Kommunalwahl am kommenden Sonntag nicht nur eine Wahl in der Krise, sondern auch eine Chance für die Bewährung unserer demokratischen Strukturen im Krisenfall.
Vielen Dank für den Beitrag! In Frankreich sollen am Sonntag auch Kommunalwahlen stattfinden. Bei Le Monde wird diskutiert, u.a. ob ein “état d’urgence” oder die Voraussetzungen für die Ausnahmebefugnisse nach Art. 16 der französischen Verfassung vorliegen könnten (s. https://www.lemonde.fr/politique/article/2020/03/12/coronavirus-peut-on-encore-annuler-les-elections-municipales_6032820_823448.html).
Selbst mitgebrachter Stift ist sowieso zulässig; es gibt überhaupt keinen Anspruch drauf, dass amtlicherseits einer zur Verfügung gestellt wird (ist bloß eine Sollvorschrift).
Sehr zweifelhaft ist übrigens die Zwangsbriefwahl, die für die Stichwahlen angeordnet werden soll. Selbst wenn es nur zwangsweise Ausstellung von Wahlscheinen sein sollte, ist damit wohl die nachträgliche Änderung von Stimmbezirken nötig, und Nichterhalt resultiert direkt in Ausschluss von der Wahl.
Vielen Dank für die fachjuristischen Überlegungen. Wie viele potentielle Übertragungskontakte wird es zwischen Wahlhelfern und Wählern geben, weil man so handelt? Ich würde mal sagen, bayernweit gerechnet sehr, sehr viele – und mit Sicherheit zusätzliche Infektionen. Ich denke, die Erhaltung der Gesundheit der Menschen geht weit von der Bedeutung weit über Ihre theoretischen Überlegungen. Und keine Maßnahme wird das verhindern. Voralberg hat gezeigt, dass andere Staaten hier andere Prioritäten setzen. Sie ebenso wie die Bayerische Staatsregierung nicht. Interessant wäre zu wissen, ob Sie selbst am Wahltag auch im Wahllokal herum sitzen und so mit vielen Leuten in Berührung kommen. Kennen Sie Zahlen, wie viele Wahlhelfer momentan schon ausfallen wegen Krankheit oder Quarantäne? Dass die Kommunen schwimmen wegen der Entscheidung der Politik? Sind solch praktische Probleme für Juristen nicht relevant?
Eine Wahl ist eine Großveranstaltung mit über 1000 Personenen. Das wissen alle.
Und diese sogar große Großveranstaltung wird mit dazu beitragen, dass Gesundheitssystem in Bayern zusätzlich zu belasten. Von den Bayern/Deutschen werden ab Montag große Opfer (nicht theoretische, sondern reale wirtschaftliche Opfer) abverlangt und am Sonntag davor verspielt man schon einen Teil vom gewünschten Resultat, nämlich das Gesundheitssystem zu entlasten.
Wir sollten uns ein Beispiel an Voralbarg nehmen.
Soziale Kontakte müssen zur Entlastung des Gesundheitssystems für einige Zeit bis auf das Minimum reduziert werden. Eine massenweise Erhöhung ist nicht zielfördernd.
> Helfen da Online-Wahlen?
Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Wahlcomputerurteil im Jahr 2009 festgestellt, dass die Nachvollziehbarkeit des Zustandekommens eines Wahlergebnisses von allen Menschen “ohne besondere Sachkenntnis” möglich sein muss.
In mehr als einem Jahrzehnt hat es seitdem kein elektronisches Wahlsystem gegeben, das dieser Anforderung gerecht geworden wäre. Eine Online-Wahl ist ein Wahlcomputersystem, das sich über das Internet und alle Computer der beteiligten Wähler verteilt.
Das Zustandekommen des Ergebnises in einem solch komplizierten Netzwerk kann von absolut *niemanden* mehr nachvollzogen werden. Auch von uns Informatikern, also den Leuten *mit* besonderer Sachkenntnis ist das nicht mehr nachzuvollziehen.