Wahlrechtsgrundsätze als Säulen der innerparteilichen Demokratie
Der Bundeswahlausschuss hat heute die Entscheidung des saarländischen Landeswahlausschusses bestätigt, die Landesliste der Grünen im Saarland nicht zur Wahl zuzulassen. Zu Unrecht wurde diese Entscheidung auf den Ausschluss der Delegierten aus Saarlouis für die Landesvertreterversammlung gestützt. Die Entscheidung ist aber im Ergebnis richtig, weil das Frauenstatut der Grünen mit elementaren Wahlrechtsgrundsätzen unvereinbar ist.
Querelen um die Anwendung des Frauenstatuts
Interne Querelen haben dem saarländischen Grünen-Landesverband in den letzten Wochen erhebliche bundesweite öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Im Fokus der Diskussion stand dabei das Frauenstatut der Grünen. Nach dem Prinzip der Mindestquotierung sind Listen mindestens zur Hälfte mit Frauen zu besetzen, wobei Frauen die ungeraden Plätze vorbehalten bleiben (§ 1 Abs. 1). Kommt eine Wahl von Frauen auf diesen Plätzen nicht zustande, kann die Versammlung von der Regel abweichen, wobei Frauen in einem „Frauenvotum“, an dem nur Frauen mitwirken dürfen, ein Veto geltend machen können (§ 1 Abs. 2 i. V. m. § 3). Das Saarland gehört nicht zu den Hochburgen der Grünen, sodass die Partei bisher immer nur von einem Abgeordneten vertreten war. Entgegen dem Frauenstatut (Platz 1 = ungerade) war das über Jahre mit Markus Tressel ein Mann. Nachdem dieser auf eine weitere Kandidatur verzichtet hatte, kam es jetzt zu einem Machtkampf, bei dem sich zunächst der langjährige Landesvorsitzende Hubert Ulrich in mehreren Kampfabstimmungen gegen die junge Juristin Jeanne Dillschneider durchgesetzt hatte. In der Folge erklärte das Bundesschiedsgericht der Grünen die Listenwahl allerdings für ungültig. Bei einer weiteren Landesvertreterversammlung wurde dann schließlich, nunmehr im Einklang mit dem Frauenstatut, Dillschneider an die Spitze der Liste gewählt.
Die Wahl ging diesmal offenkundig durch, weil das Bundesschiedsgericht der Grünen den Ausschluss der Delegierten aus Saarlouis, dem Kreisverband Ulrichs, verfügt hatte. Dieser Delegiertenausschluss steht auch im Mittelpunkt der Entscheidung des Bundeswahlausschusses, die Landesliste der Grünen letztlich nicht zur Wahl zuzulassen. Vor dem Bundeswahlausschuss war unstreitig, dass mehrere Parteimitglieder aus anderen Kreisverbänden nicht als Gäste zu der Mitgliederversammlung in Saarlouis zugelassen worden waren, auf der die Delegierten für die Landesvertreterversammlung gewählt wurden. Auch der Presse blieb nach dem oben verlinkten Bericht des Tagesspiegels der Zugang zur Delegiertenaufstellung verwehrt.
Der Bundeswahlausschuss hielt dies allerdings für keinen Grund, die Delegierten aus Saarlouis von der Vertreterversammlung auszuschließen und erkannte hierin eine Verletzung elementarer demokratischer Grundsätze. Die Diskussion im Bundeswahlausschuss dreht sich dabei um das Verhältnis von staatlichem Wahlrecht zu Parteisatzungsrecht. Die Mehrheit ging schließlich davon aus, dass ein nur innerparteilich satzungsrechtlich geregeltes Transparenzgebot den Ausschluss von Delegierten von einer Vertreterversammlung nicht rechtfertigen könne. Die Entscheidung geht an der Rechtslage vorbei, weil es auf ein satzungsrechtliches Transparenzgebot gar nicht ankam.
Wahl der Delegierten in Saarlouis verstieß gegen Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl
Denn die Wahl der Delegierten in Saarlouis verstieß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl. Dieser ist vom Bundesverfassungsgericht anlässlich einer Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Verwendung von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl entwickelt und unmittelbar aus dem Demokratieprinzip abgeleitet worden. Danach ist die Öffentlichkeit der Wahl „eine Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung. Sie sichert die Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge und schafft damit eine wesentliche Voraussetzung für begründetes Vertrauen der Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl“ (BVerfGE 123, 39 [68]). Öffentlichkeit der Wahl meint hier natürlich nicht, dass die Wähler ihre Stimmabgabe öffentlich machen müssten. Vielmehr geht es darum, dass der gesamte maßgebliche Wahlprozess von jedem Wahlberechtigten beobachtet werden kann, sodass sich jeder selbst vergewissern kann, dass keine Manipulationen stattfinden.
Ausdrücklich betont das BVerfG, dass sich der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl nicht nur auf die Wahlhandlung und Wahlauszählung, sondern auch schon auf das Wahlvorschlagsverfahren bezieht. Bis heute ist nicht im Einzelnen geklärt, welche Fehler bei der Kandidatenaufstellung zugleich einen Wahlfehler begründen. Das BVerfG hat in einer schon älteren Entscheidung eher vage betont, dass bei der Kandidatenaufstellung der Parteien jedenfalls die „elementaren Regeln“ beachtet werden müssten (BVerfGE 89, 243 [253]). Das Gericht nimmt bei dieser zurückhaltenden Prüfung die Gefahr in den Blick, dass einzelne Parteien eventuell sogar ganz bewusst durch Fehler bei der Wahlaufstellung die Gültigkeit der Wahl gefährden könnten. Tatsächlich zeigt der vorliegende Fall die Gefahr einer Ausdehnung des Wahlfehlerbegriffs ins Wahlvorfeld, weil interne Querelen einer einzelnen Partei im Extremfall eine Wiederholung der eigentlichen Wahl, hier also der Bundestagswahl, erforderlich machen könnten.
Wahlprüfung bezieht sich auch auf die parteiinterne Kandidatenaufstellung
Eine radikale Lösung dieses Problems bestünde darin, Wahlfehler innerhalb der Parteien für unerheblich zu erklären und die Wahlprüfung auf das staatliche Verfahren zu beschränken. Diesen Weg hat das BVerfG zu Recht nicht eingeschlagen, weil er das Gebot innerparteilicher Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) völlig aushöhlen würde. In der Parteiendemokratie ist die Chance des einzelnen Bürgers, selbst in ein Parlament gewählt zu werden, so eng an die Parteien gebunden, dass die passive Wahlfreiheit und -gleichheit nur effektiv durchgesetzt werden können, wenn die Kontrolle im Wahlprüfungsverfahren auch die innerparteiliche Kandidatenaufstellung in den Blick nimmt. Schließlich hat aber auch jeder Bürger – ob selbst Wahlbewerber oder nicht – einen Anspruch darauf, zwischen demokratisch bestimmten Kandidaten wählen zu können.
Jeder Wahlberechtigte kann Fehler im Wahlverfahren mit der Wahlprüfungsbeschwerde angreifen. Ihr Gegenstand können auch die Verletzung elementarer Wahlrechtsgrundsätze bei der Kandidatenaufstellung durch die Parteien sein. In der erwähnten Entscheidung von 1993 erkannte das BVerfG einen solchen elementaren Wahlrechtsverstoß darin, dass einem CDU-Kandidaten lediglich drei Minuten Redezeit zu seiner Vorstellung eingeräumt worden waren (BVerfGE 89, 243 [260]). Schon bei der Delegiertenaufstellung sind elementare Wahlrechtsverstöße nicht auszuschließen. Der einzelne Wahlberechtigte kann sich nur dann von der Ordnungsgemäßheit des Verfahrens überzeugen, wenn er Zugang zu den maßgeblichen Aufstellungsversammlungen erhält. Finden diese unter Totalausschluss der Öffentlichkeit statt, besteht gar nicht erst die Chance, einen Wahlrechtsverstoß festzustellen, um diesen dann im Wahlprüfungsverfahren rügen zu können. Genau hier setzt der verfassungsrechtliche Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl an. Danach ist allerdings nicht nur eine Parteiöffentlichkeit geboten, sondern der grundsätzlich freie Zutritt jedes Wahlberechtigten als Gast zur Beobachtung parteiinterner Kandidatenaufstellung einschließlich der vorgelagerten Delegiertenwahl.
Folgen einer Verletzung von Wahlrechtsgrundsätzen bei der Kandidatenaufstellung
Wenn ein Gebietsverband, wie in Saarlouis geschehen, elementare Wahlgrundsätze verletzt, können die dort gewählten Delegierten nicht an einer besonderen Vertreterversammlung (§ 21 Abs. 1 S. 3 BWG) wie hier der Landesvertreterversammlung im Saarland teilnehmen. Andernfalls würde sich nämlich der Wahlfehler im weiteren Wahlverfahren bis hin zur Bundestagswahl selbst fortsetzen und wäre schließlich im Wahlprüfungsverfahren rügefähig. Das bedeutet aber nicht, dass die Vertreterversammlung wegen des Fehlers bei der Delegiertenaufstellung nicht mehr stattfinden dürfte. Andernfalls wären Wahlfehler in einem einzigen Gebietsverband ausreichend, um die Aufstellung einer Landesliste zu verhindern. Einzelne Gebietsverbände könnten sogar ganz bewusst die Aufstellung einer Landesliste torpedieren, indem sie ihr Verfahren nicht oder fehlerhaft abhalten. Damit würden die demokratischen Beteiligungsrechte der übrigen Verbände und ihrer Delegierten genauso verletzt wie das Recht der Wähler, die von ordnungsgemäß gewählten Delegierten aufgestellten Wahlbewerber zu wählen.
Gerade weil das BVerfG die Wahlprüfung auf sämtliche Abschnitte des Wahlverfahrens erstreckt, müssen Wahlfehler jeweils auf der untersten Ebene abgestellt werden; sie berühren die Gültigkeit übriger Wahlhandlungen nicht. Stellt ein Kreisverband seine Delegierten nicht ordnungsgemäß auf, so sind diese von der Landesvertreterversammlung auszuschließen, ohne dass damit die Gültigkeit des Wahlvorschlags der übrigen Delegierten der Landesvertreterversammlung berührt wäre. Das gleiche Prinzip wendet übrigens – insofern zu Recht – auch der Bundeswahlausschuss an. Denn die Nichtzulassung der grünen Landesliste im Saarland führt natürlich nicht dazu, dass die Wahl zwischen den übrigen Landeslisten jetzt nicht mehr stattfinden dürfte, sondern sie wird jetzt unter Ausschluss der Grünen zwischen den übrigen Parteien stattfinden.
Wahlrechtsverstöße durch das Frauenstatut der Grünen
Das ist im Ergebnis auch richtig. Gegen elementare demokratische Grundsätze verstößt nämlich das Frauenstatut der Grünen. Nach der zutreffenden einschlägigen landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sind so genannte Parité-Gesetze, die den Parteien eine geschlechterparitätische Besetzung ihrer Landeslisten vorschreiben, verfassungswidrig (dazu im Überblick Friehe NVwZ 2021, 39 ff.). Denn Demokratie beruht auf der gemeinsamen Willensbildung eines Volkes, das sich aus der Vielfältigkeit ganz unterschiedlicher Menschen zu einer politischen Schicksalsgemeinschaft verbunden hat – e pluribus unum. Deswegen verletzen Paritätsregelung nicht nur Wahlfreiheit und -gleichheit, sondern auch den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Dieser verbietet, das Wahlvolk nach bestimmten sozialen Gruppen in Teilelektorate aufzuspalten.
Zwar wird vielfach angenommen, Paritätsregelungen in Parteisatzungen rechtfertigten sich aus dem Prinzip der Parteifreiheit (so in einer Randbemerkung ThürVerfGH, NVwZ 2020, 1266 [1267]; andeutungsweise BVerfG [K] 2 BvR 3058/14 Rn. 25 mwNw). Ein solcher programmatischer Rabatt für die Beachtung von Wahlrechtsgrundsätzen durch Parteien kann allerdings nicht überzeugen. Mit entsprechender Argumentation ließen sich noch ganz andere Einschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze durch innerparteiliche Regelungen rechtfertigen. Wie etwa wäre eine Satzungsregelung zu bewerten, wonach vordere Listenplätze für Kandidaten unter 30 Jahren reserviert wären? Für Kandidaten mit Migrationshintergrund? Dass die Fähigkeit zur Kandidatur vom Bestehen einer vorherigen Prüfung abhängig gemacht wird? Dass eine bestimmte Mindestmitgliedsdauer absolviert wurde? Dass eine erneute Kandidatur nach zwei Legislaturperioden im Parlament ausgeschlossen ist?
Im Fall des Frauenstatuts der Grünen kommt noch hinzu, dass es die ungeraden Plätze stets für Frauen reserviert. Im Falle kleinerer Landesverbände, denen nur ein aussichtsreicher Listenplatz zur Verfügung steht, kommt dies einem – wenn man sich denn an das Statut hält – faktischen Ausschluss von Männern in dem entsprechenden Verband von einem Bundestagsmandat gleich.
Fazit und Ausblick
Das letzte Wort über die saarländische Landesliste der Grünen wird wohl nach der Wahl das BVerfG im Wahlprüfungsverfahren sprechen. Das Gericht wird damit die Gelegenheit erhalten, seine Rechtsprechung zu Wahlfehlern und ihren Folgen bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung zu schärfen. Dabei sollte Karlsruhe die Wahlrechtsgrundsätze auch für das innerparteiliche Verfahren stärken. Gerade in Zeiten zunehmender politische Polarisierung ist es wichtig, dass sich die Legitimation des Bundestages auf allgemeinverbindliche Wahl- und Verfahrensgrundsätze stützen kann. Das gilt für die Öffentlichkeit der Wahl genauso wie für Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl.
Der Autor dankt Frau Prof. Dr. Anika Klafki für wertvolle Hinweise und kontroversen Austausch zur Parité.
Der Beitrag überzeugt mich nicht. Die in Bezug genommene Entscheidung BVerfG 123, 39 betraf nicht die Kandidat*innenaufstellung einer Partei, sondern die Durchführung des staatlich organisierten Wahlakts. Es gibt keinen Grundsatz, dass auch die Kandidat*innenaufstellung einer Partei öffentlich sein müsste. § 21 Abs. 3 (i.V.m. § 27 Abs. 5) BWahlG, der die Wahlrechtsgrundsätze enthält, sieht dieses nicht vor und legt nur fest: (Satz 1): “Die Bewerber und die Vertreter für die Vertreterversammlungen werden in geheimer Abstimmung gewählt.” Wenn die Kandidaten*innenaufstellung einer Partei und die Wahl der hierzu berufenen Parteivertreter öffentlich i.S.v. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sein müssten, hätte – wie bei einer Gerichtsverhandlung oder einer Parlamentssitzung – grundsätzlich jeder das Recht (!), eingelassen zu werden und teilzunehmen, nicht nur andere Parteimitglieder oder die Medien.
Lieber Matthias,
herzlichen Dank, dass du dich des Themas angenommen hast. Deinen Ausführungen zum Öffentlichkeitsgebot kann ich nur beipflichten. Dieses speist sich im Verfahren der Kandidatenaufstellung aus zwei Quellen, wahlrechtlich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und parteienrechtlich aus dem Gebot der Öffentlichkeit als “demokratischer Grundsatz” iSv Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG. Als einfachgesetzlicher Anknüpfungspunkt bietet sich dabei – wie Marco Penz überzeugend vorgeschlagen hat – Paragraph 31 BWahlG an, den man aber extensiv auslegen oder analog anwenden müsste. Damit kommen wir zum Problem: Meines Erachtens lässt sich die Geltung eins Öffentlichkeitsgebots gut begründen, ich habe dem einen guten Teil meiner Dissertation gewidmet. Das Problem ist bislang aber wenig diskutiert und ein solches Gebot schon gar nicht “herrschende Meinung”. Dass der Wahlausschuss einen Wahlvorschlag nicht auf der Basis einer bisher wenig diskutierten und aus abstrakten Prinzipien konkretisierungbedürftigen Rechtspflicht ablehnt, halte ich für durchaus richtig. Damit bleiben der Ausschluss der Delegierten und deine Paritéproblem. Zu ersterem hast du ja nicht abschließend Stellung genommen, das würde mich schon interessieren. So ein Ausschluss einer Delegation von der Versammlung wirkt natürlich schwer, aber immerhin geht es um eine satzungsmäßige Wahl, wenn die Delegierten vorher angekündigt haben dem nicht zu folgen, ist das für die Parteiorgane schon problematisch, denn auch innerhalb der Parteien entpflichtet das freie Mandat nicht von der geltenden Rechtslage. Es fragt sich also was Alternativen gewesen wären, jedenfalls müsste man sich damit auseinandersetzen (inwiefern das vor dem Bundeswahlausschuss geschehen ist, kann ich gerade nicht nachvollziehen). Nun zum zweiten: deine Ansicht zur Quotenregelung überzeugt mich nicht. Denn auch wenn man zur Verfassungswidrigkeit von staatlichen Quotenregelungen kommt, was auch nach den Entscheidungen aus Thüringen und Brandenburg und deinem Aufsatz alles andere als zwingend ist, muss das nicht für die Parteien gelten. Du erzeugst gerade mit deinen Beispielen den Eindruck, als seien solche Quoten demokratiefremd, obgleich sie der Durchsetzung demokratischer Prinzipien wie der Chancengleichheit und der Repräsentation dienen, die auch normativ im GG Rückhalt finden. Das staatsgerichtete Demokratiegebot beansprucht zudem in den Parteien nicht denselben Inhalt. Die Parteienfreiheit ist kein “Rabatt”, sondern eröffnet den Parteien Gestaltungsspielräume bei der Frage wie sie demokratische Prozesse gestalten möchten. Dies natürlich nicht grenzenlos, Öffentlichkeit ist ja z.b. ein Grundsatz den die Parteien m.E. weitgehend Rechnung zu tragen haben. Die Förderung demokratischer Teilhabe von Frauen lässt sich hier aber sehr wohl in Ansatz bringen, zumal die Listenaufstellung ohnehin ein Vorgang ist, der in allen Parteien stark von Proporzen geprägt ist (das Geschlecht tritt hier neben regionale Aspekte oder innerparteiliche Strömungen). So zu tun, als wenn Quoten irgendwie abstrus wären, wird der Sache gerade angesichts der Bedeutung der Entscheidung nicht gerecht. Erneut zeigt sich jedenfalls, wie wichtig die Regelung eines der Wahl vorgeschalteten Rechtsschutzverfahren wäre.
Herzliche Grüße
Sven Jürgensen
Der Beitrag lässt Raum für weitere Diskussionen:
1. Zunächst versteht sich nicht für selbst, dass ein Parité-Prinzip auch bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung auf Bedenken stoßen muss. Für den Staat gilt im Zusammenhang mit Wahlen der Gleichheitssatz in strenger und formalisierter Form – damit sind Parité-in der Tat Regeln unvereinbar. Auf Parteien ist dies mit Blick auf deren Autonomie aber nicht ohne Weiteres übertragbar; hier liefert Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG den Maßstab. Dass die Bindung an demokratische Grundsätze ein „Reißverschlussprinzip“ bei der innerparteilichen Listenaufstellung verbietet, dürfte dann aber doch etwas (zu) weitgehend sein.
2. Auch die Entscheidung des Landes- und des Bundeswahlausschusses muss auf Bedenken stoßen, denn wenn man das Bundesverfassungsgericht dahin versteht, dass die grundsätzlich gebotene Öffentlichkeit im Wahlverfahren auch das Wahlvorschlagsverfahren und damit die Kandidat:innenaufstellung umfasst (vgl. BVerfG v. 03.03.2009 – 2 BvC 3/07, Rn. 106), leuchtet nicht ein, warum für die Bestimmung der hierfür zuständigen Personen im Wege der Delegiertenwahl etwas anderes gelten sollte. Danach läge aber in Bezug auf den Vorgang in Saarlouis ein relevanter Wahlfehler im Ausschluss der Öffentlichkeit, der es zuläßt, wenn nicht gebietet, die dort gewählten Delegierten von der Aufstellungsversammlung auszuschließen, um zu verhindern, dass der vorangegangene Fehler in dem Ortsverband den Aufstellungsprozess gleichsam „infiziert“. Auf dieser Grundlage wäre die Listenaufstellung nicht zu beanstanden; die Liste hätte zugelassen werden müssen.
Vielen Dank für den Beitrag. Mir scheint allerdings, dass man die Frage, ob die satzungsmäßige Frauenquote wegen Verstoßes gegen Wahlgrundsätze einen Wahlfehler begründet (was ich nicht glaube), jedenfalls nicht abstrakt beantworten kann, sondern sich schon die Mühe machen muss, zu prüfen, wie sie sich bei der konkreten Aufstellung ausgewirkt hat. Bei der zweiten Listenaufstellung der saarländischen Grünen, über die allein die Zulassungsentscheidung zu treffen war, gab es meines Wissens nach keine Kandidatur eines Mannes auf einen Frauenplatz – anders als bei der ersten Aufstellungsversammlung. Im Übrigen wurde die Listenaufstellung nicht wegen eines (möglichen) Verstoßes gegen die Frauenquote bei der ersten Versammlung wiederholt, sondern wegen der Beteiligung nicht Stimmberechtigter – und diese Entscheidung erging auch nicht durch das Bundes-, sondern durch ein Landesschiedsgericht, aber das nur am Rande. Wenn man die abstrakte Argumentation zur Quote ausreichen ließe, hätte ja keine der Landeslisten der Grünen zugelassen werden dürfen – und auch die Listen aller anderen Parteien mit Quotenregelungen nicht.
Im Kern geht es bei der Entscheidung des Bundeswahlausschusses um das Verhältnis von Satzungs- und Wahlrecht und die Frage, was der Passus „Das Nähere … regeln die Parteien“ in § 21 Abs 5 BWahlG (noch) wert ist. Dass die Gewährleistung eines jedenfalls satzungsrechtlich verankerten Öffentlichkeitsgrundsatzes durch die Schiedsgerichtsbarkeit einen Wahlfehler begründet, überzeugt mich jedenfalls nicht.
(Full disclosure: ich bin Mitglied des Bundesschiedsgerichts der Grünen)
Zur Frauenquote stimm ich im Prinzip zu, aber wenn man die Möglichkeit eines Problems sieht, müsste man zumindest noch die Fälle in Betracht ziehn, wo nicht über Einzelplätze abgestimmt wird, sondern 2 geschlechtergetrennte Teillisten aufgestellt und dann zusammengefügt werden. Da wird die Kandidatur ausschließlich auf die richtigen Plätze faktisch technisch erzwungen. Die dann wohl regelmäßig noch durchgeführte Schlussabstimmung ist da mindestens so problematisch wie die nach Briefwahl, selbst wenn noch die therotische Möglichkeit zu Streichungen und Ergänzungen existieren sollte (mir scheint es da bereits an einem definierten Wahlsystem für den Fall, dass es tatsächlich in relevanter Menge genutzt würde, zu mangeln).
Wenn man die Erzwingbarkeit satzungsrechtlicher Regelungen bei der Öffentlichkeit postuliert, frag ich mich allerdings, warum das bei der Frauenquote anders sein sollte. Wenn tatsächlich ein Mann in satzungsinkompatibler Weise auf einen Frauenplatz kandidiert, zur Abstimmung zugelassen und gewählt wird, könnte oder müsste das ein Schiedsgericht dann doch auch beanstanden, mit der Folge, dass eine Liste nicht eingereicht oder nicht zugelassen werden kann. Bei inkompatiblem Satzungsrecht ist es logisch, dass da ein Konflikt entstehn kann, der letztlich einer Wahlteilnahme entgegensteht.
Die Frage, ob sich Fehlverhalten von Gebietsverbänden durch Ausschluss derer Delegierten heilen lässt, haben Bundeswahlausschuss und Bundestag schon für den Fall harter wahlrechtlicher Verstöße verneint (NPD Berlin bei der Bundestagswahl 2017, vom Bundesverfassungsgericht bis heute nicht entschieden). Der Fall war insofern anders gelagert, als zur Begründung der Nichtzulassung der Wahlfehler an sich herangezogen worden ist und nicht ein Ausschluss, der mangels Anwesenheit unnötig war. Sofern dabei Satzungsrecht maßgeblich sein können sollte, folgt demnach aus dem Vorgehn jedenfalls noch keine Zulassungsfähigkeit. Dass einer Partei dadurch die Wahlteilnahme faktisch unmöglich gemacht werden kann, haben Bundeswahlausschuss und Bundestag ausdrücklich inkauf genommen.
Wie im Artikel richtig beschrieben, bedeutet diese Auffassung halt, dass das innerparteilich völlig anders zu bewerten wäre als bei der allgemeinen Wahl, wo Regelverstöße ohne Weiteres mit Ausschluss sanktioniert werden, ohne dass das Folgen für die Legitimation der Gewählten insgesamt haben soll (politisch kann das natürlich bei hinreichender Relevanz fatal sein). Parteien oder deren Landesverbände werden halt als die relevanten Einheiten betrachtet, die als solche eigenverantwortlich agieren und denen dabei die Handlungen ihrer Untergliederungen zugerechnet werden. An dem Punkt besteht eine fundamentale Inkompatibilität mit dem, was den Parteien im Namen der innerparteilichen Demokratie aufgebürdet wird. In der praktischen Handhabung betrifft das in teils sehr kontraproduktiver Weise auch das Wahlsystem bei der Aufstellung, das der an sich schon ziemlich weite Kernbereich von dem ist, was die Pateien autonom regeln können.
Abgesehn davon kann ich allerdings keine Satzungsbestimmung finden, die für die Mitgliederversammlung in Saarlouis Parteiöffentlichkeit verlangen würde. Derartige Bestimmungen existieren für zahlreiche jeweils konkret benannte Gremien, aber soweit ich seh nicht im Allgemeinen, weder auf Bundes-, noch auf Landes- oder Kreisebene. Für eine funktionsfähige allgemeine Öffentlichkeit müssten im Übrigen auch Einladungen, Entscheidungen der Schiedsgerichte und die ganzen Sachen öffentlich sein und hinreichend bekannt gemacht werden.
Ein interessanter Beitrag. In Bezug auf die Frage, warum das sog. Frauenstatut grundgesetzwidrig ist, wäre eine detailliertere Auseinandersetzung anhand konkreter Normen und Grundsätze wünschenswert. Sie könnte eine längst überfällige breite gesellschaftliche Diskussion befördern, die auch der Wahlrechtsausschuss gemieden hat. Dies wiederum kann ich angesichts der Folgen nachvollziehen, wenn auch nicht gutheißen, wären davon doch alle Landeslisten der B90/Die Grünen betroffen. Ich würde zudem noch einen Schritt weiter gehen in der Problematik und halte die von den Einreichern der Landeslisten abgegebenen Versicherungen an Eides statt inhaltlich für falsch, weil ebend nicht jeder Teilnehmer im Sinne des BWG bzw. der BWO „vorschlagsberechtigt war“, da das Vorschlagsrecht in grundgesetzwidriger Weise vom Statut beschnitten wurde. Ob und inwieweit es strafbewehrt ist, ist freilich eine Frage der subjektiven Vorwerfbarkeit. Es zeigt sich jedoch, dass das Frauenstatut für Verantwortungsträger in der Partei nicht ganz trivial ist. Das es sich jedoch eher auf der einfachgesetzlichen Ebene abspielt, sprengt es allerdings den Rahmen eines Verfassungsblogs.
Vielen Dank für die zahlreichen wertvollen Hinweise und bedenkenswerte Kritik an alle. Ich versuche mal eine kurze Sammel-Rückmeldung.
1. Vorab vielleicht kurz zur Rolle des Bundeswahlausschuss: Sie ist ausgesprochen undankbar. Die aufgeworfenen Fragen richten sich eigentlich an ein Verfassungsgericht. Vor diesem Hintergrund bleibt der Rechtsschutz im Wahlverfahren weiter defizitär und ich neige der Auffassung des SächsVerfGH zu, dass über einen Ausbau des Rechtsschutzes vor der Wahl nachgedacht werden sollte. Aber das ist natürlich nochmals ein riesigengroßes weiteres Thema.
2. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gilt von Verfassungs wegen – trotzdem benötigen wir hier nähere gesetzliche Konkretisierungen. Wünschenswert wäre hier insbesondere, dass die Parteien dazu verpflichtet werden, Ort und Zeit von Aufstellungsversammlungen öffentlich zu machen. Das könnte über eine Meldung an den Landeswahlleiter erfolgen, der die Termine zentral im Internet veröffentlicht. Ich bleibe dabei, dass ein allgemeines Zutrittsrecht aller Wahlberechtigten schon deswegen erforderlich ist, weil andernfalls keine effektive Wahlprüfung stattfinden kann. Allerdings gilt hier wie auch sonst, dass der Zutritt natürlich durch die Kapazitäten begrenzt ist. Normalerweise wird es keine oder nur wenige Gäste gebe – aber dass sie nicht rausgeschmissen werden, ist eben zentral für das Vertrauen(können) in den Wahlvorgang.
3. Meine Überlegungen zu Quotenregelungen in Parteien konnten im Rahmen eines solchen Blogbeitrags nur Skizze bleiben. Das Thema begleitet mich gedanklich schon länger und ich neige mehr und mehr der Auffassung zu, dass für Parlamentswahlen ein einheitliches Wahlverfahren von der Aufstellung an gelten muss und deswegen bei der Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze keine Abstriche gemacht werden können. Dem entspricht es übrigens umgekehrt, dass nach der BVerfG-Rspr bloße Verletzungen von Satzungsvorschriften im Wahlprüfungsverfahren nicht rügefähig sind (BVerfGE 89, 243 [253]). Insofern hätte es irgendwie auch etwas willkürliches, wenn zusätzliche Satzungsbestimmungen zwar beachtet werden könnten, aber nicht müssten, sodass eine Partei gewissermaßen von Fall zu Fall entscheiden könnte, an welche Regeln sie sich halten will.
Die Wahlrechtsgrundsätze haben insofern aus meiner Sicht auch Vorrang vor der Parteiautonomie, zumal sich diese Einschränkungen auf die Kandidatenaufstellung für Parlamentswahlen beschränken. Den Parteien ist es selbstverständlich unbenommen, ihre Liste – in freier Wahl – nach einem bestimmten “Konzept” aufzustellen. Entscheidend ist allein, dass die aufstellungsberechtigten Parteimitglieder die Freiheit behalten, sich auch gegen das “Konzept” zu entscheiden. Hier ist das Frauenstatut der Grünen eben sehr rigoros – und es ist doch bemerkenswert, dass das nie wirklich Gegenstand einer kontroversen Debatte im verfassungsrechtlichen Diskurs war.
Eine andere Frage ist, welche Konsequenzen dieser Fehler für den Ausgang eines Wahlprüfungsverfahren haben müsste. Das BVerfG hat hier den Weg entwickelt, bei gewissermaßen bisher “unentdeckten”, “eingebürgerten” Wahlfehlern dem Bestand des Parlaments den Vorrang zu geben und die Entscheidung nur für die Zukunft wirken zu lassen (vgl. BVerfG 97, 317 [330 f.]).
Das zentrale Thema ist m.E. wie der gut argumentierte Artikel im Titel richtig ansagt das Problem der internen Demokratie. Im Parteienstaat ist das zum großen Teil parteiinterne Demokratie. Im Listenwahlsystem ist es die Garantie einer demokratischen Listenaufstellung. Frauenquoten (m.E. richtig behandelt in den Entscheidungen der Thüringen- und Brandenburg-VerfGH) und Öffentlichkeitsprinzip (seit Streaming möglich ist, vielleicht nur ein Aspekt der Transparenz, welche auch Nachvollziehbarkeit beinhaltet) in den Parteien bei der Listenaufstellung sind davon abhängige Probleme. Die Teilnahme auch an nicht öffentlichen internen Versammlungen, Debatten, Wahlen und Entscheidungen ist (überall) das wichtigere Problem. Wer hat Stimmrecht: alle Teilnehmer, die (lokalen) Parteimitglieder, die Delegierten, wenige (gewählte) Vorsitzende? Aber das stand ja nicht zur Debatte.
Ich möchte eienen m.M.n. wichtigen Punkt unterstreichen, der bis jetzt nicht beachtet worden ist.
Matthias Friehe sagt richtig: „Eine radikale Lösung dieses Problems bestünde darin, Wahlfehler innerhalb der Parteien für unerheblich zu erklären und die Wahlprüfung auf das staatliche Verfahren zu beschränken. Diesen Weg hat das BVerfG zu Recht nicht eingeschlagen, weil er das Gebot innerparteilicher Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) völlig aushöhlen würde. In der Parteiendemokratie ist die Chance des einzelnen Bürgers, selbst in ein Parlament gewählt zu werden, so eng an die Parteien gebunden, dass die passive Wahlfreiheit und -gleichheit nur effektiv durchgesetzt werden können, wenn die Kontrolle im Wahlprüfungsverfahren auch die innerparteiliche Kandidatenaufstellung in den Blick nimmt. Schließlich hat aber auch jeder Bürger – ob selbst Wahlbewerber oder nicht – einen Anspruch darauf, zwischen demokratisch bestimmten Kandidaten wählen zu können.“
Weshalb ist – besonders nach BVerfG – die interne Demokratie – in Deutschland – so wichtig? Wegen der starren Listen. Nicht ausschließlich, aber zum großen Teil. Auch in Finnland – zum Beispiel – gibt der Gesetzgeber viel Acht auf die interne Demokratie bei der Listenaufstellung, obschon es sich dort um „freie Listen“ handelt und das das Wahlgesetz das sacrosancto Recht der Wähler ihre Abgeordnete aus der Kandidatenliste selbst zu wählen streng beachtet. Sogar in dem Fall (der freien Listen) ist es (vor-)entscheidend wer auf der Liste ist und in welcher Ordnung die Kandidaten vorgeschlagen werden. Da sind wir aber sehr weit von den Problemen des deutschen Wahlgesetzes entfernt.
Da in Deutschland seit 1957 starre Listen (in Leibholz‘ Parteienstaat) grundgesetzkonform sind, wurde ein großer Teil der Disziplin auf die interne Demokratie abgewälzt. Mittlerweile glaubt niemand mehr so recht an die alte Doktrin, aber die BVerfG-Rechtsprechung ist dieselbe geblieben.
So fern so gut. Matthias Friehe teilt die „Auffassung des SächsVerfGH (…), dass über einen Ausbau des Rechtsschutzes vor der Wahl nachgedacht werden sollte.“ Ich würde (von einem internationalen vergleichendem und demokratie-theoretischem Standpunkt) hinzufügen, dass (vor allem die jungen Verfassungsrecht-Forscher über eine tiefgreifende Reform des BWG im Sinne eines Ausbaus der fundamentalen Wahlrechte im Wahlprozess nachgedacht werden sollte. Das interessiert Wähler und Kandidaten und wirkt sich auf Abgeordnete ab.
Einen Ansatz zu einer solchen Überlegung bietet Prof. Volker von Prittwitz in https://www.bpb.de/apuz/33522/hat-deutschland-ein-demokratisches-wahlsystem und https://www.bpb.de/apuz/27211/vollstaendig-personalisierte-verhaeltniswahl?p=all (Reformüberlegungen auf der Grundlage eines Leistungsvergleichs der Wahlsysteme Deutschlands und Finnlands). 1. Starre Listen sind undemokratisch. Putin hat sie für die Duma-Wahlen übernommen. Natürlich ohne interne Demokratie. Interne Demokratie kann die grundlegende Verletzung der wichtigsten politischen Rechte nur zum Teil überbrücken. Eine vollständig personalisierte Verhältniswahl würde das Problem lösen und viel Druck von der internen Demokratie ablassen. Dazu kommt weitere Kritik: 2. Das Doppelproporzsystem ist von vorn herein inkohärent; gegenläufige Sitzverteilungen sind unvermeidlich. 3. Die Sainte-Laguë-Formel ist undemokratisch (aber das ist ein marginales Problem, welches die schlimmsten Folgen im Bundestag bei Ausschusswahlen mit sich bringt).
(PS Ich beschäftige mich seit 10 Jahren mit Wahltheorie und Wahlsystemen. 2019 habe ich Comment réformer le système électoral, Legitech, Luxemburg, eine kritische Analyse des Luxemburger WG von 1919-usw publiziert).
Das Gebot der Öffentlichkeit auch des Wahlvorschlagsverfahrens “von Verfassungs wegen” wird von Ihnen mit allzu leichter Hand bejaht:
Das Bundeswahlgesetz enthält dazu nichts, obwohl es ansonsten das Wahlvorschlagsverfahren – auch in Anlehnung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – recht detailliert regelt (vgl. § 21 Abs. 3, § 27 Abs. 5 BWG). Das Grundgesetz enthält dazu ebenfalls nichts – jedenfalls nichts, was man ihm nicht vorher einhauchen müsste. Und schließlich hat das Bundesverfassungsgericht noch nichts dazu entschieden: In BVerfGE 123, 39 ist die betreffende Passage zum Wahlvorschlagsverfahren lediglich ein obiter dictum; das gleiche gilt für die dort zitierte Entscheidung BVerfGE 121, 266.
Und selbst wenn man Ihre Auffassung teilt: Ob sich die Öffentlichkeit nicht nur auf die Aufstellung der Kandidaten, sondern – wie im aktuellen Fall – sogar auf die Aufstellung der Delegierten beziehen müsste, erscheint mir doch eher fraglich, von den erheblichen praktischen Problemen (die Grünen müssten dann der örtlichen AfD-Gruppe Zugang zu ihrer Veranstaltung geben?!) einmal abgesehen.