31 July 2023

Warum Fehlinformation, Desinformation und Hassrede nicht gleich behandelt werden sollten

Zur Herausforderung differenzierter Begriffsverwendungen im geplanten UN-Verhaltenskodex für Informationsintegrität auf digitalen Plattformen

Der Umgang mit Fehlinformationen, Desinformationen und Hassrede im Internet ist ein hochaktuelles Thema. Eine im Juni 2023 vorgestellte Politikrichtlinie der UN zielt darauf ab, eben jene Phänomene zu bekämpfen. Es erscheint jedoch nicht sachdienlich Fehlinformationen, Desinformationen und Hassrede ähnlich bzw. gleich zu behandeln, wie es der UN Entwurf momentan vorsieht. Dieser Blogpost vertritt daher die These, dass zumindest Fehlinformationen – also unabsichtlich unrichtige Aussagen – anders behandelt werden müssen als bewusste falsche oder verletzende Äußerungen im Internet.

Im Juni 2023 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, eine Politikrichtlinie (Our Common Agenda Policy Brief 8 Information Integrity on Digital Platforms) vorgestellt, in welcher er Grundsätze zur Bekämpfung der oben genannten Negativphänomene digitaler Kommunikation aufstellt und erste Ideen hinsichtlich der Begründung eines UN–Kodexes skizziert (ab S. 21). Die ersten Ansätze zum Umgang mit den oben genannten Phänomenen werden dort unter den folgenden Oberbegriffen ausgeführt:

Commitment to information integrity, Respect for human rights,  Support for independent media, Increased transparency, User empowerment, Strengthened research and data access, Scaled up responses, Stronger disincentives, Enhanced trust and safety.

Grundsätzliche Begrüßung des Vorstoßes

Die Mitgliedstaaten werden angehalten, diese Grundsätze auf nationaler Ebene umzusetzen (S. 21). Man mag zwar kritisieren, dass es sich dabei letztlich (nur) um internationales Soft Law handelt, dennoch ist es zunächst einmal begrüßenswert, dass sich auch die Vereinten Nationen der Auseinandersetzung mit der problembehafteten Seite der „grenzenlosen“ Freiheit des Internets widmen. Denn internationale Regelwerke gewinnen bei der Entwicklung einer einheitlicheren staatlichen Vorgehensweise im Umgang mit den genannten Phänomenen besondere Relevanz, da die großen, international agierenden digitalen Plattformen wie z.B. Meta und Twitter mittlerweile eine allgegenwärtige Rolle einnehmen. Ihre User werden weltweit miteinander vernetzt. Staatsgrenzen haben für den Austausch von Nachrichten, Tweets, Bilder etc. kaum eine Bedeutung, was wiederum dazu führt, dass nationale Regelungssysteme mit der unaufhaltsam voranschreitenden globalen Vernetzung zahnlosen Tigern gleichen. Man verfolgt mit der Erarbeitung eines solchen Kodexes insgesamt also durchaus erstrebenswerte Ziele.

Notwendigkeit präziser Formulierungen und Abgrenzung im Soft Law

Ein wesentliches Problem bei (internationalen) Verhaltenskodizes liegt jedoch nicht selten in der unzureichenden Klarheit bzw. eindeutigen Definition der darin verwendeten Begriffe. Insbesondere und nahezu zwangsläufig betrifft dies internationales Soft Law, das den Anspruch hat, bei den Mitgliedsstaaten weite Akzeptanz zu finden. Aufgrund der Vielzahl von Mitgliedsstaaten (die Vereinten Nationen haben etwa 200 Mitgliedsstaaten) mit ihren unterschiedlichsten Vorstellungen und bestehenden Regelungssystemen, ist dem ein nicht unerheblicher Umsetzungs- und Ermessensspielraum wesenseigen. Dennoch ist es unerlässlich, dass relevante Begriffe in diesen (nicht bindenden) Regelungswerken so weit wie möglich klar und präzise formuliert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass unter dem Vorwand unklarer Begrifflichkeiten oder zu weit gefasster Interpretationsspielräume bei der nationalen Umsetzung Einschränkungen legitimer Meinungsäußerungen vorgenommen werden könnten.

Begriffliche Differenzierungen und Gleichsetzungen im UN-Dokument

Diesen Grundsätzen wird das vorliegende Dokument zunächst auch gerecht, indem es zwischen den Phänomenen „Fehlinformation, Desinformation und Hassrede“ unterscheidet (S. 4 f.).

Fehlinformation und Desinformation differieren in der konkreten Anwendungsabsicht. Demnach handelt es sich bei Desinformationen um falsche Informationen, die absichtlich verbreitet werden, um ernsthaften sozialen Schaden zu verursachen. Unter Fehlinformationen versteht man hingegen die unbeabsichtigte Verbreitung ungenauer Informationen, die mithin in gutem Glauben und dem fehlenden Bewusstsein weitergegeben werden, die Unwahrheit zu verbreiten. Unter Hassreden versteht man hingegen jede Art von Kommunikation in Wort, Schrift oder Verhalten, die angreift oder abwertende bzw. diskriminierende Sprache benutzt, die sich auf eine Person oder eine Gruppe aufgrund ihrer Zugehörigkeit bezieht, d.h. aufgrund ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeiten, Nationalität, Rasse, Hautfarbe, Abstammung, ihres Geschlechts oder anderer Identitätsmerkmale.

Die zunächst durch die Trennung der drei Termini „Fehlinformation, Desinformation und Hassrede“ zum Ausdruck gebrachte begriffliche Sensibilität wird jedoch im ersten Entwurf (S. 21 ff.) kontraintuitiv wieder aufgehoben.

Zwar heißt es zu Beginn (Hervorhebungen durch den Autor):

“Respect for human rights

(b) Member States should:

(i) Ensure that responses to mis- and disinformation and hate speech are consistent with international law, including international human rights law, and are not misused to block any legitimate expression of views or opinion, including through blanket Internet shutdowns or bans on platforms or media outlets;”

Im weiteren Verlauf der aufgestellten Grundsätze erfolgt jedoch immer wieder die Gleichsetzung dieser drei unterschiedlichen Phänomene:

“Increased transparency
(f) Digital platforms should:[…] (ii) Publish and publicize accessible policies on mis- and disinformation and hate speech, and report on the prevalence of coordinated disinformation on their services and the efficacy of policies to counter such operations;”[…] (j) All stakeholders should invest in robust digital literacy drives to empower users of all ages to better understand how digital platforms work, how their personal data might be used, and to identify and respond to mis- and disinformation and hate speech. Particular attention should be given to ensuring that young people, adolescents and children are fully aware of their rights in online spaces;”

“Scaled-up responses

(m) All stakeholders should:

[…] (iii) Promote training and capacity-building to develop understanding of how mis- and disinformation and hate speech manifest and to strengthen prevention and mitigation strategies;”

Was irritiert, ist, dass Fehlinformation, Desinformation und Hassrede stets in einem Atemzug genannt werden, obwohl man im policy brief selbst Wert auf die hinreichende Abgrenzung der Phänomene gelegt hat.

Die Relevanz begrifflicher Präzision vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit

Es wäre wünschenswert, Guterres hätte im ersten Aufschlag die Fehlinformation von der Desinformation und Hassrede begrifflich abgesondert. Denn so wie es zunächst im policy brief beschrieben wird, handelt es sich freilich um unterschiedliche Phänomene, deren jeweilige Legitimität vor dem Hintergrund der Grenzen der Meinungsfreiheit auf unterschiedlichsten Ebenen (im Folgenden an Art. 10 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 1 GG exemplarisch verdeutlicht) ebenfalls differenziert bewertet wird:

Gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK werden zunächst alle Meinungen und Äußerungen in ihrer Vielfalt geschützt, ohne inhaltliche Beschränkungen. Dies gilt unabhängig von ihrem Wert und ihrer Nützlichkeit, selbst wenn sie als verletzend, schockierend oder verstörend empfunden werden können (EGMR Urt. v. 1.10.2013 – 20147/06 Rn. 28 – Cholakov/Bulgarien). Sowohl Fehlinformation, Desinformation als auch Hassrede fallen daher zunächst unter den Schutz von Art. 10 EMRK. Die Grenzen der Meinungsfreiheit finden sich jedoch im Verbot des Missbrauchs gemäß Art. 17 EMRK, das insbesondere Desinformation (z.B. historisch eindeutig falsche Tatsachenbehauptungen: EGMR Beschl. v. 24.6.2003 – 65831/01 – Garaudy/Frankreich) und Hassrede erfassen kann (z.B. islamophobe Hassrede: EGMR Beschl. v. 16.11.2004 – 23131/03 – Norwood/Vereinigtes Königreich).

Demgegenüber hat der EGMR festgestellt, dass die Freiheit der Kommunikation auch die Freiheit einschließt, sich nicht um den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu sorgen (EGMR Urt. v. 8.6.1986 – 9815/82 Rn. 46 – Lingens/Österreich, EGMR Urt. v. 6.9.2005 – 65518/01 insb. Rn. 113 – Salov/Ukraine). Daher genießt die gutgläubige Wiedergabe unrichtiger Informationen – also die Fehlinformation, wie sie im policy brief beschrieben wird – ebenfalls den Schutz des Art. 10 Abs. 1 EMRK.

Auch im Hinblick auf den Schutzgehalt von Art. 5 Abs. 1 GG ist eine differenzierte Betrachtung geboten. Grundsätzlich kommt es für die Einordnung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG nicht auf den Gegenstand oder den Inhalt der Meinungsäußerung an. Das BVerfG unterscheidet nicht danach, ob die Äußerung als „richtig“ oder „falsch“ betrachtet wird oder ob sie emotional oder rational begründet ist (BVerfGE 61, 1 [7]; 65, 1 [41]; 93, 266 [289]). Jedoch wird bewusste Unwahrheit (Lüge), was letztlich unter die Definition von Desinformation nach UN-Verständnis (policy brief S. 4 f.) fällt, nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt (BVerfGE 61, 1 [8]; 99, 185 [197]). Ebenso findet Hassrede ihre Schranken bereits in Art. 5 Abs. 2 GG. Hingegen genießen alle anderen Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug – einschließlich Fehlinformationen – den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG (BVerfGE 61, 1 [8]), BVerfGE 90, 1 [14 f.]).

Rechtliche Gratwanderung und zukünftige Herausforderungen

Obwohl es sich nur um Soft Law handelt und – aus den genannten Gründen – in diesem Stadium keine Vollkommenheit oder umfassendere Ausführungen erwartet werden können, ist es dennoch wichtig, frühzeitig auf die Gefahr der durch die terminologische Gleichsetzung möglichen Verzerrung hinzuweisen. Und ja, auch die falschen Informationen, die verbreitet werden, können Schaden anrichten (und das tun sie oft), entweder für Einzelne oder für die Gesellschaft. So wie es die Definition der policy brief allerdings selbst besagt: Es besteht eben keine Absicht, Schaden anzurichten. Fehlinformationen werden also in gutem Glauben weitergegeben. Gerade diese Gutgläubigkeit muss die Legitimität der Fehlinformation rechtfertigen, die letztlich nur im Wege des offenen Diskurses, also durch den durch Redefreiheit geschützten „Markplatz der Ideen“ (John Stuart Mill) widerlegt werden darf, nicht durch staatliche Zensur bzw. chilling effects. Im Mittelpunkt muss also das Prinzip von „trial and error als Motor kollektiver Erkenntnisgewinnung“1) stehen.

Letztlich ist der Vorstoß Guterres‘ aber grundsätzlich zu begrüßen. Möglicherweise kann der Kodex weltweit als Grundlage dafür dienen, einen einheitlichen sowie ausgewogenen Ansatz zu finden, der sowohl den Schutz der Meinungsfreiheit berücksichtigt als auch die potenziellen Gefahren im Blick behält, die von den Plattformen oder den dort ansässigen Nutzern ausgehen.

Schlussendlich gilt es aber auch zu beachten, dass fehlende begriffliche Präzision nicht als Vorwand für staatliche Einschränkungen legitimer Meinungsäußerungen (aus)genutzt werden kann. Es handelt sich dabei zweifellos um eine rechtliche Gratwanderung, die mit diesem ersten Aufschlag Guterres‘ aufgrund der begrifflichen Gleichsetzung nur holzschnittartig behandelt worden ist. Bei einer späteren Ausfertigung, spätestens jedoch im Stadium nationaler Umsetzungsakte ist das gebotene Maß juristischer Präzision in den Blick zu nehmen.

References

References
1 Saxer, Von den Medien zu den Plattformen, 2023, S. 91 f.

SUGGESTED CITATION  Kollenberg, Roman: Warum Fehlinformation, Desinformation und Hassrede nicht gleich behandelt werden sollten: Zur Herausforderung differenzierter Begriffsverwendungen im geplanten UN-Verhaltenskodex für Informationsintegrität auf digitalen Plattformen, VerfBlog, 2023/7/31, https://verfassungsblog.de/warum-fehlinformation-desinformation-und-hassrede-nicht-gleich-behandelt-werden-sollten/, DOI: 10.17176/20230731-132058-0.

2 Comments

  1. Boris Büche Tue 1 Aug 2023 at 12:40 - Reply

    “Fehlinformation und Desinformation differieren in der konkreten Anwendungsabsicht. Demnach handelt es sich bei Desinformationen um falsche Informationen, die absichtlich verbreitet werden, um ernsthaften sozialen Schaden zu verursachen.”

    Es fällt mir schwer zu glauben, dass z.B. die publizistische Arbeit von Herrn Relotius beabsichtigte, “ernsthaften sozialen Schaden zu verursachen”. Dennoch müssen wir von Vorsatz ausgehen, denn Herr Relotius wusste ja, was er sich ausgedacht hatte.
    Auch wenn ein politischer Akteur sich zu einer Lüge entscheidet, geht es ihm eher um den eigenen Nutzen, als um den Schaden Anderer. Der Presse, die eine solche Lüge gutgläubig wiedergibt, ist Fahrlässigkeit zuzugestehen, dann wird aus Desinfomation Fehlinformation.

    Ich vermisse in der ganzen Diskussion den Ansatz, “offizielle” Akteure (Presse, Politik, Beamte) zuvorderst zur Sorgfalt gegenüber sachlicher Richtigkeit anzuhalten, und bei entsprechenden Verstößen zu sanktionieren. Fehl- und Desinformation aus diesen Quellen haben ja das Potential, weit größeren sozialen Schaden zu verursachen, als die irgendwelcher Privatleute, oder “alternativen Medien”.

    • Roman Kollenberg Wed 2 Aug 2023 at 17:52 - Reply

      Vielen Dank, lieber Herr Büche, für Ihren Kommentar! Die (UN)-Definition hat in dieser Hinsicht wohl tatsächlich einen Schwachpunkt und erfasst das Phänomen nicht in Gänze.

      Die Definition der Europäischen Kommission ist durchaus weiter gefasst und entspricht wohl eher Ihrem Begriffsverständnis. Dort wird “Desinformation” definiert als “[…] die Verbreitung falscher oder irreführender Inhalte, die der Öffentlichkeit schaden können, in der Absicht, andere zu täuschen oder wirtschaftlich oder politisch daraus Kapital zu schlagen.” (Quelle: Europäischer Aktionsplan für Demokratie (2020), S. 22, COM(2020) 790 final).

      Bereits der UN-Sonderberichterstatter für die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung hat auf die Vielschichtigkeit des Begriffs “Desinformation” hingewiesen (A/HRC/47/25, para. 9–14.), letztlich aber das im obigen Beitrag beschriebene Begriffsverständnis zugrunde gelegt (A/HRC/47/25, para. 15). Die Definition wurde daraufhin auch von Guterres im Policy Brief 8 (S. 5) übernommen.

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