Warum die Ehe für alle vor dem BVerfG nicht scheitern wird (II)
Die Debatte um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ehe für alle nimmt schneller Fahrt auf, als man mit dem Schreiben nachkommt. Mittlerweile ist es, wenn man die Spannbreite der Äußerungen einigermaßen zu überblicken versucht, fast so, als ob es niemanden mehr gäbe, der einem Verfahren vor dem BVerfG noch hinreichende Erfolgsaussicht bescheinigen mag; selbst wer eigene Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung hegt, versieht sie meist mit dem Zusatz, dass man das in das Karlsruhe wahrscheinlich anders sehen werde. Das ist fast auch wieder schade, weil es am Ende dazu führen könnte, dass es niemanden mehr geben wird, der den Fall dort vorlegt, weil er nur riskiert, sich eine Abfuhr einzuholen; erfahrungsgemäß macht sich das ja im politischen Betrieb nicht gut. Auf diese Weise würde zwar die Ehe für alle erst einmal weiterbestehen können und nach und nach auch gesellschaftliche Realität werden. Aber es bliebe doch immer ein Restzweifel, der auf dem ganzen Institut lastete.
Es ist deshalb gut, dass weiterhin über den richtigen und sinnvollen Weg gestritten wird, dieses offenbar weithin als richtig erkannte Ergebnis mit der bisher vorherrschenden Interpretation der Verfassung in Einklang zu bringen. Der dazu von mir im Verfassungsblog unterbreitete Vorschlag, hier einen Fall legitimen Verfassungswandels zu erkennen, ist an verschiedenen Stellen aufgegriffen oder auch eigenständig in die Diskussion eingebracht worden. Er drängt sich ja in der Tat auf und ist letztlich so unoriginell, dass ich dafür kein Copyright beanspruchen kann; in der Kommentierung des Art. 6 von Frauke Brosius-Gersdorf im „Dreier“ konnte man dazu schon vor der jetzigen Entscheidung viel Richtiges nachlesen. Patrick Bahners hat nunmehr in der FAZ versucht, auch die bisherige Rechtsprechung des BVerfG so zu lesen, dass in ihr die Öffnung der Ehe insgeheim schon angelegt sei, und dazu eine interessante ältere Kammerentscheidung (aus dem Jahre 1993) unter Beteiligung von Roman Herzog ausgegraben. Auch das lässt sich hören, aber das Problem ist natürlich, wie Bahners am Ende auch selbst sieht, dass das BVerfG es 2002 in seiner grundlegenden Entscheidung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft zuletzt doch anders gesagt hatte. Gerechtfertigt hatte es deren Einführung seinerzeit im Kern damit, dass der Gesetzgeber gerade nicht die Ehe, sondern ein aliud geregelt habe.
Eine zweite Strategie, die Matthias Jestaedt nun in der FAZ (nicht unbedingt nahegelegt, aber doch:) als eine mögliche vorgezeichnet und ähnlich zuvor auch schon von Christoph Möllers angedeutet worden ist, zielt auf eine Entkoppelung des verfassungsrechtlichen vom einfachgesetzlichen Ehebegriff. Der Gesetzgeber, sagt man dann, habe zwar nun auf der einfachgesetzlichen Ebene, nämlich im Bürgerlichen Gesetzbuch, die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften geöffnet, aber der verfassungsrechtliche Ehebegriff werde davon gar nicht berührt. Ehe im Grundgesetz sei vielmehr, entsprechend der Auslegung im Sinne des Savignyschen Viererkanons, weiterhin die Ehe zwischen Mann und Frau, unabhängig davon, was dazu gerade im Bürgerlichen Gesetzbuch steht. Man hat dann gewissermaßen zwei Ehebegriffe im Recht, die gar nichts miteinander zu tun haben und sich dementsprechend auch nicht ins Gehege geraten können.
Auch das kann man natürlich machen, bei anderen Grundrechten wie etwa der Eigentumsgarantie gibt es das ja auch: Eigentum im Sinne des Art. 14 GG ist ja auch nicht (bloß) das Sacheigentum im Sinne von § 903 BGB. Es erscheint mir aber in der Sache ähnlich gekünstelt wie der Versuch, die Öffnung der Ehe für alle nun gerade aus einer historischen Auslegung des Grundgesetzes zu rechtfertigen. Ehe ist kein ausschließlich soziales Phänomen, sondern zunächst und vor allem einmal ein Konstrukt des Rechts. Wenn zwei Leute sich abends bei Kerzenschein in die Augen versprechen, dass sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen wollen, besteht zwischen ihnen noch keine Ehe, auch wenn sie einen gemeinsamen Hausstand gründen oder Kinder in die Welt setzen. Sondern die Ehe entsteht erst durch einen Akt der rechtlichen Anerkennung, der sie als ein Rechtsverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten zur Entstehung bringt und dann selber wieder nur durch einen Akt des Rechts aufgelöst werden kann. Es gibt deshalb keine Ehe vor- und außerhalb des Rechts (hier in Gestalt des einfachen Gesetzesrechts), sondern nur im Recht und als ein vom Recht formal wie inhaltlich ausgeformtes Institut.
Wir bringen das meist unter die geläufige und allseits akzeptierte Formulierung, dass das Grundrecht auf besonderen Schutz der Ehe – im Unterschied zur „Familie“ als primär soziales Phänomen – ein „normgeprägtes Grundrecht“ ist. Über die Konsequenzen dieser Einordnung scheint aber nicht immer die notwendige Klarheit zu bestehen, jedenfalls nicht darüber, was sie in ihrem tiefsten Grund bedeutet. Es ist dann der Gesetzgeber, der in seinen rechtlichen Regelungen nicht nur sagt, wie und unter welchen Voraussetzungen eine Ehe geschlossen werden kann (und unter welchen nicht), sondern der in alledem zugleich bestimmt und festlegt, was eine Ehe ist. Man kann dann darüber diskutieren, ob und inwieweit der Gesetzgeber damit an ein bestimmtes Bild der Ehe oder vielleicht auch einen allgemeinen Sprachgebrauch gebunden ist. Aber wie das Bild, so ist auch dieser Sprachgebrauch wandelbar, und beides wird selbst seinerseits wesentlich vom Recht mitbestimmt und mitgeformt. Einfaches Recht und Verfassung stehen hier notwendig in Wechselwirkung, und auch die Verfassung empfängt ihre Impulse aus dem einfachen Recht.
Wenn der Gesetzgeber in diesem Sinne die Ehe für alle öffnet, kann das dementsprechend den verfassungsrechtlichen Ehebegriff nicht unberührt lassen. Alles andere wäre nicht nur für die Ehe für alle als eine politische Errungenschaft, sondern auch für das Grundgesetz selbst ausgesprochen unglücklich. Verfassungen sind, das kann man bei Konrad Hesse nachlesen (macht leider heute auch keiner mehr), so zu interpretieren, dass sie die Gesellschaft möglichst integrieren und zugleich größtmögliche Wirkungskraft innerhalb dieser Gesellschaft entfalten. Wenn man demgegenüber den Verfassungsbegriff der Ehe von seiner einfachgesetzlichen Ausgestaltung abkoppelte, hätten wir die Ehe im Sinne des bürgerlichen Rechts wie auch aller anderen Teilrechtsordnungen (Beamtenrecht, Steuerrecht, Sozialrecht etc.), in denen verschieden- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in allen Belangen völlig gleich behandelt werden, und wir hätten die Ehe im Sinne von Art. 6 GG, in dem dieser ganze Teil des Rechts nicht mehr abgebildet wäre. Auch eigenständige Wirkungen in Abgrenzung zur gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gingen davon nicht mehr aus; welche sollten das sein, wenn, wie das BVerfG meint, beide ohnehin nach Art. 3 I GG gleichzubehandeln sind? Der Verfassungsbegriff der Ehe bestünde auf diese Weise zwar in seiner ursprünglichen – wie seine Verfechter offenbar meinen: – Reinheit fort, aber ihm entspräche weder eine rechtliche noch eine sonstige Realität; stattdessen wäre er nur noch der versteinerte Ausgangspunkt einer Entwicklung, die sich längst von ihm gelöst hat. Auch der allgemeine Sprachgebrauch wird, wie es jetzt schon zu beobachten ist, über ihn irgendwann ganz hinweggegangen sein. Je länger diese Entwicklung voranschreitet, desto mehr wirkt er dann nur noch wie ein Relikt, das aus der Zeit gefallen ist.
Welche Folgen dies für die anderen Regeln und Aussagen der Verfassung hätte, mag man sich lieber nicht vorstellen und wird von denen, die sich an dem Eingeständnis oder besser der Erkenntnis eines Verfassungswandels vorbeizuwinden versuchen, geflissentlich ignoriert. Die Geltungskraft einer Verfassung kann eben nicht nur dadurch beschädigt werden, dass man ihre Bestimmungen (und natürlich: fallweise und behutsam) an die gesellschaftliche Realität anpasst, sondern auch dadurch, dass sie den Kontakt zu dieser Realität verliert. Und es bleibt zuletzt die Frage, wo überhaupt das Problem ist, dem mit solchen Spitzfindigkeiten beigekommen werden soll. Natürlich ist die Verfassung nicht beliebig wandelbar, natürlich müssen dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels auf die Verfassungsinterpretation auch Grenzen gesetzt werden, und man kann auch zwischen verschiedenen Zonen einer Verfassung unterscheiden, in denen er möglicherweise eher hinzunehmen ist als in anderen. So kann man gute Gründe dafür finden, Verfassungen etwa dort enger zu interpretieren, wo Kompetenzen und Verfahren betroffen sind oder wo die individuelle Freiheit vor Übergriffen des Staates geschützt werden soll. Um nichts davon geht es hier. Statt dessen geht es um den Bereich der Grundrechte, in dem es vor allem die Bürger selbst sind, die darüber entscheiden, wie sie ihre Freiheit leben wollen, und die diese Freiheit darin eben auch inhaltlich ausgestalten. Gerade hier sollen (und können) Verfassungen sozialen Wandel nicht ausschließen, sondern ihn ermöglichen und allenfalls so verlangsamen, dass er für alle erträglich bleibt. Sie sollen auch nicht bestimmte kulturelle Prägungen der Gesellschaft garantieren und fortschreiben; die einzige Kultur, auf deren Verdauerung eine Verfassung zielt, ist eine Kultur der Freiheit, deren Mitglieder sich wechselseitig als Rechtspersonen mit gleicher Würde anerkennen und respektieren. Aber wessen Freiheit wäre durch die Einführung der Ehe ernsthaft beeinträchtigt, und wer wird denn hier überhaupt in irgendwelchen relevanten Interessen berührt, die durch eine Verfassung legitimerweise zu schützen wären?
Die Vermutung ist: Da wird sich wenig finden.
Es ist ein gut erforschtes Phänomen, dass Menschen ihre eigene Ausstattung mit Rechten oder materiellen Gütern in Relation zu anderen bewerten: Wenn der Nachbar plötzlich auch einen Porsche vor dem Haus stehen hat, ist mir der meine gleich weniger wert. Das ist die psychologische Erklärung für das “Abstandsgebot”. Das Verfassungsrecht ist indes nicht dazu da, solche Menscheleien auszuleben.
Doch, offenbar ist es das. Jedenfalls das derzeitige Verfassungsrecht des Art. 6 GG. Denn genau das ist dort verankert: ein Abstandsgebot. Wem das nicht passt (ich finde es auch verkehrt), der muss die Verfassung ändern.
@Uwe Volkmann: Wie kommen Sie eigentlich dazu, dass die “Ehe” ein normgeprägter Begriff sein soll? Eigentum und Ehe haben eine jeweils völlig verschiedene Dimension. Während der Eigentumsbegriff von vornherein offen gestaltet war, war den Vätern und Müttern der Verfassung völlig klar, was eine Ehe ist: der Bund zwischen Mann und Frau und nichts anderes.
Jeder Versuch, den Ehebegriff umzuinterpretieren, überschreitet zwingend die Grenzen zulässiger Auslegung. Wenn das BVerfG die vom – für Verfassungsänderungen unzuständigen – einfachen Gesetzgeber vorgezeichnete Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Verbindungen mitgehen und verfassungsrechtlich dem Ehebegriff unterstellen würde, wäre das eine Rechtsfortbildung. Und eben an diesem Punkt stellt sich die entscheidende Frage, an der bisher sämtliche Beiträge auf dem Verfassungsblog vorbeizielen: Unter welchen Voraussetzungen rechtfertigen gewandelte Wertevorstellungen der Gesellschaft (bzw. der “Zeitgeist”) eine richterliche Rechtsfortbildungskompetenz (und eben nicht: Auslegungskompetenz).
Man stellt ständig wiederholt dieselben Darauf folgen stets wiederholt gleiche Antworten. Sodan behauptet man, es gäbe keine Antworrten und wieder von vorne.
Das Problem und der Schaden kann eher ein langfristig abstrakt sein. Dies kann bereits in einer Entwertung von Begriffsinhalten, Bedeungen und Prinzipien, Ordnungen etc. liegen. Wozu überhaupt noch Bedeutungen, Begrifflichkeiten, Ordnungen und nicht bloße (manipulativ undurchsichtig willkürliche mehrheitliche) Machtpolitiken usw.? So offen wandelbar, wie gewollt, scheint man keinesfalls immer.
Fraglich kann etwa eine gleiche Offenheit und gleiches Engagement mit Flutung von Diskusionsforen usw. bereits sein, soweit es etwa allein um weitere Eheöffnung für Personennmehrheiten ginge o.ä. Problematisch kann hier nur bei zunehmender Beddeutngsentwertung sachlich begründbare Argmentation hiergegen sein. Natürlich wird Widerstand allein noch machtpolitisch begründet vehement erfolgen.
In Frage kann bei zunehmender Bedeungsauflösung und Eheöffnung etwa für Personenmehrheiten das Eheinstitut überhaupt gestellt sein.
Geschädigt können nur etwas abstrakt und daher, nicht sogleich erkennbar, zukünftige Personen und gesellschaftliche Ordnungen sein, welche ein Ordnungs- oder Stabilitätsinteresse o.ä. hieran haben können.
P.S.: allein mehrheitlich machtpolitische Begründungen können einem Minderheitendiskriminierungsschutz eher widersprechen, auf welchem man sich hier nur besonders berufen will.
Volksmanns Überlegungen haben noch einen blinden Fleck, zu dem ich gerne etwas lesen würde: Wenn der Verfassungswandel in der von ihm beschriebenen Form möglich und legitim ist, dann stellt sich die Frage, weshalb das Grundgesetz an seine Änderung – über 60 Änderungen seit 1949 – formelle Voraussetzungen knüpft. Das Grundgesetz macht die Anforderungen an die formellen Änderung sogar besonders stark, weil die neuere deutsche Verfassungsgeschichte keine guten Erfahrungen mit dem Verfassungswandel gemacht hat; was nicht heißen soll, dass die Existenz dieser nichtförmlichen GG-Änderung durch Auslegungsänderung prinzipiell einen Sinn haben kann.
Das Nebeneinander von formeller GG-Änderung (Art. 79 Abs. 2 und 3 GG) und legeferiertem Verfassungswandel spielt bei der “Ehe für Alle” eine entscheidende Rolle. Denn der Bundestag hat zwar mit Mehrheit für das Gesetz gestimmt, mit dem das Bürgerliche Gesetzbuch geändert werden soll. Die verfassungsändernde Mehrheit hat der Bundestag aber nicht erreicht – wie die Mehrheiten am Freitag im Bunderat sein werden, müssen wir abwarten.
Die Befürworter des Gesetzes müssen sich deshalb für methodische Umleitungen legitimer Verfassungsänderung stark machen – darüber wird hier und in Zeitungen gerungen. Das Grundgesetz nimmt all das, was in der Debatte für das Gesetz genannt wird, dabei durchaus auf – es stellt an den behaupteten breiten Konsens in der Gesellschaft allerdings die Anforderung, dass die durch Wahl legitimierten Repräsentanten mit einer qualifizierten Mehrheit diesen vermeintlichen Realkonsens in der Gesellschaft bestätigen. Das ist bislang nicht geschehen.
Der Lackmustest für Volksmanns dynamische Verfassungsauslegung ist weniger der Ehebegriff, dieses Thema ist gesellschaftspolitisch zu stark umkämpft, so dass der Pulverdampf noch die Sicht trübt. Die Kernfrage ist, ob sich ein entsprechender Verfassungswandel eigentlich auch auf andere Institutionen der liberalen Demokratie anwenden ließe: etwa auf die Meinungsfreiheit, den Gleichheitssatz oder auf die Staatsangehörigkeit?
@Methodiker @Peter Camenzind
Vielleicht wäre es für einen Ausgangspunkt zunächst einmal sinnvoll, sich überhaupt klarzumachen, was das Grundgesetz heute ist und was es mit dem, was man sich 1949 dabei gedacht hat, noch zu tun hat. Auch da wäre die Antwort zunächst einmal: nicht viel. Die im Grundgesetz enthaltene Blankettformel „sozial“ in Art. 20 I GG hat man in den fünfziger Jahren und damals gegen erheblichen Widerstand ausgebaut einem umfassenden Staatsziel, das den Staat auf die aktive Bewirkung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet; die nach den Erfahrungen mit der NS-Zeit als Ausgrenzungen der Staatsgewalt konzipierten Grundrechte hat man umgedeutet zu staatlichen Handlungsaufträgen und Maßstäben, die in die ganze Rechtsordnung ausstrahlen; das Rechtsstaatsprinzip hat man ausgerichtet auf ein materiales Prinzip von Gerechtigkeit, aus dem dann seinerseits immer neue Gehalte (Vertrauensschutz, Rückwirkungsverbot etc.) abgeleitet werden konnten; aus dem an sich nur die Wahlgrundsätze regelnden Art. 38 I GG hat das BVerfG ein ganzes Grundrecht auf Demokratie gemacht, über das die Bürger sogar überprüfen können, ob die EZB ihre Kompetenzen eingehalten hat. Ernst Forsthoff hat deshalb schon 1959 von einer „Umbildung des Verfassungsrechts“ gesprochen, und dies vom Standpunkt reiner Methodenlehre völlig zu recht. Nicht einmal der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht so in der Verfassung, sondern er ist ihm wie alles andere durch Interpretation (oder, nach Ernst-Wolfgang Böckenförde: durch fortwährenden Verfassungswandel im Gewand der Interpretation) hinzugefügt worden, von immer neuen Grundrechten wie dem Recht am eigenen Bild, am gesprochenen Wort, auf informationelle Selbstbestimmung, auf Schutz der Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme etc. ganz zu schweigen. Das Grundgesetz umfasst deshalb heute viel mehr (und zum Teil eben auch andere) Regeln und Aussagen als zum Zeitpunkt seines Erlasses, und das ist uns schon so selbstverständlich geworden, dass wir kaum mehr darüber nachdenken, wie es dazu eigentlich gekommen ist und ob das überhaupt seine Berechtigung hatte. Auch auf anderen Rechtsebenen wird munter fortentwickelt und gewandelt, ohne dass das dort als Problem empfunden wird: Die EMRK gilt dem EGMR seit jeher als „living instrument“, und dass der EuGH Anfang der 1970er Jahre die Grundrechte in die damaligen Gemeinschaftsverträge ohne jeden textlichen Anhaltspunkt hineingelesen hat, halten viele nach wir vor für das Beste, was ihm je eingefallen ist. Der von mir schon an anderer Stelle schon zitierte Brun-Otto Bryde hat dazu mal auf einer Veranstaltung gesagt, er wisse bis heute nicht, ob es Verfassungswandel eigentlich geben dürfe oder nicht. Er bemerke nur, dass er stattfinde.
Man kann natürlich von alledem sagen, dass das so nicht sein könne, weil es nicht sein dürfe. Aber vielleicht müsste sich eine Sicht von Verfassung, die kein abstraktes Idealmodell von Verfassung skizzieren will, sondern sich für die bestehende Verfassung in der bestehenden Gesellschaft interessiert, dafür auch öffnen. Die Begrenzung erfolgt dann einerseits prozedural, nämlich durch eine Verteilung der Interpretations- und Wandlungskompetenzen auf verschiedene Akteure, die dafür sorgt, dass der Wandel immer nur dosiert und möglichst für alle verträglich stattfindet, und andererseits durch Anbindung an spezifische Erfordernisse juristischer Argumentation, die sich an bestimmten Kriterien der Rationalität akzeptiert. Wie das im Einzelnen vonstattengeht, kann ich hier nicht näher erläutern, ich habe dazu ein ganzes Buch geschrieben, auf das ich nur ungern verweise, aber hier schaffe ich es einfach nicht anders. Ansonsten immer noch die Lektüreempfehlung: Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, da steht schon alles drin.
@Frank Schorkopf
Ich denke nicht, dass da ein blinder Fleck ist, nur weil die formelle Verfassungsänderung nicht angesprochen ist. Wandel durch Interpretation oder Wandel durch formelle Änderung sind zwei unterschiedliche Formen von Verfassungsentwicklung, die sich ergänzen, aber nicht ausschließen. Ich glaube auch, dass Du die Bedeutung der formellen Änderung im Verhältnis zum Verhältnis von Verfassungswandel durch Interpretation überschätzt. Wenn Du Dir von den oben genannten Beispielen für eine interpretatorische Anreichung des Grundgesetzes einfach einmal die Neuinterpretation der Grundrechte als staatliche Handlungsaufträge (objektive Ordnung, Schutzpflichten, Organisations- und Verfahrensvorgaben etc.) anschaust, so ist doch allein diese folgenreicher für die Verfassung und unser Verständnis von ihr als alle bisher erfolgten 60 formellen Verfassungsänderungen zusammen. Und den Verfassungswandel, um den es hier geht, kann man m.E. recht unproblematisch rechtfertigen: Es gibt bei einem durch Recht konstitutierten Institut wie der Ehe notwendig eine Erstinterpretationskompetenz des Gesetzgebers, die Bestimmung des Inhalts von juristischen Begriffen kann sich an einem seinerseits eben auch wandelbaren Sprachgebrauch in der Gesellschaft orientieren, die gängige Deutung von Art. 6 I als „wertentscheidende Grundsatznorm“ ermöglicht durch den Text hindurch den Rückgriff auf den Wert, der hier überhaupt bewahrt werden soll (vielleicht ja auch gegenseitige Verantwortung und Fürsorge), und auf der anderen Seite keine schützenswerten Positionen oder gar Rechte, von denen man ernsthaft sagen kann, sie würden hier beeinträchtigt. Über die anderen von Dir genannten Fälle reden wir vielleicht dann, wenn es soweit ist.
Diese Antwort überzeugt mich noch nicht. Zunächst wäre darüber nachzudenken, ob die Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) ein allein durch “Recht konstituiertes Institut” ist. Institutionen zeichen sich dadurch aus, dass sie soziale Erfahrungen speichern – was eine Ehe im Kern ist, muss nicht durch Recht geschaffen, sondern im Recht anerkannt werden. Der Gesetzgeber nimmt auch nicht eine “Erstinterpretationskompetenz” in Anspruch, sondern eine Neu-Interpretationskompetenz – die Ehe und ihre einfachgesetzliche Konkretisierung im Bürgerlichen Recht gibt es schon. Als der Gesetzgeber im Jahr 2001 die Lebenspartnerschaft schuf, war er Neu- und zugleich Erstinterpret.
Das ist aber nicht mein Kritikpunkt. In der Tat stehen formelle Verfassungsänderung und informeller Verfassungswandel methodisch nebeneinander. Die Frage ist, wie sie sich zueinander verhalten, ob der Verfassungswandel aufgrund politischer Dezision die mehrheitsqualifizierte Verfassungsänderung so einfach verdrängen kann. Der Begriff “Ehe” ist noch 2012 vom Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts klar gefasst worden, gerade in Abgrenzung zu der neuen Institution “Lebenspartnerschaft”. Ich neige dazu, in dieser interpretatorischen Eindeutigkeit ein methodisches Sperrgitter gegen informelle Verfassungswandel zu sehen. Andernfalls stünde es im Ermessen derjenigen, die die gesellschaftliche Deutungsmacht haben, inhaltliche Grundgesetzänderung quasi plebiszitär herbeizuführen. Diese Konsequenz fü die Zukunft sollten wir nicht auf morgen vertagen, sondern mitdenken, wenn wir über die formelle Verfassungsmäßigkeit des “Ehe für alle”-Gesetzes nachdenken.
Wir werden uns hier wahrscheinlich auch nicht überzeugen können. Ich würde einräumen, dass die Ehe im Unterschied zum Eigentum, das ausschließlich als rechtskonstituiert gilt, durchaus ein Institut ist, in dem sich, wie Du es nennst, soziale Erfahrungen speichern: Jeder, der von Ehe spricht, verbindet ja bestimmte Vorstellungen damit. Andererseits ist sie ohne das Recht gar nicht existent und wird erst durch das Recht zur Existenz gebracht; eine Lebensgemeinschaft, in der die Partner einfach so, also ohne den Gang zum Standesamt, zusammenleben, ist eben eine Lebensgemeinschaft, keine Ehe. Und gerade wenn man darin einen Speicher sozialer Erfahrungen sieht, müsste er doch für eine Anreicherung dieser Erfahrungen im Sinne einer Weitung des Horizonts offen sein. Vor hundert Jahren hätte zu diesem Speicher ja auch noch das Bild der Hausfrauenehe gehört, in der die Frau zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, darüber sind wir doch auch hinweg. Das scheint mir so gesehen eher für als gegen Möglichkeit eines Verfassungswandels zu sprechen. Natürlich führt das zuletzt wieder zurück auf die Frage nach dem Sinn einer Verfassung, zu der wir ebenfalls unterschiedlicher Auffassung sind: Ist es der Sinn einer Verfassung, Vergangenheit zu konservieren, oder soll eine Verfassung Antworten in der Gegenwart und für die Gegenwart liefern? Es ist diese Frage, an der letztlich alles hängt und über die hier mitentschieden wird. Ein „methodisches Sperrgitter“ dagegen lässt sich m.E. auch aus der Rechtsprechung des BVerfG nicht begründen, wobei ich ebenfalls einräume (und das ja auch schon im Artikel getan habe), dass dieses den Ehebegriff bislang auf die Gemeinschaft verschiedengeschlechtlicher Partner begrenzt hat. Die Gründe könnten aber auch darin liegen, dass der Gesetzgeber bis vor der nun getroffenen Entscheidung Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft konsequent als voneinander getrennte Institute geregelt hat. Die nahezu vollständige rechtliche Angleichung beider und die Verwischung fast aller Unterschiede zwischen ihnen ist dann nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch das BVerfG selbst vorangetrieben worden. Insofern hat der Gesetzgeber hier nur noch den letzten Schritt gemacht, der als solcher in der Rechtsprechung des BVerfG bereits vorgezeichnet war. Auch das scheint mir eher für als gegen die Legitimität eines Verfassungswandels zu sprechen.
“Ist es der Sinn einer Verfassung, Vergangenheit zu konservieren, oder soll eine Verfassung Antworten in der Gegenwart und für die Gegenwart liefern?”
Ihr gebildetetes Gegensatzpaar ist schief.
Der Gegensatz lautet:
Soll eine Verfassung stabile Antworten liefern (bis zur nächsten Verfassungsänderung)
oder
soll eine Verfassung das BVerfG / den politischen Prozess / die öffentliche Meinung / die h.M. you name it ermächtigen, den “Inhalt” der Verfassung tagesaktuell zu kreieren?
Eine witzige Pointe der zweiten Variante, der Sie ja anhängen, wäre freilich, dass sich daraus die erste Variante ergeben könnte, wenn das BVerfG / die h.M. usw. entschließen sollten, den Inhalt der Verfassung im Sinne der ersten Variante festzulegen.
In der jetzigen Zusammensetzung wird sich das BVerfG so lange es geht um die Frage drücken, ob BGB-Ehe und GG-Ehe übereinstimmen oder sich nur überschneiden. Irgendwann wird dann eine Richtergeneration am Ruder sein, für die die Vorstellung, dass ein Mann keinen anderen Mann heirate könne so absurd ist, wie es für die Väter und Mütter des Grundgesetzes das Gegenteil war. Diese wird Uwe Volkmann Recht dann gegeben, aber es wird dauern. Zwingen könnte man das BVerfG nur, indem ein gleichgeschlechtliches Ehepaar (und nur dieses) gegen einen Verstoß gegen Art. 6 klagt.
@Frank Schorkopf
Der Schutz der Autorität des Verfassungstextes erscheint mir im vorliegenden Fall ein schwaches Argument. Denn eine Verfassung bezieht ihre Autorität ja auf vielschichtige Weise. Es kann genauso gefährlich sein, wenn sich die Hüter der Verfassung einem von der Mehrheit als zeitgemäßem empfundenen Wandel entgegenstellen, unter Berufung auf deren Wortlaut allein, ohne dass erkennbar würde, was denn “eigentlich” geschützt werden soll. Es besteht die reale Gefahr, dass eine Verfassung dann als fortschrittsfeindlicher Fremdkörper wahrgenommen wird.
Nicht zu Unrecht ist deswegen die “Autorität des Verfassungstextes” selbst kein anerkanntes Schutzgut im Sinne des Grundgesetzes. Dies wäre ja auch erkennbar selbstreferentiell. Meines Erachtens wird umgekehrt ein Schuh draus: die Verfassung ist kein Selbstzweck, jede Auslegung muss erkennen lassen, welcher Wert im konkreten Fall geschützt werden soll.
Der Gedanke ist entfernt verwandt dem Schikaneverbot. Das müsste auch im vorliegenden Fall den Ausschlag geben. Denn es ist nicht erkennbar, wem konkret die einfachgesetzliche Ausweitung der Ehe im Sinne von Artikel 6 eigentlich schaden soll. Eine gesellschaftspolitische Vorstellung als solche – in diesem Fall die Vorstellung, die Ehe habe sich auf Mann und Frau zu beschränken – ist für sich genommen noch kein Rechtsgut, und zwar völlig unabhängig von der argumentativen Stärke der Position.
@Humpty Dumpty (brilliantes Pseudonym für Ihr Argument, werden die meisten Leser hier aber nicht verstehen): Erläutern Sie doch mal bitte das “Schutzgut” von Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG. Danke!
@Frank Schorkopf und @Uwe Volkmann
Den spannenden Austausch zwischen Ihnen beiden hier habe ich leider erst jetzt gelesen – aber mein Versuch einer Erwiderung scheint sich dazu vielleicht gleichwohl zu fügen?
https://verfassungsblog.de/warum-das-grundgesetz-die-ehe-fuer-alle-verlangt-ii/
“hier einen Fall legitimen Verfassungswandels”
Ist das Problem nicht eher dass es sich hier um einen Fall des (legitimen) Sprachwandels handelt?
Das BVerfG hat bereits entschieden dass mit ‘Ehe’ in Grundgesetz Frau + Mann gemeint ist, und auch dass der Gesetzgeber ‘eingetragenen Lebenspartnerschaften’ mit identischen Rechten und Pflichten ausstatten kann.
Das Problem ist nun das in der Umgangsprache sich der Begriff ‘Ehe’ gewandelt hat – deshalb ja auch ‘Ehe fuer alle’.
Die Frage ist deshalb meiner Meinung nach ob der Gesetzgeber in heutigen (einfachen) Gesetzen die Ehe fuer alle auch Ehe nennen darf oder ob der Gesetzgeber den Sprachwandel ignorieren muss und fuer immer mit ‘Ehe’ die Definition von 1949 benutzen muss?
Das Problem ist doch bei diesem Recht die Natürlichkeit, die organische Bildungsstätte des Kindes. Es geht doch nicht um eine eherechtliche Gleichstellung, die ist doch schon mit der Partnerschaft gegeben. Zwei gleiche Geschlechter können kein Kind zeugen und somit ist die Natürlichkeit nicht gegeben. Wir können in diesem Sinne, Schutz der natürlichen Elternschaft nicht alle gleich sein. Punkt.