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12 December 2012

Warum das Gesetz zur Beschneidung eine vernünftige Lösung ist

I. Der Deutsche Bundestag hat heute eine gesetzliche Regelung zur Beschneidung verabschiedet. Der Bundesrat wird aller Voraussicht nach am Freitag zustimmen. In das BGB wird ein neuer § 1631d eingefügt. Er lautet:

(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.

II. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber hat eine sinnvolle Regelung getroffen. Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas schrieb in der NZZ mit Blick auf die die gesetzliche Regelung auslösende Entscheidung des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012: „Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten.“ In den letzten Monaten hat die deutsche Gesellschaft mit erstaunlicher Intensität und manchmal auch beunruhigender Vehemenz über Fragen der Beschneidung diskutiert. Was bedeutet im Lichte dieser Erfahrungen „faire Anerkennung“ der Interessen religiöser und kultureller Minderheiten, von der Habermas spricht? Faire Anerkennung meint selbstverständlich nicht grenzenlose Freiheit. Aber Fairness meint: Achtung und Respekt für eine Jahrtausende alte Tradition, die sich eine religiöse Gemeinschaft immer wieder neu angeeignet und die sie lebendig gehalten hat. Fairness meint: Sensibel zu sein gegenüber dem Gebrauch historisch besetzter, Minderheiten diskriminierender Stereotypen. Fairness meint: sich über naturwissenschaftlich erfassbare Gefahren, Risiken und Nutzen der Beschneidung ausgewogen kundig zu machen. Sich darüber aufzuklären, welche Studien welchen wissenschaftlichen Aussagewert haben. Sich der Grenzen des verfügbaren Wissens und seiner kulturellen Verstrickung bewusst sein. Fairness heißt: Die grundlegenden freiheitsschützenden Regeln des Verfassungsrechts und die die Rationalität juristischen Urteilens sichernden Anleitungen der Verfassungsdogmatik zu beachten. Etwa: die Wahrnehmung eines Freiheitsrechts nicht (wie von einigen Kollegen aus dem Strafrecht gefordert) unter den Vorbehalt objektiv-rationaler Nutzenkalküle zu stellen. III. Vor diesem Hintergrund vermag das Gesetz zu überzeugen:

  • Das Gesetz regelt das Problem rechtssystematisch sachgerecht im Kontext des elterlichen Sorgerechts. Im Nachgang zur Entscheidung des LG Köln hat in der Öffentlichkeit eine intensive Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Motive für eine Beschneidung, über verschiedene Techniken und Ausführungsformen nebst ihrer religiös-rituellen Einbettung und über medizinische Vorteile und Risiken stattgefunden. Die Lernerfahrungen aus dieser breiten öffentlichen Diskussion fließen in die gesetzliche Regelung in sinnvoller Weise ein. Zu diesen gehört die Erkenntnis, dass Eltern in Deutschland ohne besondere medizinische Indikation eine Beschneidung nicht nur aus religiösen Gründen vornehmen lassen, sondern auch, weil sie der Überzeugung sind, die Beschneidung biete generelle medizinische Vorteile oder weil es, wie bei den Aleviten, der kulturellen Tradition entspricht. Die Motivvielfalt hat die Bundesregierung berücksichtigt, indem sie eine Regelung im BGB vorsieht und nicht im Gesetz über die religiöse Kindererziehung (wie ich selbst ursprünglich vorschlug).
  • In den Materialien werden die mit dem Eingriff der Beschneidung einhergehenden Risiken näher beschrieben. Der Gesetzgeber hat nicht leichtfertig gehandelt, sondern sich intensiv informiert. Der Entwurf wurde gewissenhaft durch mehrere Anhörungen vorbereitet, in denen Expertisen aus unterschiedlichen Fachbereichen und unter Berücksichtigung der Binnenpluralität des Meinungsspektrums abgefragt wurden. Die Gesetzesbegründung meidet Verharmlosungen wie Überdramatisierungen. Die von Kritikern der bisherigen Beschneidungspraxis gemachten Angaben über Komplikationen haben sich teilweise als nicht haltbar bzw. fragwürdig erwiesen. Auch vor dem Gebrauch antisemitischer und islamophober Stereotypen wurde nicht zurückgeschreckt. Demgegenüber hat das laufende Gesetzgebungsverfahren mit den ihm eigenen Rationalitätsanforderungen entscheidend zur Versachlichung der Debatte beigetragen.
  • Der Gesetzentwurf ist verfassungsrechtlich über jeden Zweifel erhaben. Verfassungsdogmatisch berücksichtigt er den Unterschied zwischen Grundrechten als Abwehrrechten der Grundrechtsträger gegenüber dem Staat und auf Grundrechten beruhenden Schutzpflichten des Staates. Es geht in der Beschneidungsfrage nicht um „irgendwie“ miteinander kollidierende Grundrechte. Schutzpflichten sind keine Pauschalermächtigung für eine paternalistische Verkürzung der Freiheitssphäre der Bürger. Das  Freiheitsrecht und die Schutzpflicht sind verfassungsdogmatisch angemessen zuzuordnen. Dafür gibt es Regeln, die die Rationalität, Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit verfassungsrechtlicher Beurteilungen sicherstellen. Insbesondere ist der die Freiheitssphäre der Bürger gegenüber dem Staat schützende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu achten.
  • Die auf Art. 2 II GG beruhende Schutzpflicht erlaubt dem Gesetzgeber und verpflichtet ihn, sich schützend vor das grundrechtlich geschützte Rechtsgut zu stellen. Er hat Maßnahmen zu ergreifen, den Gefahren für die Grundrechtsverwirklichung entgegenwirken. Diese dürfen nicht völlig ungeeignet sein. Sie müssen zugleich aber die grundgesetzlichen Grundentscheidungen für eine freiheitliche Verfassungsordnung berücksichtigen, insbesondere müssen sie dem Gebot eines freiheitsschonenden Rechtsgüterausgleichs genügen (Übermaßverbot).
  • Vor diesem Hintergrund geht der Gesetzentwurf in nachvollziehbarer Weise davon aus, dass die Risiken einer lege artis durchgeführten Beschneidung unter den medizinischen Bedingungen in Deutschland beherrschbar sind und der generelle medizinische Nutzen in der Fachwelt umstritten ist. Offensichtlich ist die Einschätzung des medizinischen Nutzens einer Beschneidung selbst kulturell geprägt. So erklären sich etwa Differenzen in der Bewertung des allgemeinen medizinischen Nutzens einer Beschneidung zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Ärzteschaft.
  • Es ist verfassungsrechtlich in einer solchen Situation naheliegend, Mindestbedingungen zum Schutz des betroffenen Jungen aufzustellen, die grundsätzliche Entscheidung über das „Ob“ der Beschneidung aber den Eltern anzuvertrauen. Mit den Vorgaben der Regeln der ärztlichen Kunst (§ 1631d I S. 1 BGB), dem generellen Arztvorbehalt (Umkehrschluss aus § 1631d II BGB), der Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalls (§ 1631d I S. 2 BGB) und den Qualifikationsanforderungen für nichtärztliche Beschneider (§ 1631d II BGB) wird den staatlichen Schutzpflichten vollumfänglich Genüge getan.
  • Auf der Grundlage des verfügbaren „gesicherten“ Wissens stellt die Beschneidung aus grundgesetzlicher Sicht keine generelle Kindeswohlgefährdung im Sinne des Art. 6 II 2 GG (staatliches Wächteramt) dar. Das Grundgesetz geht davon aus, dass es in einer freiheitlichen Gesellschaft sehr verschiedene Vorstellungen darüber gibt, welche Erziehung das Beste für ein Kind bewirkt. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier totalitärer Regime auf deutschem Boden, die die Heranwachsenden mit einer geschlossenen Weltanschauung indoktriniert haben, ist die Pflege und Erziehung der Kinder bewusst als „natürliches Recht“ der Eltern geschützt. Gerade in Kernfragen der Weitergabe elterlicher Vorstellungen vom „guten Leben“ darf der Staat nicht ohne Weiteres zwingende Gebote und Verbote aufstellen. Das staatliche Wächteramt berechtigt zu Zwangsmaßnahmen erst dann, wenn ungeachtet des freiheitlichen Schutzes der religiös-weltanschaulichen Pluralität der Lebenswelt im Lichte von Art und Maß des drohenden Schadens staatliches Handeln unabdingbar ist, wenn also die Kindeswohlvorstellungen der Sorgeberechtigen im Lichte der Wertungen des Grundgesetzes unvertretbar sind. Diese Voraussetzungen liegen bei der lege artis vorgenommenen Beschneidung von Jungen nicht vor.

IV. Das Gesetz wird zu größerer Rechtssicherheit führen, aber voraussichtlich nicht zu einem vollständigen Rechtsfrieden. Der rechtliche Streit wird sich auf die Interpretation der im Entwurf verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe verlagern. Zu diesen Begriffen gehören auch „die Regeln der ärztlichen Kunst“. Der Terminus ist in der Rechtssprache eingeführt (vgl. § 28 SGB V oder § 81a StPO), im medizinrechtlichen Schrifttum wird teilweise die Formulierung „fachliche Standards“ bevorzugt (vgl. ebenso § 630a BGB nach dem Regierungsentwurf des PatientenrechteG – BT-Dr. 17/10488). Beide Begriffe sind synonym zu verstehen. Verlangt ist jeweils die Einhaltung der medizinisch anerkannten fachlichen Standards unter Berücksichtigung der Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts. Dies bedingt eine effektive Schmerzbehandlung, deren genaue Modalitäten von den konkreten Umständen abhängt (u.a. dem Alter). Zugleich umfassen die Regeln der ärztlichen Kunst Aufklärungspflichten vor einem Eingriff, die auch bei der Beschneidung durch eine nach § 1631d II BGB-E bestellte Person zu beachten sind. Das ist konsequent: Entscheidungsfreiheit der sensiblen Frage der körperlichen Integrität setzt stets hinreichende Information voraus. Von weiteren Detailbestimmungen hat der Gesetzgeber hingegen Abstand genommen, weil er andernfalls einen bestimmten Erkenntnisstand festschreiben würde. Im Medizinrecht überlässt der Gesetzgeber auch sonst die Konkretisierung der Regeln ärztlicher Kunst der Rechtspraxis. Diese Regelungstechnik führt nach den bisherigen Erfahrungen zu sachgerechten Ergebnissen. V. Der Vorbehalt einer abweichenden Regelung im Einzelfall (§ 1631d I S. 2 BGB) war nicht zwingend erforderlich, bei sinnvollem Verständnis der Norm aber auch unschädlich. Es aber ist ausdrücklich zu betonen, dass der Vorbehalt nach der Gesetzesbegründung die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers nicht unter permanenten Vorbehalt anderweitiger rechtspolitischer Auffassungen einzelner Richter stellen will. Vielmehr sollen lediglich atypische Sonderkonstellationen abgebildet werden, für die sich sinnvolle Lösungen auch aus dem Gesamtzusammenhang des bürgerlichen Sorgerechts bzw. aus den Regeln der ärztlichen Kunst finden ließen. So entspricht etwa eine Beschneidung trotz besonderer gesundheitlicher Risiken (Gelbsucht, Bluter etc.) gerade nicht den Regeln ärztlicher Kunst. VI. Ein entgegenstehender Kindeswille ist selbstverständlich zu berücksichtigen. § 1626 II und § 1631 II BGB stellen dies sorgerechtlich sicher. Eine weitere Regelung ist nicht erforderlich. In den Erläuterungen des Gesetzentwurfes nicht eigens erwähnt, aber selbstverständlich ist zudem, dass kein Arzt verpflichtet ist, gegen seine Überzeugung eine Beschneidung ohne medizinische Indikation vorzunehmen. Er hat sich zu vergewissern, dass das sorgerechtliche Mitspracherecht des Kindes gewahrt ist. VII. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Regelung in § 1631d II BGB: Die Bestimmungen sind allgemein gehalten, aber erkennbar auf Bedürfnisse der jüdischen Gemeinden in Deutschland zugeschnitten. Die Frist von sechs Monaten ist der Rechtslage in Israel nachgebildet, wo zahlreiche Mohalim zugleich approbierte Mediziner sind. Nach Ablauf der Frist ist es medizinrechtlich nicht ausgeschlossen, dass der Mohel als Hilfsperson eines Arztes unter dessen Aufsicht nach fachlicher Weisung (vgl. § 4 II S. 1 GOÄ) tätig wird. Das sozialrechtliche Delegationsverbot aus dem Arztvorbehalt nach § 15 I SGV V greift nicht, da die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für die nicht medizinisch indizierte Beschneidung nicht trägt. Im Gesetzgebungsverfahren wurde mit gewisser Berechtigung die Frage aufgegriffen, ob die Frist von sechs Monaten nicht zu lang ist. Schließlich bleiben die Mohalim an das Arznei- und Betäubungsmittelrecht gebunden, haben also keinen eigenverantwortlichen Zugang zu bestimmten Anästhetika. Die zukünftige Meinungsbildung in den Fachgesellschaften wird zeigen, ob im vierten oder fünften Monat ohne ärztliche Beteiligung überhaupt eine fachgerechte Beschneidung durchgeführt werden kann. Wenn das nicht der Fall ist, wäre sie nach dem jetzigen Gesetz halt verboten. VIII. Nur eine Marginalie am Rande, aber doch eigens besonderer Aufmerksamkeit bedürftig ist eine schlimme Entgleisung des Abgeordneten Schwanitz (SPD), der in einer Erklärung zur Abstimmung im Deutschen Bundestag sich wie folgt einließ: „Die Rechte des Kindes werden im Regierungsentwurf zugunsten der Rechtssicherheit religiöser Gewohnheiten bewusst verleugnet. Dazu ist auch das Parlament nicht legitimiert, denn dies ist mit der Wertestruktur des Grundgesetzes nicht vereinbar. Deshalb kann ich diesen Gesetzentwurf nur als unrichtiges Recht, nur als gesetzliches Unrecht begreifen.“ Die Formel vom „gesetzlichen Unrecht“ hat bekanntlich Gustav Radbruch prominent gemacht, der damit die nationalsozialistische Rechtsperversion brandmarken wollte (SJZ 1946, 105 ff.). Man kann über die Frage der Beschneidung sicherlich mit guten Gründen unterschiedlichster Auffassung sein. Die Befürworter einer strengeren Regelung werden zumeist von honorigen Motiven geleitet. Aber: Wie um alles in der Welt ist es möglich, dass ein Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ein Gesetz, dass jüdisches Leben in Deutschland weiterhin ermöglichen will, umstandslos in einen verbalen Zusammenhang mit den NS-Rassegesetzen bringt?


SUGGESTED CITATION  Heinig, Hans Michael: Warum das Gesetz zur Beschneidung eine vernünftige Lösung ist, VerfBlog, 2012/12/12, https://verfassungsblog.de/warum-der-gesetzentwurf-zur-beschneidung-eine-vernunftige-losung-ist/, DOI: 10.17176/20171117-153505.

64 Comments

  1. Laizist Wed 12 Dec 2012 at 23:22 - Reply
  2. Kerim Wed 12 Dec 2012 at 23:44 - Reply

    Herr Heinig wird in der Rechtswissenschaft selbst unter Kollegen belächelt. Neben Professoren wie Reinhard Merkel, Rolf Herzberg, Günther Jerouschek, Thomas Fischer, Sternberg-Lieben, Horst Schlehofer, die allesamt religiöse Beschneidungen als massive Körperverletzungen und damit als rechtswidrig ansehen, ist er ein eher kleines Licht.

  3. […] dann …… Der Deutsche Bundestag hat gestern eine gesetzliche Regelung zur Beschneidung verabschiedet. Der Bu… […]

  4. Hans Adler Thu 13 Dec 2012 at 00:17 - Reply

    Aber ja. Natürlich geht die Religionsfreiheit der Eltern über die körperliche Integrität und sexuelle Selbstbestimmung des Kindes. Für diese Sichtweise haben Sie ja auch energisch gekämpft. Ich nehme an, Sie können heute Nacht sehr gut schlafen in dem Bewusstsein, dass Sie die Vorhäute von Tausenden traumatisierten Babies nicht mit ins Grab nehmen müssen, weil Sie die schweren Körperverletzungen ja schließlich nicht selbst begehen werden. Wie unerträglich ist doch die Vorstellung, dass kleine Jungen durch das Ritual des Brit Schalom als ganze Menschen in die Gemeinschaft der Juden aufgenommen werden könnten!