17 May 2023

Was lange währt, wird endlich gut?

Wo der Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückbleibt

Nach langem Ringen haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie das Bundesministerium der Justiz am 9. Mai 2023 ihren Referentenentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz (SBBG) veröffentlicht. Die Bundesregierung hatte bereits im Koalitionsvertrag (S. 95) angekündigt, das veraltete Transsexuellengesetz (TSG) durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Die ersten Eckpunkte wurden am 20. Juni 2022 vorgestellt. Seitdem ist nun fast ein Jahr vergangen, in dem eine langwierige und teils schmerzhafte Debatte über das Reformvorhaben geführt wurde. Diese wirkt nun auch in dem vorgelegten Entwurf nach: Denn unter den Grundsound der Selbstbestimmung mischen sich einige Misstöne, in denen Paternalismus und diffuse Missbrauchsbefürchtungen widerhallen.

Beendigung eines verfassungswidrigen Zustands

Kern der angekündigten Reform ist die Abschaffung des TSG. An dessen Stelle soll das neue Selbstbestimmungsgesetz treten, wobei bereits der Name einen Perspektivenwechsel von einer pathologisierenden Perspektive hin zu einem an Grund- und Menschenrechten orientierten Regelwerk indiziert. Das Selbstbestimmungsgesetz birgt damit das große Potenzial, einen verfassungswidrigen Rechtszustand zu beenden, der heute einem nahezu unanwendbar gewordenen Regelungschaos gleicht: Von dem 1981 in Kraft getretenen TSG ist heute nur noch ein kläglicher Rest übriggeblieben, nachdem das BVerfG seit 1982 nahezu alle Tatbestandsvoraussetzungen des geschlechtlichen Personenstandswechsels für grundrechtswidrig erklärt hat. 2013 wurde parallel zum TSG die Möglichkeit in das Personenstandsgesetz (PStG) eingeführt, den Geschlechtseintrag bei Kindern offenzulassen, „die weder dem weiblich noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden [können]“. Ende 2018 wurde dies um die dritte positive Geschlechtsoption „divers“ ergänzt und ein weiteres Änderungsverfahren für „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in § 45b PStG verankert. Wer sich unter welchen Voraussetzungen auf die jeweiligen Änderungsmöglichkeiten berufen kann, ist seitdem höchst umstritten und führt zu Rechtsunsicherheit bei Menschen, die ihren grundrechtlichen Anspruch auf Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität einlösen wollen. Es kann daher nicht genug betont werden, wie wichtig und überfällig eine an den Grund- und Menschenrechten orientierte Gesetzesreform ist.

Selbstbestimmtes und einheitliches Verfahren

Das nun angekündigte Gesetz soll ein selbstbestimmtes und einheitliches Verfahren zur Änderung des personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrages und/oder Vornamen schaffen. Offen steht dieser Weg nach dem vorgelegten Entwurf allen Personen, „deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht“ (§ 2 Abs. 1 SBBG). In den Mittelpunkt rückt damit, was aus grund- und menschenrechtlicher Sicht maßgeblich sein muss: die selbstbestimmte geschlechtliche Identität. Folgerichtig verabschiedet sich das Recht von der gleichheitswidrigen Differenzierung zwischen „Transsexuellen“, die für die Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität bislang den steinigen Weg über das TSG gehen mussten, und „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“, für die ein separates Verfahren in § 45b PStG eingerichtet wurde.

Verzichtet wird zudem auf fremdbestimmte und in die Privatsphäre eingreifende Voraussetzungen. Zur Änderung von Geschlechtseintrag und/oder Vornamen geben Individuen nach § 2 des Entwurfes eine entsprechende Erklärung gegenüber dem Standesamt ab. Hierbei können sie zwischen den vier bereits bestehenden Eintragungsoptionen wählen. Das Geschlecht kann als „weiblich“, „männlich“ oder als „divers“ eingetragen werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, auf die Angabe des Geschlechts zu verzichten und einen bestehenden Eintrag zu streichen. Gleichzeitig, aber auch unabhängig von der Änderung des Geschlechtseintrages, können Individuen ihren Vornamen entsprechend ihrer Geschlechtsidentität ändern (§ 2 Abs. 3 und Abs. 4 SBBG).

Abgeschafft werden die zwei bislang unter dem TSG erforderlichen Sachverständigengutachten. Dasselbe gilt für die nach § 45b PStG vorzulegenden ärztlichen Bescheinigungen. Das Verfahren wird damit vereinfacht und unter das Paradigma der Selbstbestimmung gestellt. Auch das Standesamt hat nach dem Gesetzesentwurf nicht zu prüfen, ob die Geschlechtsidentität einer Person tatsächlich von dem Geschlechtseintrag im Personenstand abweicht. Da hier von einer gebundenen Entscheidung ohne Prüfungskompetenz des Standesamtes die Rede ist (S. 34), obliegt die Beurteilung allein der jeweiligen Person. Diese muss im Zuge des Verfahrens noch eine einfache Formularerklärung (= Eigenversicherung) abgeben, dass der gewählte Geschlechtseintrag bzw. die Streichung ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 SBBG). Ferner ist zu versichern, dass sich die Person der Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 SBBG)

Das Selbstbestimmungsgesetz erfüllt in dieser Hinsicht die menschenrechtlichen Vorgaben eines zügigen, transparenten und zugänglichen Verfahrens zur Anerkennung der geschlechtlichen Identität (siehe etwa EGMR, X. v. the Former Yugoslav Republic of Macedonia, Rn. 70).

Selbstbestimmung vs. Paternalismus und Missbrauchsängste?

Trotz dieser begrüßenswerten Verbesserungen enthält der Entwurf kleinere und größere Hürden bei der Realisierung von Selbstbestimmung, die einerseits von einer paternalistischen Haltung gegenüber trans*-, inter*geschlechtlichen und nicht-binären Personen zeugen. Andererseits wird den im Vorfeld geäußerten, oft diffusen Ängsten vor Missbrauch teilweise so viel Raum gegeben, dass das grundgesetzliche Credo eines selbstbestimmten und diskriminierungsfreien Lebens in den Hintergrund zu treten droht. Besonders schlägt sich dies in der vorgesehenen einjährigen Sperrfrist, dem aufgeschobenen Wirksamwerden der Erklärung sowie im Umgang mit Minderjährigen nieder.

Sperrfrist und aufgeschobenes Wirksamwerden der Erklärung

Wenn eine Person ihren Geschlechtseintrag und/oder Vornamen unter dem Selbstbestimmungsgesetz geändert hat, soll nach den Plänen der Bundesministerien vor weiteren Änderungsgesuchen eine einjährige Sperrfrist gelten. Diese diene laut der vorgelegten Begründung dem „Übereilungsschutz“ und sichere die „Ernsthaftigkeit“ der Erklärung (S. 41). Obwohl die Zugänglichkeit des Verfahrens dadurch mit einer kleinen, aber nichtdestotrotz grundrechtsrelevanten Hürde versehen wird, kann auch hierin zunächst ein Perspektivwechsel gesehen werden: Denn anders als noch im TSG und einem im Jahr 2019 unter der alten Bundesregierung präsentierten Referentenentwurf wird nicht mehr auf eine Dauerhaftigkeit der geschlechtlichen Identität selbst abgestellt. Ein Abrücken von diesem Narrativ ist konsequent, denn genauso wenig wie die geschlechtliche Identität durch andere bemessen werden kann und darf, lässt sich die Dauerhaftigkeit derselben in sinnvoller Weise prognostizieren, erst recht nicht von Außenstehenden. In der Praxis dürfte die einjährige Sperrfrist nur selten ein Problem für trans*-, inter*geschlechtliche und nicht-binäre Personen darstellen. Mehrmalige Änderungen oder Fälle von Detransition sind auch in Ländern mit ähnlich niedrigschwelligen rechtlichen Voraussetzungen extrem selten (Köhler, Self-determination models in Europe, S. 16 f.; ebenfalls zitiert im Referentenentwurf, S. 24). Die einjährige Sperrfrist war zudem bereits im Eckpunktepapier angekündigt worden und hat hierbei kaum Gegenwind von Interessensvertretungen von trans*-, inter*geschlechtlichen und nicht-binären Personen erfahren.

Anders verhält es sich jedoch mit einer nun im Entwurf enthaltenen Vorschrift, der zufolge die vor dem Standesamt abgegebene Erklärung erst nach drei Monaten wirksam werden soll (§4 SBBG). In der Zwischenzeit sollen Individuen ihre Erklärung jederzeit schriftlich zurücknehmen können. Begründet wird diese zunächst im Eckpunktepapier noch nicht enthaltene, aufgeschobene Wirksamkeit als „Überlegungs- und Reflexionsfrist“ (S. 41). Weiterhin soll es, wie schon bei der oben dargestellten Eigenversicherung (S. 35), darum gehen, nicht ernsthaft gemeinte Erklärungen zu verhindern.

Was in der einjährigen Sperrfrist noch leise anklingt, wird spätestens bei dem aufgeschobenen Wirksamwerden der Erklärung unüberhörbar. Hier manifestieren sich Befürchtungen, dass übereilte Entscheidungen getroffen werden und einige Personen ihren Geschlechtseintrag gar täglich ändern könnten. Die damit erzeugten Bilder gehen jedoch an der Lebensrealität vorbei, weshalb die Rechtfertigung der entsprechenden Vorschriften auf einem unsicheren Boden steht Bevor sich Menschen entschließen, ihren Geschlechtseintrag und/oder Vornamen zu ändern, durchlaufen sie in der Regel einen längeren Prozess der Auseinandersetzung und Reflexion über die eigene geschlechtliche Identität. Denn unabhängig vom rechtlichen Verfahren geht eine solcher Schritt mit tiefgreifenden persönlichen Veränderungen einher. Sowohl im privaten als auch im beruflichen oder schulischen Umfeld stehen die Personen vor der Herausforderung, sich als trans*geschlechtlich oder inter*geschlechtlich zu outen. Viele stoßen dabei auf Unverständnis, erleben Diskriminierungen oder gar Gewalt. Gerade trans*geschlechtliche Personen sehen sich in dieser Zeit häufig veranlasst, ihren Job zu wechseln, oder in eine andere Stadt zu ziehen, um von ihrem Umfeld in ihrer Identität akzeptiert zu werden. Studien, die sich mit den Entscheidungsprozessen von trans*geschlechtlichen Menschen befasst haben (etwa hier, hier und hier), betonen immer wieder, wie allgegenwärtig die Angst vor Ablehnung und Diskriminierung bei einem Outing ist und dabei ein selbstbestimmtes Artikulieren der geschlechtlichen Identität erschwert. Angesichts dessen erscheint es absurd, im Rahmen des rechtlichen Änderungsverfahrens „Schutzmechanismen“ vor übereilten Entscheidungen einzubauen und damit die Anerkennung in der selbstbestimmten geschlechtlichen Identität zu verzögern. Unter dem Paradigma der Selbstbestimmung muss gerade erwachsenen Personen zugetraut und auch zugestanden werden, eine eigene Entscheidung unter Abwägung der möglichen Konsequenzen zu treffen. Die hier eingenommene paternalistische Haltung des Staates ist verfehlt und widerspricht dem Recht auf Selbstbestimmung.

Selbstbestimmung von Minderjährigen

Auch im Umgang mit Minderjährigen kann zunächst Positives hervorgehoben werden. Denn im Referentenentwurf sind für die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen keine starren Altersgrenzen vorgesehen. Richtigerweise wird damit auch Minderjährigen die Anerkennung ihrer selbstbestimmten geschlechtlichen Identität ermöglicht. Sie sind dafür allerdings auf die Mitwirkung der Sorgeberechtigten bzw. des Familiengerichts angewiesen. Minderjährige unter 14 Jahren und geschäftsunfähige Personen müssen von den Sorgeberechtigten vertreten werden. Sie können die Erklärung gegenüber dem Standesamt nicht selbst abgeben (§ 3 Abs. 2 SBBG). Demgegenüber geben 14- bis 17-jährige beschränkt Geschäftsfähige eine eigene Erklärung ab, benötigen jedoch die Zustimmung der Sorgeberechtigten oder ersatzweise die des Familiengerichts (§ 3 Abs. 1 SBBG).

Da es sich bei der geschlechtlichen Identität um ein höchstpersönliches Rechtsgut handelt, unterliegt die Mitwirkung Dritter an einer solchen Entscheidung erhöhten Rechtfertigungsanforderungen. Angesichts der zunehmenden Autonomie von Jugendlichen sollte für über 14-Jährige auf die Zustimmung der Sorgeberechtigten verzichtet werden. So war es auch in den Gesetzesentwürfen vorgesehen, die FDP und Grüne in der vergangenen Legislaturperiode eingebracht hatten.

Im vorgelegten Referentenentwurf wird die steigende Autonomiefähigkeit von Jugendlichen nun weniger gewichtet, wobei sich die Ministerien wohl an der bereits in § 45b PStG getroffenen Wertung orientiert haben (S. 37). Demgegenüber kann eingewandt werden, dass spätestens mit Erreichen eines Alters, ab dem Heranwachsenden Strafmündigkeit unterstellt wird, Jugendlichen eine selbstbestimmte Entscheidung über ihre geschlechtliche Identität zugestanden werden sollte (Adamietz/Bager, Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen, S. 51).Die Altersgrenze von 14 Jahren gilt im Übrigen auch für die religiöse Selbstbestimmung. Die notwendige Unterstützung von Minderjährigen ebenso wie für deren Eltern hat die Bundesregierung bereits im Blick, indem sie freiwillige Beratungsangebote stärken will (S. 2 und S. 26).

Missbrauchsängste rechtfertigen keine Diskriminierungen

Die Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz waren bereits vor der Veröffentlichung des Entwurfs sehr stark durch Ängste vor Missbrauch geprägt. Teilweise wurden dabei ganz offen transfeindliche Narrative bedient. Einige Gegner*innen argumentierten aber auch, dass sich die Befürchtungen nicht gegen trans*- und inter*geschlechtliche Personen richteten, sondern viel mehr gegen mögliche Trittbrettfahrer. Wohlgemerkt Trittbrettfahrer und nicht Trittbrettfahrer*innen. Denn das heraufbeschworene Bild ist fast immer das von „Männern“, die sich als „Frauen“ ausgeben und mit Hilfe des Selbstbestimmungsgesetzes in geschützte Räume eindringen oder sich Vorteile erschleichen könnten. Da hilft es wenig, wenn frau darauf hinweist, dass die weiblichen bzw. weiblich gelesenen Personen angedachten Vorteile nicht so zahlreich sind, wie die Debatte zu implizieren scheint. Weitgehend ungehört bleibt auch der Hinweis, dass gewaltbereite Personen nicht erst auf das Selbstbestimmungsgesetz warten und sich die Frage nach der Schaffung von sicheren Räumen für Frauen schon viel länger stellt.

Diese komplexe Kontroverse greift der Referentenentwurf in einer eher unscheinbaren Vorschrift auf. In § 6 Abs. 2 heißt es, dass für den Zugang zu Einrichtungen und Räumen sowie für die Teilnahme an Veranstaltungen das Hausrecht der Betreiber*innen unberührt bleiben soll. In Zusammenschau mit den Regelungen des AGG erlaubt das keinen pauschalen Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität (so auch der  Referentenentwurf, S. 43). Trotzdem irritiert, dass die Begründung der Vorschrift eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche aufführt und diskutiert, in denen die Bedeutung des personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrages – und damit auch die der Selbstbestimmung – relativiert wird: So etwa beim Zugang zu geschlechtsspezifischen Toiletten und Umkleideräumen und sogar bei der Unterbringung im Justizvollzug.

Es mag richtig sein, staatlicherseits nicht für alle gesellschaftlichen Bereiche eine universelle Handhabung vorzuschreiben. Geht es etwa um den Schutz vor geschlechtsbezogenen Diskriminierungen unter dem AGG, kommt es auf den Geschlechtseintrag im Personenstand nicht an. Gleichzeitig könnte aber auch die Frage gestellt werden, warum sich die Gesetzgebung bemüht, ein differenziertes und auf Interessensausgleich gerichtetes System der Geschlechtszuordnung und -anerkennung zu entwerfen, wenn dieses dann im selben Atemzug in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen für nicht maßgeblich erklärt wird. Oder anders gefragt: Was bringt trans*-, inter*geschlechtlichen und nicht-binären Personen die Anerkennung durch den Staat, wenn sie noch nicht einmal eine öffentliche Toilette aufsuchen können, ohne Angst, dass ihr zwar staatlich anerkanntes Geschlecht erneut in Zweifel gestellt wird? Das Selbstbestimmungsgesetz erlaubt hier zwar keine Diskriminierungen, gibt jedoch auch keine befriedige